BildungspolitikErster „Kannerbericht“ analysiert Wohlbefinden der Kinder

Bildungspolitik / Erster „Kannerbericht“ analysiert Wohlbefinden der Kinder
Am Dienstag wurde der erste Luxemburger „Kannerbericht“ der Presse vorgestellt Foto: Editpress/Hervé Montaigu

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Am Dienstag wurde der erste Luxemburger Kinderbericht vorgestellt. Im Vordergrund steht die Frage, wie es den Kindern geht. Das Wohlbefinden der Kleinsten ist in Luxemburg auf einem durchaus hohen Niveau, trotz Pandemie.

Bildungsminister Claude Meisch konnte am Dienstag aufgrund seiner Covid-Infektion bei der Vorstellung des „Kannerbericht“ nicht anwesend sein und wurde digital zugeschaltet. Der Kinderbericht bilde neben dem Jugend- und Bildungsbericht sowie den Arbeiten des „Luxemburg Centre for Educational Testing“ (Lucet) eine gute Basis, um konkrete Bildungspolitik aufzubauen, sagte er. „Wir wollen eine evidenzbasierte Bildungspolitik, insbesondere wenn es um die Zukunftschancen der Kinder geht.“ Alle fünf Jahre ist der Bildungsminister laut Jugendgesetz verpflichtet, dem Parlament einen Bericht über die Situation der Kinder und Jugendlichen in Luxemburg vorzulegen.

Wenn wir Politik für Kinder gestalten wollen, dann ist es wichtig, diese auch zu Wort kommen zu lassen

Claude Meisch, Bildungsminister

Der Bericht deckt die Altersgruppe der Null- bis Zwölfjährigen ab. „Wenn wir Politik für Kinder gestalten wollen, dann ist es wichtig, diese auch zu Wort kommen zu lassen“, so Meisch. „Der Kinderbericht ist die Stimme der Kinder in Luxemburg.“ Der Fokus des Berichts liege auf dem Wohlbefinden der Kinder, was insbesondere seit der Pandemie eine Priorität sei. Der zweite Fokus des „Kannerbericht“ richtet sich auf die Partizipation der Kinder. „Denn Kinder fühlen sich wohl, wenn sie ihr Umfeld mitgestalten, sich einbringen, mitreden und mitentscheiden können“, so der Bildungsminister. „Wir werden demnach Formate entwickeln, wo die Kinder ihr Umfeld konkret mitgestalten können.“ Das gelte für die „Maison relais“, das Umfeld der Familie und für die Schule.

Sascha Neumann hat zusammen mit seinem Team die Leitung des Projektes übernommen. Für ihn deckt der Kinderbericht eine ganzheitliche Perspektive ab. Denn es gehe nicht um einen spezifischen Ausschnitt aus der Lebenswelt der Kinder, wie zum Beispiel die Schule, sondern um die gesamte Lebenswelt, die Familie, die freizeitlichen Aktivitäten und die non-formale Bildung. Der Bericht erfasst auch die Veränderungen, die sich durch die Pandemie auf die Lebenssituationen der Kinder und deren Wohlbefinden ergeben haben.

Wohlbefinden bei Kindern ist hoch

Das Wohlbefinden ist allerdings nicht bei allen Kindern gleich hoch

Prof. Dr. Sascha Neumann, Leiter des Projekts

„Der ‚Kannerbericht‘ macht deutlich, dass das globale Wohlbefinden der Kinder in Luxemburg vergleichsweise hoch ist“, sagte Neumann. Auch ein gutes Jahr nach Beginn der Pandemie sei das subjektive Wohlbefinden der Kinder immer noch hoch. Allerdings würden die Kinder 2021 häufiger negative Gefühle wie Traurigkeit oder Stress äußern, so Neumann. „Das Wohlbefinden ist allerdings nicht bei allen Kindern gleich hoch.“ Etwas weniger als zehn Prozent weisen ein niedrigeres Wohlbefinden auf. Auf einer Skala von 100 liege man unterhalb von 75, teils unterhalb von 70, sagte er. Generell gelten in Luxemburg Werte zwischen 80 und 90. Neumann identifiziert diese Kinder als solche, die weniger zufrieden mit ihrem Leben in der Familie und mit jenem in der Schule sind. „Sie nehmen weniger häufig an organisierten Freizeitaktivitäten teil und äußern seltener positive Gefühle wie Fröhlichkeit oder Zufriedenheit und dafür mehr negative Gefühle“, sagte er. Diese Kinder kommen laut Bericht doppelt so häufig aus Haushalten mit alleinerziehenden Eltern.

Der Bericht stellt fest, dass die Familie der wichtigste Faktor für das Wohlbefinden der Kinder ist. Zur Zufriedenheit der Kinder mit dem Leben in der Familie gehört die Beziehung zu den Eltern und Geschwistern, das Sicherheitsgefühl in der Familie, die Möglichkeit, in der Familie mitzubestimmen. „Umso höher diese Werte sind, umso höher fällt auch das globale Wohlbefinden der Kinder aus“, so der Uni-Professor. Auch im Pandemiejahr 2021 sei die Familie eine wichtige Ressource für das Wohlbefinden der Kinder gewesen.

Die Kinder in Luxemburg fühlen sich eher umsorgt und unterstützt als beteiligt

Prof. Dr. Sascha Neumann, Leiter des Projekts

Ein weiterer wichtiger Befund des Berichts ist die Bedeutung der formalen und non-formalen Bildung. 70 Prozent der Kinder in der Studie besuchten eine „Maison relais“. „Wenn die Kinder mit ihrer ‚Maison relais‘ zufrieden sind, dann sind sie auch insgesamt mit ihrem Leben zufrieden“, sagte Neumann. Den gleichen Zusammenhang stelle man in der Schule fest. „Beide Lebensbereiche sind für die Kinder wichtig.“

Mitbestimmung der Kinder fehlt

Wie steht es um die Partizipation der Kinder? Laut Neumann haben die Strukturen non-formaler Bildung das Potenzial, Partizipations- und Inklusionserfahrungen für alle Kinder zu ermöglichen. Die Kenntnis der Kinderrechte durch die Kinder sei dagegen verbesserungswürdig. Die Mitbestimmung der Kinder in Luxemburg sei nicht zufriedenstellend und durchaus ausbaufähig. Neumann erklärte: „Zur Mitbestimmung gehört, ob Erwachse einem Kind zuhören, ob es sich an Entscheidungen beteiligen kann. Die Kinder in Luxemburg fühlen sich eher umsorgt und unterstützt als beteiligt.“ Die niedrige Beteiligungsquote erscheine in allen Bereichen, von der Familie bis zur Schule. „Auffallend in Luxemburg ist, dass diese Nicht-Beteiligung mit dem Alter der Kinder sogar noch zunimmt.“ In anderen Ländern sei das umgekehrt, sagte Neumann.

Zusammen mit seinem Team leitete Prof. Dr. Sascha Neumann das Projekt
Zusammen mit seinem Team leitete Prof. Dr. Sascha Neumann das Projekt Foto: Editpress/Hervé Montaigu

Mehr als ein Jahr nach Beginn der Pandemie berichten Kinder darüber, dass sie Familienangehörige, die nicht zu Hause wohnen, vermissen. Das Gleiche gilt für Freunde und bestimmte Aktivitäten. Sie berichten zudem über Langweile und Einsamkeit. „Die sozialen Konsequenzen der Pandemie überwiegen die gesundheitlichen Sorgen vor Covid-19 bei den Kindern“, stellte Neumann fest. Eltern seien angespannter und besorgter gewesen. Die Hälfte der Zehnjährigen stimmte dieser Aussage zu.

Es hat uns überrascht, dass die Zufriedenheit in den verschiedenen Lebensbereichen keine nennenswerten Unterschiede zwischen 2019 und 2021 hervorgebracht hat

Prof. Dr. Sascha Neumann, Leiter des Projekts

In der Pandemie gingen laut Bericht die Teilnahme an Freizeitangeboten und Treffen mit Freunden leicht zurück und der Gebrauch sozialer Netzwerke im Internet nahm zu. „Man sieht eine Verschiebung des Freizeitverhaltens“, erklärte Neumann. „Es hat uns überrascht, dass die Zufriedenheit in den verschiedenen Lebensbereichen keine nennenswerten Unterschiede zwischen 2019 und 2021 hervorgebracht hat.“ Er wolle die Folgen der Pandemie keinesfalls herunterspielen, doch der Bericht zeige, dass sich die Kinder, wie auch die Erwachsenen, an die Situation der Pandemie angepasst haben und lernten, damit zu leben.

Angebote für Eltern ausbauen

Lex Folscheid, Erster Berater des Bildungsministeriums, zog einige Schlussfolgerungen. „2021 haben wir trotz Pandemie eine Normalisierung beim Wohlbefinden der Kinder festgestellt“, sagte er. Dies sei stets das Ziel des Ministeriums gewesen. „Wir sehen uns durch diese Zahlen im Bericht darin bestätigt, dass wir die Schulen und ‚Maisons relais‘ so viel wie möglich offen ließen.“ In einem Lockdown würden die Kinder auf ihren Kern, die Familie, zurückgeworfen. Und diese habe laut Bericht den größten Einfluss auf das Wohlbefinden der Kinder. Deshalb wolle das Bildungsministerium in den kommenden Monaten Informations- und Sensibilisierungsangebote für Eltern ausbauen. Zudem wolle man eine Kampagne starten, um Musikschulen zu promovieren. Auch sei man in Gesprächen mit den Vereinen, um die Kinder für die Teilnahme an sportlichen und kulturellen Aktivitäten zu motivieren.

Wir sehen uns durch diese Zahlen im Bericht darin bestätigt, dass wir die Schulen und ‚Maisons relais‘ so viel wie möglich offen ließen

Lex Folscheid, Erster Berater des Bildungsministeriums

Zur mangelnden Partizipation der Kinder, die mit dem Alter zudem abnimmt, sagte Folscheid, dass man vorhabe, zusammen mit Sascha Neumann bei einigen Punkten des Berichts mehr in die Tiefe zu gehen, um etwa Strukturen daran anzupassen. Als Beispiel stellte er die Frage, ob manche Strukturen in der Grundschule und „Maison relais“ überhaupt noch angepasst seien für zwölfjährige Schüler.

Zwei Studien

Der Kinderbericht beruht auf zwei unterschiedlichen Studien, die zunächst unabhängig voneinander gestartet sind. Eine qualitative Feldstudie im Bereich der non-formalen Bildung (SEA) hat sich mit der Partizipation und Inklusion der Kinder beschäftigt. Die Studie analysiert, wie die Kinder in diesen Strukturen teilnehmen und mitbestimmen können. Dies ermöglichte es, auch die jüngeren Kinder der Altersgruppe null bis zwölf mit in die Studie einzubeziehen. Die zweite Studie im Bericht ist eine repräsentative Befragung, welche Acht-, Zehn- und Zwölfjährige erfasst. Diese wurde 2019 und 2021 bei den gleichen Kindern anhand derselben Fragen durchgeführt. Die Daten zum Wohlbefinden wurden demnach in einer Stichprobe von fast 8.000 Kindern vor der Pandemie und mehr als 2.000 Kindern während der Pandemie erhoben. Dadurch konnten Vergleiche gezogen werden. Der „Kannerbericht“ basiert auf einer Zusammenarbeit des Bildungsministeriums, des Luxembourg Institute for Socio-Economic Research“ (Liser), der Universität Luxemburg und der Universität Tübingen. Prof. Dr. Sascha Neumann war bis 2020 an der Uni Luxemburg und seit 2020 an der Uni Tübingen tätig.