BerlinaleEin unaufgeregtes Ende: Die letzten Wettbewerbsbeiträge und die Preisverleihung

Berlinale / Ein unaufgeregtes Ende: Die letzten Wettbewerbsbeiträge und die Preisverleihung
 (C) Reinhold Vorschneider/Komplizen Film

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Zu viele Konsonanten

„A E I O U“ ist ein zu geschwätziger, schlecht geschriebener Wettbewerbsfilm, dessen überzeugende Hauptdarsteller die dramaturgischen Schwächen nur teilweise wettmachen können.

Anna (Sophie Rois) ist eine 60-jährige Schauspielerin, die ihre lüsternen alten Schauspielkollegen einfach nicht mehr erträgt. Ihre Freizeit verbringt sie mit ihrem Nachbarn und Vermieter Michel (Udo Kier) in ihrem gutbürgerlichen Stammlokal in der Kant-Straße. Als sie vor dessen Tür ihre Handtasche von einem blutjungen Dieb gestohlen bekommt, erhält sie den Eindruck, dass dies große Umbrüche ankündigt. Wenig später akzeptiert sie, einem Jugendlichen mit Dyslexie Sprachkurse zu geben, damit dieser seine Hauptrolle im Schultheater meistert.

Man warnt sie vor: Der Junge wechselt die Pflegefamilie alle paar Monate. Natürlich ist Adrian (Milan Herms) niemand anders als der dreiste Taschendieb – und natürlich wird aus den beiden nach und nach ein ungleiches Liebespaar. Sie will dies natürlich erst nicht hinnehmen („Wieso suchst du dir nicht jemand in deiner Alterskategorie“ raunzt sie ihn an), er versucht, seine Schüchternheit hinter jugendlicher Arroganz zu verstecken. Irgendwann gewinnt die Anziehungskraft dann doch.

Die Liebhaber versuchen sich eine eigene Geschichte jenseits von allen Konventionen zu schreiben: Es gibt wenige Vorlagen für Liebesgeschichten zwischen einer älteren Schauspielerin und einem jungen Delinquenten, weswegen das Paar eine fast uneingeschränkte Freiheit genießt. Die Eskapade nach Nizza im zweiten Teil des Films verdeutlicht allerdings unfreiwillig, weil alle Handlungswendungen schrecklich voraussehbar und gleichzeitig unwahrscheinlich sind – u.a. die kriminelle Ermittlung, mit denen der Film rätselhaft anfangen will und die er gegen Ende wie erwartet wieder aufnimmt –, dass sich auch unkonventionelle Liebesgeschichten ähneln: So erzählt die Filmsprache genau das Gegenteil von dem, was die Regisseurin eigentlich darstellen möchte. Das liegt daran, dass das Drehbuch nicht funktioniert, was die beiden guten Hauptdarsteller immer dann auffangen, wenn der Film endlich mal die Schnauze hält und die Liebenden lieben lässt.

Ermüdend sind auch die plakativen feministischen Aussagen: Anstatt einfach eine starke Frauenfigur zu zeichnen, was der Film ja auch tut, werden hier offene Türen eingetreten und effektheischende Diskurse vor einem meist ohnehin bereits konvertierten Publikum gehalten. Das hier ist müder Möchtegernfeminismus by the numbers: Männerfiguren sind nur noch schablonenhafte, lächerliche Zielscheiben – die lüsternen Schauspielkollegen, der dämlich-autoritäre Theatergruppenleiter, die bekifften, geilen Jugendlichen, der doofe Polizist, der treue Michel –, die kathartisch abgeschossen werden. Das tut zwar, wie jede Katharsis, erst mal gut, ist aber im Endeffekt zu einfach.

Der Film will eine schwungvolle Liebesgeschichte mitsamt Off-Voice erzählen – man stelle sich Jeunets Amélie Poulain in einem feministisch-provokanten Gewand vor –, verzettelt sich aber in seiner schwerfälligen Dramaturgie: Die Geschichte ist nicht glaubwürdig, die Figuren überzeichnet, der Humor zu schwerfällig. Im Endeffekt hat dieser Film zu viel Text, zu viel Struktur, zu viele Konsonanten – und zu wenige Leerstellen, zu wenige Vokale, in denen sich die Liebhaber entfalten können.

„A E I U O – Das schnelle Alphabet der Liebe“ von Nicolette Krebitz, Offzieller Wettbewerb, 2/5

Formsicher, melancholisch und leichtfüßig

 (C) Umberto Montiroli

Der diesjährige Wettbewerb endet ruhig und stilsicher mit zwei formal geschliffenen Schwarzweiß-Beiträgen von zwei Kultregisseuren, deren Filme mit unerwarteten Brüchen aufwarten.

Einige Aspekte teilt Paolo Tavianis „Leonora Addio“ mit Joel Coens „Macbeth“: Beide sind in einem ästhetisch anspruchsvollen, teils fast theatralisch inszenierten Schwarzweißdekor gefilmt (siehe die Anfangssequenz, in der Pirandello auf dem Sterbebett liegt). Und beide Filme sind erste Soloausflüge von zwei Regisseuren, die stets mit ihrem jeweiligen Bruder gearbeitet haben. Nur lebt Ethan Coen im Gegensatz zu Vittorio Taviani, der 2018 verstorben ist, noch – und so ist „Leonora Addio“ nicht nur eine Hommage an den Schriftsteller Luigi Pirandello, um dessen letzte Reise es hier geht, sondern auch sehr klar an den Bruder.

Als Pirandello 1936 stirbt, kann dem Wunsch des Autors im faschistischen Italien nicht nachgegangen werden – anstatt in seiner sizilianischen Heimat wird seine Urne in einem Friedhof in Rom beigesetzt. Zehn Jahre später soll der letzte Wunsch des Schriftstellers dann endlich durch einen Beamten (Fabrizio Ferracane) erfüllt werden.

Es ist eine Reise durch ein postfaschistisches, von Religion und Aberglauben geprägtes Italien: Weil niemand, auch nicht der Pilot, mit einem Toten fliegen will, muss der Beamte den Zug nehmen. Dort begegnet er einem Soldaten, der mit seiner neuen deutschen Geliebten aus der Gefangenschaft zurückkehrt und kartenspielendem Gesindel, die die Kiste mit Pirandellos Urne stehlen, um darauf Karten zu spielen.

Weil sich Pirandellos Asche in einer altgriechischen Urne befindet, wollen die Geistlichen ihn nicht beerdigen – und stecken die Urne prompt in einen Kindersarg – Gott kann ja auch mal ein Auge zudrücken. Die Reise des Beamten ist folglich auch eine Reise durch Pirandellos Werk, überall tauchen Figuren auf, die wie Hommagen an den Autor oder wie Etappen eines Kreuzweges in einem vom Krieg markierten Italien wirken.

Tavianis Film ist dabei natürlich stets eine Hommage an den verstorbenen Bruder – berührend ist hier sowohl der filmische Kontext wie auch die stilsichere, wenn auch manchmal etwas zu klassische Inszenierung, die im letzten Drittel urplötzlich, ein bisschen wie in einem postmodernen Werk von Paul Auster, die Erwartungen über Bord wirft und einen radikalen Bruch darstellt: Urplötzlich wird Pirandellos letzte Erzählung „Der Nagel“ erwähnt und auch konsequent verfilmt.

Der abschließende Kurzfilm wird in Farbe erzählt und erweitert den Film um eine zusätzliche, berührende Abschiedsgeschichte – so verflechtet „Leonora Addio“ auf den drei Ebenen der Fiktion, der fiktionalisierten Geschichtsschreibung und der eigenen Biografie drei Todesfälle zu einem etwas zu steifen, dafür aber ergreifenden Spätwerk.

„Leonora Addio“ von Paolo Taviani, Offizieller Wettbewerb, 3/5

Das Leben als Improvisation

 (C) Jeonwonsa Film Co. Production

Ein ähnlich formales Verfahren – ein Film im Film, der mit der Schwarz-Weiß-Ästhetik bricht – findet man im letzten Wettbewerbsbeitrag: Der hyperaktive Hang Song-soo, der nach „The Woman Who Ran“ (im Berlinale-Wettbewerb 2020) letztes Jahr gleichzeitig in Berlin („Introduction“) und Cannes („In Front Of Your Face“) Filme vorstellte, ist nun mit seinem vierten Film in zwei Jahren zurück – und sahnt dafür den „Grand prix du jury“ ab. Hong Sang-soo ist in etwa der südkoreanische Patrick Modiano: Seine meist leichtfüßigen, aber auch stets melancholischen Filme wirken mitunter wie Fragmente, Auszüge eines ewig langen Werkes, das sich kontinuierlich im Kopf des Regisseurs schreibt.

Wer Sang-soo kennt, befindet sich bei „The Novelist’s Tale“ auf bekanntem Terrain: Die Schriftstellerin Jun-hee (Lee Hyeyoung) besucht eine alte Kommilitonin, die eine Buchhandlung aufgemacht hat. In der Peripherie von Seoul trifft sie während einer Turmbesichtigung einen Filmregisseur, der sie anfangs zu vermeiden scheint. Schnell erschließt sich, dass dieser einen Roman von ihr verfilmen sollte, daraus aber nichts wurde – der Regisseur schiebt den Produzenten die Schuld in die Schuhe, Jun-hee meint aber schelmisch, diese Absage wäre seiner Geldgier zu verdanken.

Während eines Spaziergangs im Park treffen der Regisseur, seine Frau und die Autorin auf die Schauspielerin Gil-soo (Kim Minhee), der Jun-hee vorschlägt, in ihrem ersten Film mitzuspielen. Um was es in dem Film gehen soll, weiß sie selbst noch nicht so recht – nur ist es ihr wichtig, mit Leuten zusammenzuarbeiten, die sie auch schätzt, weswegen sie den Regisseur wohl nicht rekrutiert, der sich dann auch etwas beleidigt verabschiedet.

Anschließend soll Gil-soo eine Freundin besuchen – die niemand anders ist als die Buchhändlerin aus der ersten Sequenz. In einem letzten Gespräch im Buchladen betrinken sich die beiden Frauen mit der Buchhändlerin, ihrer Mitarbeiterin und einem befreundeten Poeten, der nur unter dem Einfluss von Alkohol dichten kann, eine Ellipse später schaut sich Gil-soo dann Jun-hees experimentellen Film an – von dem der Zuschauer einen Auszug in Farbe sieht –, laut der Kinobetreiberin gab es sogar eine Pressevorführung mit zwei (!) Journalisten.

In Sang-soos Filmen standen bereits weibliche Figuren im Mittelpunkt, bevor dies zum Festivaltrend wurde. Auch hier stehen mindestens zwei starke und glaubwürdige Frauenfiguren im Vordergrund, die beiden Männerfiguren – der heuchlerische Regisseur und der besoffene Poet – sind eher Antithesen, dank denen Sang-soo mit dem Kino- und Literaturmilieu abrechnet, als waschechte Figuren.

Jun-hee läuft dabei herrlich unbeschwert durch diesen Film, der wie so oft bei Hong-soo in keiner erzählerischen Struktur gründet und stattdessen die hohe Kunst der zufälligen Begegnungen und des unbeschwerten Diskussion feiert: Die Hauptfigur gerät nahezu zufällig von einem Gespräch in das nächste, die Dialoge sind toll geschrieben, wirken nie gekünstelt und handeln nur nebensächlich von den ganz großen Themen – den Erwartungen an das Leben und den Ansprüchen an sich selbst, die Kreativität, die Angst vor der Erschöpfung des eigenen Schaffens und (auch ein wichtiges Thema bei Sang-soo) der Rausch des Alkohols als Ausgleich. Mit Leichtigkeit und viel Humor gelingt Sang-soo somit ein weiterer Film, der so charismatisch und unauffällig wie seine Hauptfigur ist.

„The Novelist’s Film“ von Hong Sang-soo, Offizieller Wettbewerb, 3/5

BERLINALE DIARY (3) Eine frankophobe Preisverleihung?

Der Goldene Bär für den besten Film geht an „Alcarràz“
Der Goldene Bär für den besten Film geht an „Alcarràz“ © Alexander Janetzko / Berlinale 2022

Es ist das erste Mal, dass ich bei einem Filmfestival wirklich alle Wettbewerbsbeiträge gesehen habe. Andere Jahre musste ich früher abreisen, Interviewtermine kamen mir in die Quere oder es wurde verlangt, die luxemburgische Rezeption in der Botschaft abzudecken, sodass ich stets ein paar Beiträge verpasst habe. Diesmal jedoch habe ich – was mir wegen des komprimierten Programms und der zahlreichen Artikel eine Woche lang fast jeden Schlaf geraubt hat – alles gesehen und konnte bei der Preisverleihung deswegen so richtig mitfiebern.

Im Gegensatz zu anderen Festivals oder vorigen Auflagen der Berlinale war der Wettbewerb unaufgeregt und eher ausgeglichen: Es gab viele starke Filme, wenig richtig Schlechtes, aber auch keine überdeutlichen Highlights wie beispielsweise „Drive My Car“ von Riusuke Hamaguchi oder „Parasite“ von Bong Joon-ho in den letzten beiden Cannes-Auflagen. Viel falsch machen konnte die Jury eigentlich nicht. Und doch hat sie es versäumt, mit ihren Preisen irgendeine Aussage zu machen, hat sie die Chance verpasst, irgendwas von Relevanz zu vermitteln.

Denn irgendwie wirkt es, als hätte man ein bisschen was von allem wählen wollen – ein paar rurale Welten mit „Alcarràz“ und „Drii Winter“, ein bisschen Soziopolitik mit „Rabyie Kurnaz vs. George W. Bush“ und „Robe of Gems“, ein bisschen Liebesdrama mit „Avec amour et acharnement“ und ein bisschen Avantgarde und Ästhetik mit „The Novelist’s Film“ und „Everything Will Be Ok“.

Dass einige meiner persönlichen Favoriten völlig leer ausgingen (es ist völlig unverständlich, dass „Les passagers de la nuit“ und „Yin Ru Chen Yan“ nirgendwo erwähnt wurden) ist schade, rätselhafter ist jedoch, dass von sieben französischsprachigen Beiträgen mit den Filmen von Rithy Panh und Claire Denis ausgerechnet diejenigen auserkoren wurden, die von Kritikern (zu Recht) am meisten verrissen wurden. Den Preisen fehlt vor allem eine Logik, ein roter Faden: Bei so vielen Filmen mit starken Frauenfiguren hätte man Akzente setzen können und mutige Filme wie „Un été comme ça“, in dem nicht nur weibliche Sexualität, sondern der pathologische Blick auf den eigenen weiblichen Körper durch soziale und männliche Konditionierung, konsequent und schonungslos thematisiert wurden. Dass sechs von acht Bären an Frauen gingen, ist zwar ein starkes Signal, so fehlt jedoch der Film dahinter, der dieses Signal auch filmsemantisch begleitet hätte.