VerfassungsreformKlar definierte Grundfreiheiten und Bürgerrechte

Verfassungsreform / Klar definierte Grundfreiheiten und Bürgerrechte
Rund zwölf neue Freiheiten und Rechte seien eingeführt worden, so Simone Beissel (DP) Foto: Editpress/Didier Sylvestre

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Was den meisten Bürgern des Landes als naturgegeben gilt, ist es nicht, wie die Situation in etlichen Ländern zur Genüge zeigt. Auch die Corona-Pandemie führte vor Augen, wie schnell und einfach auch in demokratischen Staaten Grundrechte und Bürgerfreiheiten eingeschränkt werden können. Welche das sind und unter welchen Bedingungen sie eingeschränkt werden können, regelt die Verfassung. Gestern stimmte das Parlament über dieses Kapitel ab. Damit hakte die Abgeordnetenkammer einen weiteren Bereich der seit langem geplanten Verfassungsrevision ab. Zwei Drittel der Stimmen waren für die Verabschiedung dieser Abänderung notwendig. Änderungen bezüglich der staatlichen Organisation und der Justiz waren im Oktober 2021 bzw. Januar 2022 gestimmt worden. Insbesondere polemische Äußerungen der ADR beschäftigten gestern einzelne Revisionsbefürworter.

Der Text sei reformuliert, restrukturiert und erneuert worden. Rund zwölf neue Freiheiten und Rechte seien eingeführt worden, so Simone Beissel (DP), Berichterstatterin dieses Teils der Verfassungsrevision. Das neue Kapitel II behandelt die Grundrechte, öffentliche Freiheiten und politische Rechte, definiert, wer und wie er bzw. sie die Nationalität bekommen kann. Ganz klar sei, dass sich weiterhin nur Luxemburger an den Parlamentswahlen beteiligen dürfen, so Beissel als Antwort auf die Vorwürfe der ADR, die Regierung wolle das Ausländerwahlrecht durch die Hintertür einführen. An den Parlamentswahlen teilnehmen dürfe auch weiterhin nur, wer Luxemburger und volljährig sei sowie seine zivilen Rechte habe.

Zu den wichtigen, neu eingetragenen Grundrechten nannte Beissel die Artikel, wonach die Würde des Menschen unantastbar ist, jeder Mensch das Recht auf physische und mentale Integrität hat, niemand gefoltert oder einem erniedrigenden Verhalten ausgesetzt werden darf. Garantiert sind die Gewissens- und Meinungsfreiheit.

Massive Stärkung der Kinderrechte

Vieles sei bereits in der bisherigen Verfassung enthalten gewesen, so Beissel. Sie schreibe die Gleichheit aller vor dem Gesetz fest. Niemand dürfe diskriminiert werden. Neu sei das Recht eines jeden auf Familiengründung und der Respekt jeder Familie. Im Parlamentsausschuss sei lange über die Familie diskutiert worden. Internationale Institutionen wie der Menschengerichtshof würden den Begriff Familie weit fassen. Auch Luxemburg fördere jede Familienform, wobei man sich auf internationale Konventionen berufen könne.

Neu ist laut Beissel die massive Stärkung der Kinderrechte. Das Interesse des Kindes genieße absolutes Vorrecht. So habe jedes Kind das Recht, seine Meinung zu allen ihn betreffenden Fragen zu äußern. In die Verfassung eingetragen werde des Weiteren die Unschuldsvermutung. Jeder Mensch habe das Recht, seine Sache vor einem Richter vorzutragen. Eingeführt werde das Prinzip der Nichtretroaktivität von Gesetzen, was dem Bürger einen zusätzlichen Schutz biete.

Aus der bisherigen Verfassung übernommen wurden die Artikel über Meinungs- und Pressefreiheit, wobei neuen technologischen Entwicklungen Rechnung getragen wurde. Deutlicher formuliert wurde die Religionsfreiheit. Ergänzt wurde die Bestimmung über die Unverletzbarkeit der persönlichen Kommunikation. Neu sei ebenfalls der Artikel zur informationellen Selbstbestimmung und zum Schutz der persönlichen Daten. Alle öffentlichen Freiheiten dürften nur unter strengen Auflagen und nur durch Gesetz abgeändert werden.

Anders als die Bürgerrechte sind die in der Sektion Staatsziele genannten Bestimmungen nicht einklagbar. Das hier seit 1984 formulierte Recht auf Arbeit wird ergänzt durch den Sozialdialog. Das sei extrem wichtig, stelle doch Sozialdialog und soziale Kohäsion ein Markenzeichen Luxemburgs dar, so Beissel. Weitere Staatsziele sind das Recht auf menschenwürdiges Wohnen, Umwelt- und Tierschutz, der Kampf gegen den Klimawandel und für Klimaneutralität, die Freiheit wissenschaftlicher Forschung. Der Begriff Staatsziele besage, dass der Staat sich die Möglichkeit geben müsse, um diese Ziele zu erreichen oder zumindest nicht zu vergessen, erklärte Beissel.

„Keine Verbrecherbande“

Laut Léon Gloden (CSV) werde mit diesem Verfassungskapitel die Visitenkarte des Hauses Luxemburgs gedruckt, wie wir uns sehen und wie wir miteinander umgehen. In die Verfassung würde alle Inhalte internationaler Konventionen und Verträge übernommen, die von Luxemburg unterzeichnet wurden. Auch Gloden kritisierte die Äußerungen der ADR, mit diesem Verfassungstext würde das Ausländerwahlrecht bei den Parlamentswahlen durch die Hintertür eingeführt. Wichtig für die CSV sei, dass der Begriff Familie in der Verfassung verankert werde. Man habe sich dabei an europäischen Texten inspiriert. Die Familie bleibe die klassische Zelle der Gesellschaft. Doch die Familie sei mehr als Vater, Mutter und Kind. Dazu gehöre das ganze familiäre Umfeld, in dem man sich gut fühle. Man müsse sich an die heutigen Realitäten anpassen. Wer jedoch der Ansicht sei, dass man damit die Polygamie einführe, habe einen Riss in der Schüssel und wisse nicht, dass Polygamie in Luxemburg verboten sei.

„Wir sind keine Verbrecherbande“, so der LSAP-Abgeordnete Mars di Bartolomeo auf die Vorwürfe der ADR. Er hingegen glaube an die Schlechtigkeit der Personen, die derlei Vorwürfe erhöben. Die Haltung der Mehrheitsparteien zum Ausländerwahlrecht sei klar. Das Ergebnis des diesbezüglichen Referendums von 2015, bei dem sich rund 80 Prozent dagegen ausgesprochen hatten, sei für das Parlament bindend. Der neue Verfassungstext stärke das Recht auf Familie, sagte er. Für die LSAP gelte die freie Partnerwahl. Niemand habe das Recht, Polizei zu spielen oder zu entscheiden, was gut oder schlecht sei. Und man sei keine Lügnerbande, wenn man sage, dass Leihmutterschaft ein No-Go ist. Sollte man jedoch ein Kind, das unter diesen Umständen geboren wurde und nach Luxemburg kommt, einsperren? Ohne Leihmuttschaft anzuerkennen, müsse man das Recht eines jeden Kindes anerkennen.

Opposition von der ADR

Für Charles Margue („déi gréng“) zeige die Verfassung, für welche Werte die Luxemburger Gesellschaft stehe. Sie sei ein Bild ihrer Zeit, könne folglich geändert werden. Die Grundrechte hingegen seien in Stein gehauen.

Opposition kam ausschließlich von der ADR. Fernand Kartheiser (ADR) zufolge sei es eine Form von politischer Schlechtigkeit, ein versprochens Referendum zur Verfassung nicht mehr durchzuführen. Dieses Kapitel sei das schlechteste dieser Verfassungsrevision. Er sprach von redaktionellem Flickwerk und intellektueller Unehrlichkeit. Unter anderem fehle das zentrale Recht auf Leben. Im Bereich Familie gehe kein Land so weit wie Luxemburg. Jede Person habe in Zukunft das Recht auf Familiengründung. Auch eine Einzelperson. Kartheiser sah darin eine Gefahr für Familie und Kind. Zwar sei Leihmutterschaft in Luxemburg verboten, aber Kinder aus einer Leihmutterschaft könnten nach Luxemburg kommen. Das Kind werde zur Ware.

Für Nathalie Oberweis („déi Lénk“) ist dieser dritte Teil der Verfassungsrevision der enttäuschendste. Sie kritisierte, dass der Rechtekatalog nicht auf der Höhe der Anforderungen der Gesellschaft sei. Er hätte um soziale und Umweltrechte ergänzt werden müssen. Stattdessen wurden Letztere in den Bereich Staatsziele verfrachtet, seien somit nicht vor Gericht einklagbar.

Mangelnde Bürgerbeteiligung

Anders als „déi Lénk“, die sich bei der Abstimmung enthielt, stimmte die „Piratepartei“ für die vorgeschlagenen Änderungen. Die Verfassung sollte nicht nur von einer großen Mehrheit im Parlament, sondern auch von der Gesellschaft getragen werden, sagte Sven Clement. Dabei bedauerte er die mangelnde Bürgerbeteiligung. Man untergrabe damit die politische Glaubwürdigkeit. Broschüren und einige öffentliche Versammlungen reichten nicht. Die verbreiteten Informationen seien unzureichend gewesen. Dennoch begrüßte Clement die Modernisierung dieses Verfassungskapitels, wobei er bemängelte, dass die Bekämpfung der Armut nicht als Staatsziel definiert werde und die Staatsziele nicht einklagbar seien.

Dieses Kapitel der Verfassungsrevision wurde mit 46 Ja-Stimmen, vier Nein-Stimmen bei zwei Enthaltungen angenommen. Notwendig waren zwei Drittel der anwesenden Abgeordneten.

Zum Schluss der Sitzung beantragte Michel Wolter (CSV) im Namen seiner Fraktion eine Debatte über die explodierenden Energiepreise. Kurz vor Ende der Sitzung war eine weitere, drastische Preiserhöhung beim Kraftstoff bekannt geworden. Die Debatte findet heute Nachmittag statt. Am Freitag wird sich das Parlament mit den Änderungen am Covid-19-Gesetz befassen.