Wir Kinder aus der HiehlSo sah das Leben in den Straßen des Italienerviertels damals aus

Wir Kinder aus der Hiehl / So sah das Leben in den Straßen des Italienerviertels damals aus
In der Brasserie Montpellier in Esch treffen sich die ehemaligen „Hieler“ Georges, Alain und Nico Pütz, Maggy Schuller, Nicole Nardello (verdeckt) und Mario Bucari (v.l.n.r.), um gemeinsam in Erinnerungen an ihre Kindheit zu schwelgen Foto: Claude Lenert

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Tannenbaumharz rauchen, Tarzan an Lianen spielen und diese ansägen, wenn andere Kinder daran herumhangeln wollten, geheime Hütten bauen – die Liste der Streiche der „Hieler“ Kinder aus den 40er und 50er Jahren ist lang. Die Bewohner des ehemaligen Italienerviertels in Esch hatten ihre ganz eigene Welt, an die sie sich auch heute noch gerne erinnern. Auch Mario Bucari, die Gebrüder Georges, Nico und Alain Pütz sowie Maggy Schuller und Nicole Nardello wuchsen im Quartier nahe der französischen Grenze auf. Die Geschichten, die sie beim Treffen im Café Montpellier aus ihrer Kindheit erzählen, zeugen aus einer Zeit, in der sich das Leben noch auf der Straße abspielte.

Insgesamt acht Familien wohnten mit Nicole Nardello im gleichen Haus in der rue Jean-Pierre Bausch. Das Gebäude mit der Nummer 64 hat viele Namen, offiziell ist es als „Casa dei Romagnoli“, nach der Bezeichnung der eingewanderten Italiener aus der Region Romagna, bekannt. Für die gebürtige Hielerin ist und bleibt es allerdings immer die „Casa grande“ oder „la maison des Marcheggiani“, in der sie ihre gesamte Kindheit verbrachte.

Auch die Bucaris teilten ihr Heim mit anderen. Im Haus, das unter anderem sogenannte „Kaschtgänger“, also Saisonarbeiter aus Italien, im Hinterhof beherbergte, lebten neben Marios Familie ebenfalls die Tomassinis, Fecchis und Traversinis.

Elf Jungs und ein Mädchen, das war die Konstellation der Kinder im Hause Pütz
Elf Jungs und ein Mädchen, das war die Konstellation der Kinder im Hause Pütz

Teil des Viertels war zusätzlich zur wahren rue Hiehl auch die rue Pierre Kersch, in der Maggy Schuller 1948 geboren wurde. Insgesamt fünf Kinder gehörten zum Haushalt der Schullers – keine ungewöhnliche Anzahl, denn im Italienerquartier besaßen die wenigen luxemburgischen Familien meist mehr Nachwuchs als ihre ausländischen Nachbarn. Dies war besonders bei Pützens der Fall. Mit zwölf Kindern, darunter elf Burschen und nur ein Mädchen, herrschte Leben in der Bude nahe der Grenze. „Wir wohnten in einem der wenigen Minettbahnhöfe im Land. Hinter unserem Haus fuhren die Wagen der Arbed entlang, davor die Waggons des Minettwerkes der CFL in Richtung Athus“, erinnert sich Nico Pütz.

14 Personen auf nur 64 Quadratmetern, dies war der ganz normale Alltag im Haus der Familie. Geschlafen wurde zu viert oder fünft in einem Bett, Radau unter der Decke war hier vorprogrammiert. Mit von der Partie im Escher Café Montpellier sind von den Pütz-Gebrüdern ebenfalls Alain und Georges, die allesamt so einiges von früher zu erzählen haben.

Maggy Schuller wuchs als eines von fünf Kindern in der rue Pierre Kersch auf, die ebenfalls zum Viertel Hiel zählte
Maggy Schuller wuchs als eines von fünf Kindern in der rue Pierre Kersch auf, die ebenfalls zum Viertel Hiel zählte Foto: privat

Geheimversteck Waldhütte

An ihre Kindheit erinnert sich die Gruppe gerne zurück, die meisten von ihnen kennen sich von klein auf. „Maggy und ich sind gemeinsam zur Grenz-Schule gegangen, dort, wo heute der Aldi steht. Die Jungs waren im Brill oder in der ‚gréng Schoul‘, gespielt haben wir aber oft zusammen“, erklärt Nicole. Die Bande der Hieler bestand aus über 40 Jungs und Mädels, die allesamt in den 50er und 60er Jahren aufwuchsen. „Wir waren schon zu zwölft, die Franzens zu sechst und die Zwallys zu acht, das heißt in drei Familien waren insgesamt 26 Kinder. Das sind mehr, als heute in ganzen Stadtteilen leben“, meint Alain. Die Größe der Gruppe ungefähr Gleichaltriger erklärt auch, weshalb es in der Hiel nie langweilig wurde.

Das Schönste war aber, wenn in den Schmelzen das Eisen heruntergeschüttet wurde. Dann war das ganze Viertel hell erleuchtet und wir spielten Fußball bis tief in die Nacht hinein, mit unserer ganz persönlichen Stadionbeleuchtung.

Mario Bucari, ehemaliger Bewohner der Hiel

Der Ort, an dem alle Pläne der Kinder geschmiedet wurden und sich das geheime Leben der Jugend abspielte, waren die eigens errichteten Hütten im Wald. Das Material für ihre Buden „liehen“ sich die Kids auf den Baustellen des Viertels. „Um 1965 wurde in Esch das Viadukt gebaut und von dort hatten wir meist unser Material. Oder wir haben uns beim Sägewerk der Arbed-Minen, wo die Bretter für die Galerien geschnitten wurden, das Holz durch ein Loch im Zaun herausgezogen und sind dann damit wie die Ameisen über den Berg verschwunden. Das kann man ja jetzt alles erzählen, das ist mittlerweile verjährt“, verraten Alain und Georges verschmitzt.

Ein Leben bei der Schmelz

Geklaut wurde allerdings nicht nur Baumaterial, auch die Kirschen vom Baum das Pfarrergartens nahe des kleinen Zollgebäudes an der Grenze waren bei den Kindern aus der Hiel beliebt. „Dann ist der Hüttenpolizist – Bannhüter haben wir ihn damals genannt – uns durch die Felder mit seinem Revolver hinterhergerannt“, so Mario. Zuflucht vor dem Gesetzeshüter fanden die Burschen in den versteckten Pfaden zwischen den Hecken des „Iergäertchen“, wo sie ebenfalls eines ihrer geheimen Lager aufgerichtet hatten.

Mario, aufgrund seiner großen Ohren zum Mitglied des „Stammes der Bucaratschi mit den Eselsohren“ umgetauft, und Nico, alias „Putza mat der Casserolla“ – wegen einer Mütze, die ihm seine Mutter schenkte – waren dabei Teil eines kleinen Universums, in dem die Anwohner des Viertels Namen wie „Hingertoni“, „Präbbelisliz“ oder „Ziddernéckel“ erhielten und zu einer geschlossenen Gemeinschaft gehörten. „Die Bewohner der Nachbarschaft waren alle gleich arm, bei uns gab es keine Unterschiede“, so Georges. Das Leben spielte sich auf der Straße ab, Schule bedeutete für die Kinder Gefangenschaft und etwas, das eh keiner forderte. „Ich hatte das Privileg, die Handwerkerschule besuchen zu dürfen. Ansonsten war der Weg aber vorgezeichnet, nach dem sechsten Schuljahr sagte der Lehrer ‚Du, du und du geht ins Gymnasium, alle anderen bleiben hier’. Und dann ging man eben zur Schmelz“, so Alain.

„Dreiwes“ und Grubenfußball

Doch trotz nur wenig Zukunftsperspektiven außerhalb von Arbed und Eisenbahn fehlte es den Kindern an nichts. „Wir hatten alles bei uns im Viertel. Man hätte sein ganzes Leben in der Hiel verbringen können, ohne auch nur einmal irgendwo hinzukommen“, sagt Georges. Zum Alltag der Kinder gehörte neben dem Bau von geheimen Buden vor allem eines: Fußball. „Die Hiel, das ist Jeunesse Esch“, meint Nico stolz. In ihren „Kaulen“ trugen die Jungs ihre eigenen Spiele aus, meist gegen Kinder aus „verfeindeten“ Vierteln und mit unlauteren Methoden, wie Georges verrät: „Beim Fußball hatten wir immer einen Trick, wenn wir in der Grube gegen andere Teile von Esch gespielt haben: Unser Tor war immer auf derselben Seite, denn vor dem anderen ragte ein Gleisstück aus dem Boden, das wir mit Gras zuwachsen ließen. Wer dagegen trat, hatte gute Chancen, sich den Fuß zu brechen.“

Trainer der „Hieler“ Elf war Roger Negri, unter Freunden bekannt als „Mulli“. Gruben zum Elfmeter-Üben gab es in der Umgegend zur Genüge, die „Geessekaul“ oder „Eisekaul“ waren nur einige der Territorien der Viertelskinder. Ihre Freizeit vertrieben sich die Hiel-Kinder ebenfalls mit Seilbahnfahrten vom „Kazebierg“ runter bis zum Beleser Galgenberg, Schlittenfahrten hinunter zum Ledigenheim, wo vor dem Zweiten Weltkrieg nur Junggesellen aus Russland und Polen lebten, und Besuchen in den Gärten auf Eschs Anhöhen. Eines der Lieblingsspiele der 50er und 60er hieß allerdings „Dreiwes“ und wurde auf dem Asphalt ausgetragen. „Es ging darum, einen kleinen Ball so weit wie möglich nach vorne zu schießen. Eine Mannschaft jagte dabei die andere und es ging hin und her, die Straße auf und ab“, erklärt Alain das Spiel. „Das Schönste war aber, wenn in den Schmelzen das Eisen heruntergeschüttet wurde. Dann war das ganze Viertel hell erleuchtet und wir spielten Fußball bis tief in die Nacht hinein, mit unserer ganz persönlichen Stadionbeleuchtung“, erinnert sich Mario nostalgisch.

Im Winter trafen sich Maggy Schuller (Mitte) und ihre Freunde auf der „décke Biche“, um mit dem Schlitten den Hügel hinunterzufahren
Im Winter trafen sich Maggy Schuller (Mitte) und ihre Freunde auf der „décke Biche“, um mit dem Schlitten den Hügel hinunterzufahren Foto: privat

Bandenkriege zwischen Vierteln

Die Industrie der Minette war in der Hiel stets präsent. „Wenn wir aus der Schule kamen, rannten wir wie verrückt zur alten Brücke, um uns in den Rauch der Dampflok zu stellen. Danach waren wir immer ganz schwarz“, so Maggy. Freude kam aber auch im Sommer bei den Besuchen im Schwimmbad „ERA“, kurz für Esch, Russange und Audin, auf. „Im Zechenhaus wurden die Kleider an Haken hochgezogen, das nannte man die ‚Salle des pendus‘ (dt. Waschkaue). Dort gab es immer etwas zu sehen“, erinnert sich die 71-Jährige mit Augenzwinkern. Wenn es dann abends Zeit fürs Essen war, hallte die Stimme von Frau Schuller durch das ganze Viertel. „‘Alles, was Schuller heißt, hinein!‘, rief meine Mutter, und wenn sie pfiff, dann hat man davon Schüttelfrost bekommen.“

Im Schwimmbad ERA verbrachten die Kinder der Hiel viele Sommerstunden, denn in den Umkleiden im Zechenhaus gab es immer etwas zu sehen
Im Schwimmbad ERA verbrachten die Kinder der Hiel viele Sommerstunden, denn in den Umkleiden im Zechenhaus gab es immer etwas zu sehen Foto: privat

Als frostig könnten ebenfalls die Winter in den Wohnungen – meist nur separate Zimmer, verbunden durch einen Gang, den alle Hausbewohner nutzten – bezeichnet werden. Kälte war ein ständiger Begleiter der „Hieler“, denn Heizungen waren rar und im Winter zierten Eisblumen die Fenster der Gebäude. Zimperlichkeit und Meckern hatten in der Hiel allerdings keinen Platz, denn hier waren Bandenkämpfe zwischen dem oberen und dem unteren Viertelsteil an der Tagesordnung. „Es gab immer mal wieder Spione, die den Standort unserer Buden verraten haben. Die haben bei uns gelitten“, erklärt Georges. Wer die Hiel durchqueren wollte, ohne zur Clique zu gehören, oder aber die Regeln des Quartiers missachtete, der wurde bestraft. „Einmal haben wir einen Jungen an den Kirschbaum gebunden, Holz daruntergelegt und angezündet. Das war aber noch nicht genug, wir haben anschließend noch mit Pfeil und Bogen auf ihn geschossen“, verrät Alain lachend.

Keine Zeit für Zimperlichkeit

Was heute wohl zur ersten Straftat eines jungen Delinquenten geworden wäre, war in den 60er Jahren kein Unding – im Gegenteil. „Wir haben uns aktiv bekämpft und mit Schlacken aufeinander geworfen. Manchmal sind so viele Steine geflogen, dass man die Sonne nicht mehr sehen konnte“, lacht Georges. Als Schutzschild gegen den Feind aus der Dicksstraße oder dem Neudorf nutzten die Hieler die Deckel der Wasch- oder Kochmaschinen ihrer Eltern – natürlich unerlaubt geborgt. Falls dann doch mal die Polizei von den Streichen der Kinder Wind bekam, hagelte es zu Hause zwar Ohrfeigen, verraten wurde aber keiner. „Dann haben die Beamten ordentlich Prügel von unserer Mutter mit ihrer Teigrolle bezogen“, schmunzelt Alain. 

Als brutal sehen die ehemaligen „Hieler“ ihre Spiele nicht, schließlich ging es ja immer nur den anderen an den Kragen. „Zu Ostern kamen die Messdiener immer über die Grenze zum Singen und Klibbern, um Geld einzusammeln. Wir haben dann gewartet, bis sie ihren Rundgang beendet hatten, am Waschbrunnen auf sie gelauert und ihnen die ganzen Einnahmen wieder abgenommen. Schließlich war es ja unser Viertel“, meint Georges. Von den Hiel-Jugendlichen hatte wohl jeder einen ganz persönlichen Schutzengel – oder eine ganze Kompanie davon, wie der 67-Jährige präzisiert –, denn passiert ist ihnen nie etwas: „Im Winter, wenn der Liégeois-Weiher zugefroren war, haben wir zu 50 Mann darauf Eishockey gespielt. Es war richtig kalt und keiner von uns trug Thermokleidung, wie es sie heute gibt. Wenn das Eis brach und wir allesamt ins Wasser fielen, mussten wir bei minus zehn Grad klitschnass mehrere Kilometer bis nach Hause laufen. Das war schon nicht immer ungefährlich.“

Nostalgischer Rückblick

Im Alltag der Kinder gab es allerdings auch Momente, die eher als düster in Erinnerung blieben. „Oben an der großen Wiese haben wir immer mit den Lianen gespielt. Als uns einmal die Kinder aus der Brillstraße hinterherliefen, sind wir über die Gleise davon, als plötzlich unser Bruder Narcisse stehen blieb und einfach tot umfiel. Er hatte wohl einen Hirnschlag aus Angst bekommen – später wurde gesagt, es war ein Aneurysma“, schildert Alain. Der Tod sowie Verletzungen aller Art gehörten zum damaligen Leben dazu und wurden anders wahrgenommen als heute: „Früher ist man nie zum Arzt gegangen. Wenn man ein Loch im Kopf hatte, gab es vom Vater noch einen Tritt in den Hintern dazu, ein Pflaster drauf, und schon durfte man wieder raus zum Spielen.“

Die Liste der Dinge, die die früheren Kinder aus der Hiel gemeinsam erlebt haben, ist endlos. Immer mehr Anekdoten kommen während der Runde im Café Montpellier auf, denn wo die Erinnerung des einen Lücken hat, kann das Gedächtnis des anderen Details abrufen, als wäre alles erst gestern gewesen. „Das kann uns keiner mehr nehmen. Wenn wir könnten, würden wir direkt wieder vor 50 Jahren anfangen“, meinen Mario und Georges einstimmig. Treffen wie dieses sind für die „Hieler“ auch heute noch ein Highlight des Jahres. Denn auch wenn mit Mario 2017 der Letzte der Bande aus dem ehemaligen Italienerviertel weggezogen ist – die Kindheit nahe der Grenze war für jeden Einzelnen im Raum die absolut schönste und die regelmäßigen Konveniate lassen Erinnerungen an eine Zeit wach werden, die es so wohl nie mehr geben wird. 

Auch nach all den Jahren treffen sich die „Hieler“ noch regelmäßig zum traditionellen Konveniat
Auch nach all den Jahren treffen sich die „Hieler“ noch regelmäßig zum traditionellen Konveniat Foto: privat

 

Nardello nicole
23. Mai 2020 - 11.30

E scheine reportage merci laura