GroßbritannienDienst an der Nadel: Wie Zehntausende Freiwillige zum erfolgreichen Impfprogramm beitragen

Großbritannien / Dienst an der Nadel: Wie Zehntausende Freiwillige zum erfolgreichen Impfprogramm beitragen
Die Medizinstudentin Leon Leipold hilft als Freiwillige bei der britischen Impfkampagne mit Foto: Sebastian Borger

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Dem klinischen Praktikum hatte der neuerliche Lockdown eine Ende gesetzt, das Medizinstudium konnte nur auf Sparflamme weitergehen. Deshalb zögerte Leona Leipold keine Sekunde, als Anfang Januar ihre Mentorin anrief: Ob sie beim Covid-Impfprogramm mithelfen könne? „Ich sagte sofort zu“, erinnert sich die Studentin beim Gespräch in einem verregneten Londoner Park.

Viele der nötigen Fortbildungen, etwa in Erster Hilfe oder dem Umgang mit verschüchterten oder aufsässigen Patienten, absolvieren Beschäftigte und Auszubildende im Nationalen Gesundheitssystem NHS ohnehin routinemäßig jedes Jahr. Für Leipold kam eine eintägige Impf-Schulung hinzu. Seither radelt sie dreimal die Woche eine halbe Stunde in den West-Londoner Stadtteil Ladbroke Grove.

In der dortigen St.-Charles-Poliklinik versorgen die örtlichen Arztpraxen an unterschiedlichen Wochentagen ihre Patienten mit der Immunisierung gegen Sars-CoV-2. Täglich kommen bis zu 700 Menschen, um die erste Dosis des Vakzins von Biontech/Pfizer oder Oxford/Astra Zeneca zu erhalten – landesweit sind es bis zu einer halben Million am Tag.

Und die Impfwilligen werden immer jünger: Anfang vergangener Woche verkündete Premierminister Boris Johnson stolz, man habe seit 8. Dezember mehr als 15 Millionen Menschen über 70 Jahre sowie das Personal im Gesundheitswesen und Pflegedienst behandelt. Bis zum vergangenen Wochenende waren drei Viertel der Altersgruppe zwischen 65 und 69 Jahren hinzugekommen. Schon ist in Regierungskreisen davon die Rede, man werde bis Mitte April allen über 50-Jährigen sowie medizinisch Vorbelasteten jüngeren Alters die Erstdosis anbieten können, zeitgleich mit der von März an fälligen Zweitdosis bei all jenen, die den ersten Pieks längst hinter sich haben. Bis Ende Juli sollen sämtliche Erwachsene auf der Insel immunisiert sein.

Neben der frühzeitigen Beschaffung von vielen Millionen Dosen, deren rascher Genehmigung durch die Arzneimittelbehörde MHRA und der zentralistischen Struktur des NHS zählen die zahlreichen Freiwilligen zu den Erfolgsfaktoren des britischen Impfprogramms. Als die Verantwortlichen die Bevölkerung zum Dienst aufriefen, meldeten sich binnen weniger Tage Zehntausende von Kurzarbeitern, Studentinnen und Pensionisten für den Dienst, der Abwechslung vom langweiligen Lockdown versprach.

Impfen lernen im Schnellkurs

Mit Hilfe der Krankentransportorganisation St. John Ambulance und des Königlichen Freiwilligendienstes RVS wurden sie ausgebildet, zunächst überwiegend für Unterstützerrollen wie die Ausweisung geeigneter Parkplätze, die sorgfältige Reinigung der Impftische und die Begleitung der Geimpften im Ruheraum. Inzwischen können sich Interessierte in Schnellkursen auch für das Gespräch mit den Patienten über Vorerkrankungen und mögliche Allergien sowie den Dienst an der Nadel ausbilden lassen.

Leona Leipold hat bereits mehr als 200 Patienten geimpft. „Die meisten sind so dankbar, das ist sehr anrührend“, erzählt sie. Die Londonerin mit deutschen Wurzeln wuchs in Kenia auf, ehe sie zum Studium in die britische Hauptstadt zurückkehrte. Die Ferien verbrachte sie stets bei den Großeltern im schwäbischen Rot an der Rot – unverkennbar enthält ihr perfektes Deutsch dialektale Anklänge („isch gut“).

Wenn es um medizinischen Fachjargon geht, verfällt sie übergangslos ins Englische – und spricht dann mit großem Ernst über ihr Anliegen der Gesundheitsversorgung für alle. „Die Pandemie hat die enormen sozialen Unterschiede in der Gesellschaft verdeutlicht. Wir müssen deshalb besonders auf benachteiligte Gruppen zugehen.“

„NHS erfüllt Briten mit Stolz“

Diesem Ziel dient eine neue Aktion namens „Vaxi Taxi“: Vorvergangenen Sonntag war Leipold erstmals mit einem der berühmten schwarzen Taxis unterwegs. Es parkt vor Nachbarschaftszentren, Synagogen und Moscheen, um bisher Zögerliche zur Impfung zu bewegen. NHS-Statistiken zufolge leisten beispielsweise die Angehörigen ethnischer Minderheiten ihrer Einladung zur Immunisierung deutlich seltener Folge als die weiße Bevölkerung. So haben sich etwa in England, anteilig an der Bevölkerung, doppelt so viele Weiße impfen lassen wie Schwarze.

Freiwillig zum Impfdienst in ihrem lokalen Krankenhaus meldete sich bereits im Dezember auch eine in London lebende deutsche Ärztin. Allerdings wurde die Neurologin schon bald gebeten, stattdessen doch lieber auf der Intensivstation auszuhelfen, wo im Januar Covid-Notstand herrschte. „Das habe ich natürlich gemacht, wie viele Chirurgen und Kinderärzte auch.“ Die Flexibilität des Systems empfindet die erfahrene Praktikerin als großen Vorteil des NHS, auch bei der Rekrutierung Freiwilliger für das Impfprogramm: „Ich kenne viele Wissenschaftler anderer Fachrichtungen, die den Schnellkurs gemacht haben und jetzt in ihrer Freizeit beim Impfen helfen.“

Das instinktive Vertrauen der Briten auf den Gemeinschaftssinn des NHS sehen die erfahrene Ärztin und die Medizinstudentin übereinstimmend als Fundament des Impferfolgs. „Das war nur möglich, weil die Regierung die Umsetzung dem NHS überlassen hat. Ihr Gesundheitssystem erfüllt die Briten wirklich mit Stolz“, resümiert Leipold.


Englische Schulen öffnen kommenden Monat zuerst

Vor einer für heute angekündigten Regierungserklärung über Schritte aus dem Corona-Lockdown tobte am Wochenende in Großbritannien der Meinungsstreit. Während konservative Hinterbänkler baldige Erleichterungen für Einzelhandel und Gastronomie anmahnten, stärkten führende Wissenschaftler dem neuerdings vorsichtig agierenden Boris Johnson den Rücken. Offenbar will sich der Premierminister zunächst auf die Öffnung von Schulen und Altenheimen konzentrieren.
Der Tory-Regierungschef tritt an diesem Montagnachmittag mit einem etwa 60-seitigen Dokument vors Unterhaus. Darin dürften frühestmögliche Lockerungsschritte für England aufgelistet sein; die anderen Regionen des Landes weichen mehr oder weniger stark vom weitaus größten Landesteil ab. Offenbar will Johnson am Ziel festhalten, sämtliche Schulen in 14 Tagen wieder zu öffnen. Am selben Tag (8. März) darf je ein namentlich benannter Angehöriger zu Besuchen in Alten- und Pflegeheimen erscheinen. Auch sollen sich dann alle Briten erstmals wieder mit einer Person außerhalb ihres Haushaltes im Park treffen dürfen; dies war bisher ausschließlich gemeinsamem Sport oder Spaziergang vorbehalten. Mannschaftssport soll für Amateure erst Ende März erlaubt werden, Pubs und Restaurant werden sich wohl bis deutlich nach Ostern gedulden müssen.
Selbst nach der vorsichtigen Zählung des Gesundheitsministeriums hat die Insel am Wochenende die traurige Zahl von 120.000 Covid-Toten überschritten; auf die Bevölkerung bezogen sind mehr Opfer zu beklagen als in vergleichbar großen Staaten. Seit dem Höchststand Mitte Januar ist die Todesrate ebenso stark gefallen wie die Zahl der Neuinfektionen (zuletzt täglich rund 11.000) und der Krankenhaus-
Einweisungen. Mehr als 17 Millionen Menschen – ein Viertel der Bevölkerung – haben inzwischen mindestens eine Impfdosis erhalten. Führende Wissenschaftler und die Labour-Opposition warnten vor überhasteter Öffnung. Hingegen wandte sich der Chef des einflussreichen 1922-Komitees, dem alle Tory-Hinterbänkler angehören, in einem Zeitungsartikel gegen übergroße Zurückhaltung: „Das wäre genauso rücksichtslos gegenüber den Leben vieler Menschen, vor allem von Kindern und jungen Leuten“, schrieb Graham Brady.  SeB