Filmfestspiele in CannesMeryl Streep und Quentin Dupieux statt Skandal: So lief die erste Woche

Filmfestspiele in Cannes / Meryl Streep und Quentin Dupieux statt Skandal: So lief die erste Woche
Die US-amerikanische Schauspielerin Meryl Streep ließ bei der Eröffnung die eine oder andere Träne fließen Foto: AFP/Valery Hache

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Die gelegentlichen Regenschauer an der „Croisette“ taten den glanzvollen Eröffnungsfeierlichkeiten der 77. Filmfestspiele von Cannes keinerlei Abbruch: Die Schauspielgröße Meryl Streep und Jurypräsidentin Greta Gerwig zeigten auf dem Roten Teppich große Hollywood-Präsenz, daneben waren mit Quentin Dupieux und seinem Schauspielteam rund um Léa Seydoux, Raphaël Quenard, Louis Garrel und Vincent Lindon auch die französischen Filmstars prominent vertreten.

Kontroversen und Skandale sind rund um die Eröffnungsgala eines prestigeträchtigen internationalen Filmfestivals wie dem von Cannes nicht mehr wegzudenken. Letztes Jahr überwog die Kontroverse um Maiwenns Film, „Jeanne DuBarry“, der mit dem in Skandale verwickelten Schauspieler Johnny Depp in der Hauptrolle besetzt war. Entsprechende Umstände sind ebenso relevant und gegenwartsbezogen wie sie effekthascherisch und publikumswirksam sind: Von einer größeren Denunziationskampagne im Zeichen von #MeToo war im Vorfeld des diesjährigen Filmfestivals die Rede, doch bis auf einige Anspielungen der französischen Schauspielerin und Moderatorin der Auftaktzeremonie, Camille Cottin, blieb diese Kontroverse um die Missstände innerhalb der Filmbranche bisher weitestgehend unberührt.

Stattdessen wurde die 74-jährige Darstellerin Meryl Streep in Cannes mit dem Ehrenpreis ausgezeichnet: Es folgte eine tränenreiche Lobrede von Juliette Binoche, eine minutenlange Standing Ovation des Publikums. In einer längeren Q&A-Veranstaltung gab sie über ihre Karriere Aufschluss, sprach über prägende Erinnerungen und die Ungleichheit zwischen Mann und Frau im Schauspielgewerbe. Meryl Streep hat in nahezu 100 Filmen mitgewirkt, darunter „The Deer Hunter“ (1978), „Kramer vs. Kramer“ (1979) oder noch „The Bridges of Madison County“ (1995) – sie gilt als eine Schauspielerin von nahezu mythischem Rang, die das Frauenbild im Kino maßgeblich verlagert und Generationen an nachfolgenden Schauspieltalenten nachdrücklich geprägt hat.

Später stand eine Reise in die Vergangenheit an: „Napoléon“ (1927) von Abel Gance dürfte wohl der älteste Film im diesjährigen Programm sein. Ein Werk, das uns rund hundert Jahre in die vergangene Epoche des Stummfilms zurückführt, wo der Film noch ganz Bildkunst war, die Montage, die Überblendung und der Schnitt noch viel stärker aus sich selbst heraus sinnstiftend war. Ursprünglich als großes sechsteiliges Epos angelegt, scheiterte der Film aus finanziellen Gründen an der Ambition. Großflächig zeichnete Gance über vier Stunden hinweg den Lebensweg Napoléon Bonapartes nach, vom militärischen Genie von Kindesbeinen an auf dem winterlichen Schulhof bis hin zu dem ruhmreichen General auf dem Schlachtfeld. Abel Gance, der französische Meister, der nicht nur die Stilbewegung des französischen Impressionismus der 20er-Jahre mitbegründete, sondern auch noch in die Tonfilmzeit hineinwirkte, hat mit „Napoléon“ sein Meisterwerk geschaffen – episch in der Größe, prächtig die Kostümierung, formvollendet die Bewegungsabläufe, prägnant die Großaufnahmen. Die aufwändigen Restaurierungsarbeiten der „Cinémathèque française“ verhelfen diesem Monument des französischen Stummfilms zu neuem Glanz.

Dupieux macht den Anfang

Gleich im Anschluss an die glanzvolle Eröffnungsgala bildete dann am Dienstag Quentin Dupieux’ neuer Film „Le deuxième acte“ den Auftakt des Festivals. „Le grand n’importe quoi“, wie es eröffnend in seinem Erstlingswerk „Rubber“ hieß, ist dem 50-jährigen Regisseur immer noch das heiligste und wirksamste aller Stilmittel. Wohl kaum ein anderes Werk des französischen Filmemachers ist in seiner medialen Konstruktion selbstreflexiver oder autothematischer angelegt, in dem Sinne, dass er nicht nur seine eigene Medialität selbstbewusst-ironisch mitführt, sondern auch das Filmschaffen selbst zum Thema hat.

Im Zentrum steht ein Schauspielensemble, das sich in dem titelgebenden Restaurant „Le deuxième acte“ für die Dreharbeiten eines neuen Filmprojekts zusammenfindet: Da gibt es Willy (Raphaël Quenard), Florence (Léa Seydoux), Guillaume (Vincent Lindon) und David (Louis Garrel). Vervollständigt wird es durch einen Statisten (Manuel Guillot). Damit ist die Grobskizze dieses neuen Films des „enfant terrible“ des gegenwärtigen französischen Kinos gezeichnet – viel genauer ist diesem Film über die reine Handlung ohnehin nicht beizukommen.

Dupieux vereint hier große Namen des französischen Films, die lustvoll und überaus ungeniert das eigene Gewerbe ausstellen. Die Tendenz des Spiels im Spiel bestimmt die Darbietungen aus dem Gespann Quenard-Seydoux-Lindon-Garrel. Sie legen die überdimensional großen Egos offen, die dem Schauspielgewerbe gerne nachgesagt werden. Ähnliches konnte man 2021 in Gastón Duprats und Mariano Cohns Film „Competencia oficial“ beobachten oder noch in „Daaaaaalí“, Dupieux’ Huldigung und Dekonstruktion des Künstlers Salvador Dalí. In dieser fiktionalisierten Künstlerbiografie besetzte der Regisseur den Maler mit fünf verschiedenen Schauspielern, gleich so, als wolle er sagen, es bräuchte fünf Personen, um dieses gewaltige Ego darzustellen.

Bei allem Klamauk, den Dupieux mit „Le deuxième acte“ sehr kontrolliert betreibt, bewegt sich dieser Film augenfällig an heutigen Problemfeldern: Die Political Correctness, die Sensationslust des Menschen, alles mit seinem Smartphone festhalten zu wollen oder noch die Abschaffung des Menschen durch die Künstliche Intelligenz – Dupieux greift diese Fragen auf, spielerisch leicht, ungemein harsch und direkt, sich immerzu auf den doppelten Boden der fiktionalisierten Ironie berufend, diese als Sicherheitsnetz ausbreitend. Die minutenlange Plansequenz über die Schienen einer Dolly-Kamera-Bahn, die den Film schließt, steht dafür musterhaft – seltsam fühlt man sich an Jean-Luc Godards Eröffnungssequenz aus „Le Mépris“ (1963) erinnert. Darüber hinaus werden die großen Sinnfragen nach der Relevanz und der Legitimation des Kinos in einer Zeit der globalen Katastrophen ausgetragen – dabei ist es ohnehin offenkundig, dass sich „Le deuxième acte“ als ein großes Liebesbekenntnis an den Film und das Kino als Ort versteht.

Regisseur Quentin Dupieux, das „enfant terrible“ des französischen Films
Regisseur Quentin Dupieux, das „enfant terrible“ des französischen Films Foto: AFP/Zoulerah Norddine

Von „Rubber“ (2010), „Le Daim“ (2019), „Mandibules“ (2020) und „Daaaaaalí“ (2023) bis hin zu dem jüngst erschienenen „Yannick“ (2023): Dupieux unterdrückt in seinen Filmen jeden Ansatz zur rationalen Herleitung des Gezeigten – es ist die surrealistische Basis seines Schaffens, von der aus der Franzose seine absurden Ideen heraufbeschwört. Die Ebenen der Fiktion und Wirklichkeit durchdringen sich hier auf auffällige Weise, alles an diesem Film drängt auf die äußerste Künstlichkeit. Anstelle der Linearität tritt die Zirkularität, anstelle der Stringenz die Kontingenz; Dupieux’ Universum ist eines der kontrollierten Zufälle und der raffinierten Wortgefechte. Geradezu kontrastiv setzt Dupieux hingegen auf den Realismuseffekt in der Form: Lange ungebrochene Kamerabewegungen begleiten die Schauspieler. Handgetragen in Außenaufnahmen ist die Kamera überaus nah an den Darstellern: Sie verlassen den Bildkader zunächst, nur um ihn dann wieder zu betreten. Statische Aufnahmen dominieren in den Interieurs.

Sehr sparsam in der Form hat Dupieux seine Geschichten immer schon erzählt. Es ist ein Kino des Minimalismus: Es sind nicht die Set-Designs, nicht die Maske oder die Kostümierung, die den Reiz des Films ausmachen, sondern die Kunst der Dialogführung. Ein Wort gibt hier in aller Banalität das andere: Unsinnig und inhaltsleer wirken diese Oberflächlichkeiten, doch in dieser vermeintlichen Unsinnigkeit liegt der eigentliche Reiz von Dupieux’ Filmen – die scheinbare Belanglosigkeit ist seine Kunst.

„Le deuxième acte“

Quentin Dupieux’ neuer Film läuft nicht nur in Cannes, sondern ist seit Mittwoch auch im Kinepolis Belval und dem Ciné Utopia in Luxemburg zu sehen.

Fokus auf Quentin Dupieux

Mehr zu Quentin Dupieux erfahren Sie in dem Artikel „Von Gummireifen, Lederjacken und übergroßen Fliegen“ von Marc Trappendreher.