Interview„Ich weine jeden Tag“: Alexej ist einer jener Russen, die gegen Putin auf die Straße gehen

Interview / „Ich weine jeden Tag“: Alexej ist einer jener Russen, die gegen Putin auf die Straße gehen
Alexej bei seiner ersten Festnahme am vergangenen Donnerstag in Moskau, als Russland seinen Angriff auf die Ukraine begann Foto: privat

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Alexej ist 38, arbeitet in Moskau für ein großes Unternehmen. Alexej ist aber auch gegen den Krieg in der Ukraine und geht gegen die Politik seines Präsidenten auf die Straße. Deswegen wollen wir seinen Nachnamen hier nicht verraten. Unter Wladimir Putin ist Russland zum Polizeistaat geworden. Alexej erzählt uns hiervon.

Tageblatt: Alexej, haben Sie Angst vor staatlicher Verfolgung, wenn Sie mit uns reden?

Alexej: Ich traue diesem Regime inzwischen alles zu und weiß, dass das gefährlich sein kann. Aber richtig Angst macht mir die Situation hier, nicht meine, sondern die für Russland. Ich bin ja Patriot und will hier leben und will, dass es diesem Land und seinen Leuten besser geht. Aber es wird leider alles immer schlimmer.

Wie haben Sie den Beginn des russischen Einmarsches in die Ukraine erlebt?

Als alles losging, am vergangenen Donnerstag, habe ich lange gearbeitet und bin erst spät raus zu dem Platz, an dem demonstriert wurde. Zu der Stunde waren dort aber nur noch Polizisten und ein paar Journalisten anzutreffen. Es dauerte keine zehn Sekunden, da kam ein Polizist und befahl mir, den Platz zu verlassen, andernfalls würde ich festgenommen. Ich hatte den Satz, dass ich gerade erst angekommen bin und ich mich in meiner Stadt frei bewegen könne, kaum ausgesprochen, da wurde ich auch schon „eingepackt“. Nach den zwei scheinbar obligatorischen wie wohl prophylaktischen Willkommensfausthieben, wie es sie immer bei Festnahmen setzt, landete ich im Polizeibus. Zehn Minuten später war dieser voll und los ging es zum Polizeibüro – aber nicht in das nächste, sondern in irgendeines am Rand dieser Millionenmetropole, weil alle anderen bereits überfüllt waren. Weil wir auch hier so viele waren, hat es dann die ganze Nacht gedauert, bis unsere Personalien aufgenommen waren.

Wie geht es jetzt weiter?

Mitte März erwartet mich ein Gerichtstermin. Normalerweise werde ich eine Strafe von 10.000 Rubel bekommen, was zurzeit rund 80 Euro sind. Bei einer zweiten Festnahme wäre die Strafe höher und es gäbe einige Tage Knast dazu. Beim dritten Mal geht’s dann bei drei Jahren Haft los …

Gehen Sie trotzdem weiter demonstrieren?

Ich gehe jeden Tag, versuche es zumindest. Es wird allerdings schwieriger, Demonstrationen zu organisieren. Seit vergangenem Donnerstag gab es fast 7.000 Festnahmen, das macht vielen Leuten Angst. Aber auch, weil es keine Opposition mehr gibt, die über einen Apparat verfügt, der große Menschenmengen mobilisieren und Demonstrationen organisieren könnte. Was uns geblieben ist, sind kleine Kanäle im Nachrichtendienst Telegram.

Wie sieht Ihr Alltag aus, können Sie mit Bürokollegen über die jetzige Situation reden?

Bei der Arbeit wurde uns nahegelegt, das Thema in Gesprächen zu vermeiden. Man redet nicht darüber. Aber darum geht es nicht. Ich weine jeden Tag, wenn ich nach Hause komme und die Nachrichten sehe. Unser Präsident wird das bis zum bitteren Ende durchziehen. Er ist so, er wird nicht aufhören. Ich kann mich dann nicht mehr halten – weil ich nicht weiß, wo das enden soll.

Nach meiner Festnahme bei der ersten Demo gegen den Krieg hat mich meine Großmutter als Vaterlandsverräter beschimpft

Wie ist es mit Ihren Freunden, Ihrer Familie?

Meine Freunde, wie die meisten Menschen meines Alters und darunter, wissen Bescheid, was in der Ukraine läuft, weil sie sich abseits der Staatsmedien informieren können. Aber bei meiner Großmutter zum Beispiel ist das anders. Nachdem ich festgenommen worden war, sagte sie mir, ich hätte das bekommen, was ich verdiene: Weil ich ein Vaterlandsverräter sei.

Hat Sie das nicht verletzt, wenn Ihre Großmutter das sagt?

Es hat mich nicht überrascht, ich kenne sie ja. Sie ist blind und taub, wie viele Russen, sie sieht und hört nur, was Putin sagt. Viele inzwischen in Russland verbotene Sender kann man auf YouTube trotzdem noch schauen – aber sie zieht die Staatsmedien vor. Es ist nicht so, dass keiner wüsste, dass es andere Informationsquellen gibt.

Wieso werden diese denn so wenig genutzt?

Viele Leute glauben diesen Medien nicht, sie glauben nur Putin und dem Staats-TV, wo der Krieg in der Ukraine eine „Operation“ und Kiew der Aggressor ist. Einer Freundin passierte etwas Ähnliches wie mir mit meiner Großmutter. Da waren es die Eltern, die sie eine Verräterin nannten. In der Metro werden Menschen angefeindet, wenn sie einen Gegen-den-Krieg-Anstecker an der Jacke tragen. Viele unterstützen Putin, weil sie es nicht besser wissen – allerdings auch, weil sie es nicht besser wissen wollen. Hinzu kommt, dass es immer schwieriger wird, sich unabhängig zu informieren, auch für mich, trotz all meiner Kontakte und meines Wissens. Das war sogar vor zwei Jahren noch viel, viel einfacher. Mittlerweile blockieren sie einfach alles, was ihrer Erzählung widerspricht.

Im Westen besteht ein Hoffnungsschimmer: Dass sich die Russen ihres Präsidenten selbst entledigen könnten durch einen Volksaufstand. Wie realistisch ist das?

Das russische Volk wird diesen Krieg unterstützen, solange es geht. Die jungen Menschen versuchen alles, aber viele landen im Gefängnis. Das macht natürlich Angst. Unsere Eltern und Großeltern wollen die Wahrheit nicht kennen. Lieber wird alles einfach ausgehalten, das war bei uns schon immer so. Wir haben Stalin ausgehalten, wir haben den Kommunismus ausgehalten usw., usf. Es braucht Generationen, um das zu ändern. Es freut mich, dass es jetzt beginnt, aber solange wir diesen Präsidenten und diese Regierung haben, wird alles nur schlimmer werden. Trotzdem ist es mir wichtig, zu sagen: Putin ist nicht Russland. Nicht jeder unterstützt ihn. Meine Freunde und ich und ganz viele junge Menschen in Russland werden uns weiter gegen Putin und diesen Krieg wehren. Aber Sie wissen: Viele Mittel dazu haben wir nicht.

Haben Sie Verständnis für Mitbürger, die Putin treu bleiben?

Ich verstehe sie, klar. Dafür muss man nur über den Rand von Moskau hinausblicken. Ganz, ganz viele Menschen in Russland sind einfach sehr arm, das ist so. Wenn Leute umgerechnet 200 Euro im Monat verdienen, interessieren sie sich für nichts – und zwar aus einem ganz einfachen Grund: weil ihr Leben einzig und allein darin besteht, über die Runden zu kommen, etwas zum Essen oder zum Heizen zu haben. Ich rede nicht von mir, ich habe einen guten Job, kann reisen und mich bewegen – aber Moskau und die Regionen, das sind zwei verschiedene Welten.

Der Westen hat strenge Sanktionen gegen Russland verhängt. Finden Sie das gut?

Die Sanktionen unterstütze ich voll und ganz und bin bereit, sie zu erleiden, wenn sie helfen, diesen Krieg zu beenden. Und wie sie jetzt sind, taugen sie auch etwas – das wird jetzt richtig heftig und kann ein Weg sein, die Leute zum Nachdenken zu bewegen. Das wäre ein erster Schritt. Vielleicht gehen sie dann irgendwann für Veränderung auf die Straße. Das wäre ein weiterer Schritt.

Merken Sie die Sanktionen bereits im Alltag?

Die Preise steigen bereits seit einem Jahr kontinuierlich an, seit kurzem allerdings viel stärker. Für mich, mit meinem Gehalt, ist das kein Problem. Viele, viele andere spüren das aber sehr stark. Persönlich könnten mich diese Maßnahmen beruflich treffen. Wir arbeiten bei einem sehr großen Projekt mit einem westeuropäischen Partner zusammen, der die Hardware, die ganze Technik beisteuert. Steigt der aus, können wir hier einpacken. Dazu kommt noch, dass ich Fußball liebe und leidenschaftlicher Fan von Spartak Moskau bin, die wie alle anderen russischen Vereine vom Europapokal ausgeschlossen wurden. Aber auch das halte ich gerne aus.

Kann Europa die russische Zivilgesellschaft, die gegen den Krieg und Putins Politik demonstriert, irgendwie unterstützen?

Nein, das liegt an uns, das müssen wir selber schaffen. Ich bin froh, dass Sie mir zuhören. Das hilft: Die Welt soll sehen, dass sich Menschen in Russland gegen Putin wehren.