Filmfestspiele in CannesLuxemburgische Koproduktion erhält den Großen Preis der Jury

Filmfestspiele in Cannes / Luxemburgische Koproduktion erhält den Großen Preis der Jury
Im Siegestaumel: Die indische Filmregisseurin Payal Kapadia (2.v.l.) posiert mit dem „Grand Prix“ für die luxemburgische Koproduktion „All We Imagine as Light“ Foto: AFP/Loïc Venance

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Geschichten von Frauen: Überraschend gewinnt der US-Amerikaner Sean Baker die Goldene Palme in Cannes, den Grand Prix bekommt der in Luxemburg koproduzierte Film „All We Imagine as Light“ – die Gewinnerfilme im Überblick sowie Reaktionen von „Les Films Fauves“.

Mit einem überraschenden Sieger-Trio gingen am Samstag die Filmfestspiele von Cannes zu Ende: Der Amerikaner Sean Baker gewann mit seiner modernen Cinderella-Story „Anora“, die „Pretty Woman“-Motive ins 21. Jahrhundert überträgt, die Goldene Palme.

Den Grand Prix, den zweiten Preis des Wettbewerbs, bekam „All We Imagine as Light“ von Payal Kapadia – und damit auch der hiesige Filmstandort. Denn dieser erste indische Cannes-Wettbewerbsbeitrag seit über 30 Jahren und der erste Spielfilm der 38-jährigen indischen Filmemacherin wurde in Luxemburg von „Les Films Fauves“ koproduziert.

Der Regiepreis ging an den Portugiesen Miguel Gomes, der in „Grand Tour“ ins British Empire zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurückreist und mit Bildern von heute eine auch nostalgische Reise in die Vergangenheit unternimmt. Die ganz großen Favoriten der letzten Tage bekamen hingegen nur kleinere oder gar keine Auszeichnungen.

Frauen im Mittelpunkt

Will man in die Jury-Entscheidungen bestimmte grundsätzliche Tendenzen oder universale Aussagen hineininterpretieren, kann man feststellen, dass nahezu alle ausgezeichneten Filme, in jedem Fall die Hauptpreisträger, Frauen ins Zentrum stellen, und neben der Frage nach den Frau-Mann-Verhältnissen auch eine besondere Aufmerksamkeit auf die Beziehungen legen, die Frauen untereinander pflegen.

Ganz eindeutig steht solche Solidarität mit Frauen im Mittelpunkt von Payal Kapadias Grand-Prix-Siegerfilm. Bei der Entgegennahme der Auszeichnung betonte die Regisseurin am Samstagabend auch genau dieses Anliegen: „Frauen werden sehr oft gegeneinander ausgespielt – so ist unsere Gesellschaft gestaltet, was ich sehr bedauerlich finde. Für mich kann Freundschaft zu mehr Gemeinsamkeit und Empathie führen – Werte, die wir alle anstreben sollten“, sagte Kapadia.

Die Regisseurin ist bislang als Dokumentarfilmerin bekannt, und dies merkt man ihrem Film jederzeit an. Denn „All We Imagine as Light“ beginnt als eine meditative und beobachtende, ruhige Erkundung der Feinheiten des urbanen Lebens in den Straßen und Bahnhöfen von Mumbai (Bombay), als ein poetisches Flanieren, das in seiner Subjektivität und seiner nachdenklichen Hingabe an den Augenblick auch an französische und deutsche Großstadtfilme der 20er und 30er Jahre erinnert. Die Musik verstärkt diesen Eindruck des Impressionistischen noch.

Frauen werden sehr oft gegeneinander ausgespielt – so ist unsere Gesellschaft gestaltet, was ich sehr bedauerlich finde

Payal Kapadias, Filmregisseurin

Auf diese Weise fängt die Regisseurin den Alltag von drei Frauen ein, die alle als Krankenschwestern auf derselben Station arbeiten. Sie lernt man zunächst als Gefangene ihrer Lebensumstände und der sozialen Codes kennen, die ihr tägliches Leben bestimmen.

Die Regisseurin hält sich dabei bewusst mit Wertungen und offenen Parteinahmen zurück. Ihr Kino will keinen Diskurs illustrieren, keine „Punkte machen“, sondern vor allem genau hinschauen. Dabei entfaltet Kapadia ihre Charaktere inszenatorisch selbstbewusst in Form von Schichten, Fragmenten und Splittern, und nicht zuletzt den Blicken, die sie aufeinander und auf die Welt werfen. Auf der Leinwand liest man auch Text- und Sprachnachrichten, im Off wirkt eine Erzählerin.

Payal Kapadia freut sich über ihren ersten „Grand Prix“ in Cannes
Payal Kapadia freut sich über ihren ersten „Grand Prix“ in Cannes Foto: AFP/Loic Venance

Die Handlung wird dadurch vorangetrieben, dass Anu (Divya Prabha), die jüngste und modernste der drei, in einen jungen Mann verliebt ist, der als Moslem wie als Angehöriger einer anderen Kaste für sie sozial tabu ist, weshalb sie die Beziehung geheim hält. Ihre Eltern auf dem Land haben für sie längst eine Ehe arrangiert. Die älteste ist Parvaty (Chhaya Kadam), die nach 22 Jahren von Immobilienhaien aus ihrer Wohnung vertrieben wird. Zwischen den beiden in Alter wie im Verhältnis zur Tradition steht Prabha (Kani Kusruti), deren Untermieterin Anu ist. Sie wurde arrangiert verheiratet, hat aber zu ihrem Gatten seit Jahren keinen Kontakt, weil der in Europa lebt.

Ohne forcierte Handlung, ohne plötzliche Wendungen und Dramatik erzählt die Regisseurin in beiläufigen, flüchtigen Bildern von Einsamkeit und Kommunikation unter sehr verschiedenen Menschen. Es geht dabei vor allem um die alltägliche Sehnsucht der Menschen, aber auch um „handfestere“ Sujets wie Migration, soziale und kulturelle Unterschiede, um den Gegensatz zwischen Liebe und arrangierten Ehen, aber auch um Immobilienspekulation und Gentrifizierung.

Parallelen 

Hier ist „All We Imagine as Light“ dem Hongkong-Regisseur Wong Kar-wai sehr nahe: Auch Kapadia geht es darum, Bilder für das Ungreifbare zu finden. Und für weibliche Solidarität: Es ist eine Solidarität, die hier nie auf Kosten der Männer ausgelebt wird, die genauso verloren und einsam und würdevoll sind wie die Frauen. Der Film kommt ohne Antagonisten aus, ohne „Bösewichte“.

Stattdessen erfahren die drei Frauen am Meer, unter den Neonfarben einer nächtlich illuminierten Strandbar, so etwas wie eine Epiphanie. Plötzlich ist die Zukunft offen und alles möglich in diesem bewegenden, schönen Film. Es gibt nur noch das Licht und die Menschen, die von ihm berührt werden. Es ist die Utopie des Kinos.

Der herausragend starke Auftritt des indischen Kinos in Cannes wurde durch zwei weitere Filme in der Sektion „Un certain regard“ untermauert, die ebenfalls auf je sehr unterschiedliche Weise von Frauen in Indien erzählen: Ein besonderer Fall ist dabei „The Shameless“. Regie führte der Bulgare Konstantin Bojanov, die Finanzierung kommt aus Taiwan und der Schweiz. Diese überaus ungewöhnliche Konstellation dürfte auch der Tatsache geschuldet sein, dass der Film gleich mehrere große Tabus anpackt: Prostitution, Männergewalt, die „Vermietung“ von Jungfrauen durch ihre Familien, die bis heute in manchen Milieus gängige Praxis ist. Für die Rolle der Hauptfigur gewann Anasuya Sengupta am Freitag den Schauspielpreis der Sektion.

Ähnlich gelungen war „Santosh“, ebenfalls das Spielfilmdebüt einer bislang als Dokumentarfilmerin bekannten Regisseurin: Sandhya Suri erzählt von zwei Polizistinnen, die sich innerhalb der immer noch stark maskulin dominierten Polizeibehörde durchzusetzen suchen. Die eine ist jung und muss noch viel lernen, doch was ihr beigebracht wird, sind Gehorsam und Stillschweigen. Der Film zeigt eine alltägliche soziale Landschaft, die durch Korruption und rohe Gewalt geprägt ist: Väter bezahlen Polizisten, um den Kindern „eine Lektion“ zu erteilen, Polizisten prügeln aus Verdächtigen falsche Geständnisse heraus und die Reichen kommen noch mit Schwerverbrechen davon – Sandhya Suri zeigt die dunkle Seite des Subkontinents und jene Orte, in die das Licht nie hinkommt. Auch dies gehört zu den besonderen Fähigkeiten des Kinos.

Palme für Amerika

Seit Samstag ist Sean Baker der erste US-Amerikaner, der seit Terrence Malick 2011 eine Goldene Palme bekam. Sein Film „Anora“ bewegt sich im Verhältnis zu dem in Cannes meist dominierenden gediegenen Kunstkino, auf einem anderen Planeten. Denn „Anora“ erzählt zwar von Sexarbeit und Klassenunterschieden – doch tut er dies in Form einer feministischen Komödie à la „Pretty Woman“: Baker hat sich einen Namen gemacht, indem er unterrepräsentierte oder ausgegrenzte Figuren aus der Subkultur, wie Einwanderer und Prostituierte in ausgesprochen humanen Settings porträtierte. Von manchen Beobachtern wurde er darum bereits als der Archetyp eines neuen, politisch-korrekten „männlichen Filmemachers“ in einer zukünftigen Post-Me-Too-Ära beschrieben.

Einen Film gemeinsam mit anderen im Kino zu sehen, ist eines der großen Gemeinschaftserlebnisse. Wir teilen unser Lachen, unsere Trauer, unsere Wut, unsere Angst.

Sean Baker, Filmregisseur

Bakers 139 Minuten langer neuer Film setzt diese Linie fort. Er erzählt von einem Callgirl, der von Mickey Madison grandios gespielten Ani, in die sich der Sohn eines russischen Oligarchen verliebt. Der möchte allerdings keine Hure zur Schwiegertochter haben, und so kommt es zu einer Konfrontation, die lange im Stil einer Billy-Wilder-Komödie ausgetragen wird. Dazu bedient sich Baker einer starken Dosis trashigen Humors. Letztlich zeigt „Anora“ aber doch eine knallharte zeitgenössische Frauenfigur und ihren Versuch, aus ihren proletarischen Verhältnissen auszubrechen, der durch die Feigheit der Männer vereitelt wird.

Die erste Goldene Palme für Amerika seit 2011: Filmregisseur Sean Baker staubte den Hauptpreis ab
Die erste Goldene Palme für Amerika seit 2011: Filmregisseur Sean Baker staubte den Hauptpreis ab Foto: AFP/Loic Venance

Immerhin eine optimistische Botschaft hatte auch Baker am Ende der Preisverleihung parat, als er in seiner Dankesrede die Kraft des Kinos und der Gemeinsamkeit im Zuschauersaal pries: „Die Welt muss daran erinnert werden, dass es nicht richtig ist, einen Film zu Hause anzuschauen, während man durch sein Handy scrollt, E-Mails abruft und nur halbwegs aufmerksam ist, auch wenn einige Technologieunternehmen uns das gerne glauben machen würden. Einen Film gemeinsam mit anderen im Kino zu sehen, ist eines der großen Gemeinschaftserlebnisse. Wir teilen unser Lachen, unsere Trauer, unsere Wut, unsere Angst und erleben hoffentlich eine Katharsis mit unseren Freunden und Fremden. Die Zukunft des Kinos liegt dort, wo sie begonnen hat: im Kino.“


Les producteurs du film lauréat du Grand Prix, Gilles Chanial et Govinda Van Maele de „Les Films Fauves“, livrent leur réaction à chaud.

(Auteur: Jérôme Quiqueret)

Gilles Chanial et Govinda Van Maele 
Gilles Chanial et Govinda Van Maele  Photo: tous droits réservés

Monsieur Chanial, Monsieur Van Maele, êtes-vous surpris de cette distinction?

Gilles Chanial: Ce serait un peu gonflé de dire que je ne suis pas surpris, mais en même temps avec toute l’humilité requise, les films se font autour des cinéastes, et sur la table de montage, on pensait avoir un grand film. On a été agréablement surpris par la réaction de la presse, le fait que ce film touche le cinéphile mais aussi d’autres personnes. On est surpris et extrêmement émus d’arriver avec un tout petit film aussi loin. On pressentait quelque chose de particulier avec Payal.

Govinda Van Maele: On est vraiment très excité, et franchement „overwhelmed“, de voir le film faire si bien. On aime beaucoup comment Payal Kapadia crée sa réalité cinéma, plein de beauté et si chaleureux, avec un sens aigu de la responsabilité sociale et politique qu’ont les artistes. De voir son film être si bien reçu par le public cannois, et d’ensuite le voir récompensé par un jury éclectique provenant du vaste spectrum du cinéma mondial, donne de l’espoir et est énormément encourageant, inspirant.

Quelle fut la recette de succès?

G.C.: Il n’y a pas de recette. Appliquer des recettes ne marche pas. C’est l’inverse. Le genre de cinéma qu’elle a initiée a une forme non pas de pureté, mais quelque chose de singulier qu’elle parvient à maintenir. Elle se place à un endroit qui ne surplombe pas ses personnages mais qui les englobent, un endroit de cinéma particulier, qu’elle arrive à tenir sur un film. C’est simplement faire et prendre tous les risques possibles pour arriver au film auquel on croit. On est très heureux que ce soit reconnu par d’autres, et notamment par le jury cannois. Ce film, c’est exprimer ce qui nous est intime, quelque chose qui dépasse le propre objet filmique, qui est poétique, politique, féministe dans ce cas.

Que signifie ce prix pour Les Films Fauves?

G.C.: Je ne saurais dire exactement ce que ça signifie pour les Fauves. Mais quand même, c’est le fruit d’un travail d’une décennie. Ça veut dire que nos choix, nos prises de risque en production, la volonté de défendre un certain cinéma sont reconnus. Il y a des films qui ont plus ou moins de succès. Certains comme celui de Payal explosent au grand jour. Il y a tout un travail derrière, la constitution d’une société, avec des gens qui y travaillent. Je remercie mes assistants, celles et ceux qui nous soutiennent depuis des années. Un travail de fonds, un travail de l’ombre commence à être reconnu. On espère que par force d’agrégation on pourra soutenir des projets aussi forts que ceux de Payal. 

Interview mit „Les Films Fauves“

Am 18. Mai publizierte das Tageblatt das Interview (Les Films Fauves fêtent leurs dix ans – „Une génération de cinéastes arrive à maturité“) mit Gilles Chanial und Govinda Van Maele von „Les Film Fauves“, nachzulesen auf tageblatt.lu.