20 Jahre EU-OsterweiterungPolen ist wieder vollkommen zurück in Europa

20 Jahre EU-Osterweiterung / Polen ist wieder vollkommen zurück in Europa
In der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai 2004 feierten die Polen den Beitritt in die Europäische Union Foto: AFP/Janek Skarzynski

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Angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine wird die EU 20 Jahre nach der Osterweiterung wieder als Sicherheitsgarant gesehen.

Die Feiern haben schon am Samstag begonnen. In Zittau im Dreiländereck Polen, Tschechien und Deutschland haben 8.000 Besucher bei Musik, Spielen und Reden der EU-Osterweiterung am 1. Mai vor 20 Jahren gedacht. Dieser neue Zusammenhalt über die einstigen Grenzen hinweg ist in Zeiten des russischen Angriffskriegs auf Polens östlichen Nachbarn Ukraine besonders wichtig. Heute ist es diese Zeitenwende vom 22. Februar 2022, die die EU-Osterweiterung in ein neues Licht rückt.

Doch dies soll nicht vom Feiern ablenken, denn zu feiern gibt es gerade in Polen einiges. Unglaublich viel hat sich dort in den letzten 20 Jahren bei der Infrastruktur verändert. Eine Autofahrt vom Wirtschaftsforum im Kurort Krynica-Zdroj an der Grenze zur Slowakei im Herbst 2004 zurück in die Hauptstadt Warschau soll als Beispiel herhalten: Die Fahrt führte elf Stunden lang über Landstraßen durch unzählige Dörfer und auch wenn es kaum mehr Pferdekutschen gab – während die Zeitungen unsere Artikel immer noch damit aus dem Fotoarchiv bebilderten –, so musste man doch auf Katzen und Gänse auf der Fahrbahn achten. Heute dauert die Fahrt über die gut ausgebaute E77 halb so lange und ist mindestens doppelt so sicher.

Wirtschaftsmotor der EU

Am eindrücklichsten ist bestimmt Polens Wirtschaftsleistung. Georgiens Ex-Präsident Michail Saakaschwili erinnerte sich im persönlichen Gespräch gerne daran, wie er als Student 1991 in seinem Rucksack Büchsenfleisch nach Polen brachte. Der Georgier studierte in Kiew und Polens Bruttoinlandsprodukt pro Kopf war damals mit rund 1.700 Dollar knapp über dem Niveau der Ukraine. 20 Jahre später ist Polen zu einem Wirtschaftsmotor der ganzen EU geworden. Der IWF rechnet für 2024 mit über 23.400 Dollar in Polen; die kriegsversehrte Ukraine dürfte zum Jahresende fast fünfmal tiefer liegen. Polen ist heute Deutschlands fünftwichtigster Wirtschaftspartner gleich nach China und vor Italien; Deutschland für Polen gar der wichtigste.

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Seit dem EU-Beitritt vor 20 Jahren ist die Zustimmung für die EU in Polen nie unter 80 Prozent gesunken 

Auch wenn es langsamer vorangeht als beim EU-Beitritt 2004 erhofft, so geht doch auch Polen immer mehr Richtung erneuerbare Energieträger (2023: 37 Prozent). Braun- und Steinkohle sind auf dem Rückzug, der Anteil der Windenergie hat sich seit 2010 mehr als vervierfacht, noch besser steht es ab 2015 bei der Solarenergie (2022: 5,8 Prozent). Die von der rechtspopulistischen Regierung der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) wieder ausgegrabenen, noch real-sozialistischen Atomenergiepläne werden von der Mitte-Links-Koalition unter Donald Tusk beibehalten.

Exportschlager Gemüse und Milch

Zur großen Erfolgsgeschichte hat sich das große Sorgenkind bei den EU-Beitrittsverhandlungen, die polnische Landwirtschaft, entwickelt. Polnische Milch, Gemüse, Beeren und auch Honig sind beliebte Exportprodukte. Viele polnische Bauernhöfe strotzen vor teuren Landwirtschaftsmaschinen, der befürchtete Aufkauf landwirtschaftlicher Flächen durch ausländische Investoren hielt sich in Grenzen. Nicht mehr die angeblich geringeren Brüsseler Direktzahlungen treiben heute Polens Landwirte um, sondern dasselbe wie ihre westlichen EU-Kollegen: die Bürokratisierung der Produktion und die Grüne Wende. Dazu kommt, speziell für Polen mit seinen neun Grenzübergängen in die Ukraine, die Angst vor einer Überschwemmung mit billigerem ukrainischen Getreide und Mais. Dass dafür findige politische Händler die Mitschuld tragen, interessiert sie nicht. Seit Monaten werden immer wieder Grenzübergänge blockiert; de facto prorussische Parteien wie die rechtsextreme „Konföderation“, neuerdings Koalitionspartner von Jaroslaw Kaczynskis PiS auf lokaler Ebene, unterstützen die wütenden Landwirte. Diese Proteste sind ein Vorgeschmack auf die nächste EU-Osterweiterungsrunde um die Republik Moldau und die Ukraine.

Rechtsstaat garantieren

Polen würde damit voraussichtlich auch zum EU-Nettozahler. Politisch von allen Parteien außer der „Konföderation“ unterstützt, würde ein EU-Beitritt der Ukraine Polens Position noch einmal radikal verändern. Spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist Polen nicht nur ideell, politisch und wirtschaftlich zur Brücke nach Osten geworden, sondern über den Flughafen von Rzeszow werden für NATO und auch EU lebenswichtige Waffen in die Ukraine geliefert. Die europäische und transatlantische Rolle Polens hat damit enorm zugenommen. Mit der erklärten Rückkehr Warschaus als neuerdings wieder konstruktives EU-Mitglied nimmt Polens Einfluss weiter zu. Experten gehen davon aus, dass sich auch das Zentrum der EU von der Linie Paris-Berlin Richtung Osten verlagern wird. Angesehene Außenminister mit einer Vision wie Radoslaw Sikorski werden darauf drängen. Die Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks ist für Warschau nur ein erster Schritt. Dass auf diesem Wege die Garantie von Rechtsstaat und Minderheitenrechten nach acht Jahren EU-feindlicher PiS-Herrschaft nicht schadet, versteht sich von selbst.

Doch wie kritisch man die beiden Kaczynski-Regierungen von 2005 bis 2007 und 2015 bis 2023 auch sehen mag, eines muss man PiS lassen: Die Partei hat mit ihrer Ja-Empfehlung beim EU-Beitrittsreferendum von 2003 wesentlich zu dem damals sehr guten Ergebnis von 77 Prozent für den EU-Beitritt beigetragen. Und: Seitdem ist die Unterstützung der EU-Mitgliedschaft in der polnischen Bevölkerung nie mehr unter 80 Prozent gefallen. Daran tut übrigens auch keinen Abbruch, dass just zum 20. Beitrittsjubiläum nur 27 Prozent der Polen sich den Euro statt die Landeswährung Zloty wünschen.