BelarusDie Weißrussen versuchen Lukaschenko abzuwählen

Belarus / Die Weißrussen versuchen Lukaschenko abzuwählen
Lukaschenkos Apparat wird schon dafür sorgen, dass die vielen Stimmen, die einen Wandel in Weißrussland wollen, nicht zählen werden Foto: Dimitar Dilkoff/AFP

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In Weißrussland haben sich gestern teils stundenlange Schlangen vor den Wahllokalen gebildet. Auf sozialen Medien wurden Fotos jubelnder Bürger nach der Stimmabgabe gepostet, die Hand zum Siegeszeichen der Opposition erhoben.

Viele Bürger fotografierten ihre Wahlzettelt vor der Abgabe und mailten die Aufnahmen für eine unabhängige Parallelzählung. Diese einzigartige Mobilmachung ist der 37-jährigen Swetlana Tichanowskaja zu verdanken, einer bisher politisch unbeleckten Hausfrau und Englischübersetzerin. Sie hat es geschafft, die Unzufriedenheit in Weißrussland nach 26 Jahren ununterbrochener Herrschaft des Autokraten Alexander Lukaschenko zu kanalisieren.

Zur sechsten Präsidentenwahl seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat Europas letzter Diktator neben sich selbst vier Kandidaten zugelassen. Seine drei größten Widersacher ließ er indes im Vorfeld verhaften oder sie setzten sich aus Angst ins Ausland ab. Der Banker Wiktor Babariko und der bekannte Videoblogger Sergej Tichanowskij sitzen inzwischen in Untersuchungshaft. Ihnen drohen hohe Haftstrafen. An der Stelle des Bloggers hatte sich indes im Juni schleunigst seine Ehefrau Swetlana Tichanowskaja gemeldet und die für eine Kandidatur nötigen 100.000 Unterschriften gesammelt. Die zwei gemeinsamen Kinder schickte sie sicherheitshalber mit der Großmutter in die EU.

„Ich bin keine Politikerin, ich brauche keine Macht“, sagt Tichanowskaja. „Mein Ehemann ist in Haft und so habe ich mein friedliches Leben für uns alle geopfert, denn ich bin es statt, immer nur zu warten, immer nur zu schweigen und ich bin es satt, immer Angst zu haben“, begründete sie ihre Kandidatur. Damit traf Tichanowskaja den Nerv der weißrussischen Gesellschaft.

Repression und Einschüchterung

Zu ihren Wählermeetings zog sie, unterstützt von den Ehefrauen der beiden anderen ausgeschiedenen Kandidaten, Tausende auch in der Provinz an, wo Lukaschenko bisher auf große Unterstützung zählen konnte. Doch der Autokrat hatte mit seiner Negierung der Corona-Pandemie für viel Unmut gesorgt. Da Weißrussland keine Social-Distancing-Maßnahmen ergriff und sich Lukaschenko über das Virus lustig machte, kam es rasch zu einer sehr hohen Ansteckungsrate. Dazu kommt eine zunehmende Wirtschaftskrise, seitdem sich Russland weigert, seinen der Demokratie ebenso abgeneigten Freund Weißrussland weiterhin zu subventionieren. Die Weltbank rechnet für 2020 mit einem Einbruch der Wirtschaft von vier Prozent.

Auf Tichanowskajas überraschenden Wählerzuspruch reagierte Lukaschenko in den letzten Tagen zunehmend mit Repression. Wurden bereits in der Wahlkampfphase über 1.300 politische Aktivisten festgenommen und meist zu Gefängnisstrafen von bis zu 14 Tagen verurteilt, traf es am Samstag und Sonntag im ganzen Land Dutzende teils unbeteiligte Passanten. Gleichzeitig verhaftete der Sicherheitsapparat Tichanowskajas Stabschefin Maria Moroz und nahm am Samstagabend ihre engste verbliebene Mitstreiterin Maria Kolesnikowa fest. Sie wurde jedoch am späten Abend wieder freigelassen. Bei der Festnahme habe es sich um ein „Versehen“ gehandelt, ließen Lukaschenkos Schergen wissen. Doch die Einschüchterung ist unübersehbar. Weronika Tsepkalo, die dritte zentrale Frauengestalt im neuen Oppositionsbündnis, reiste daraufhin überstürzt nach Moskau ab.

Tichanowskaja selbst verließ in der Nacht auf Sonntag ihre Minsker Wohnung und versteckte sich in der Nähe der Hauptstadt. Gestern Nachmittag machte sie bei ihrer Stimmabgabe gute Miene zum bösen Spiel, lächelte und forderte die Wahlkommission auf, am Abend die Stimmen auch wirklich zu zählen. „Ich weiß, ihr habt eine andere Aufgabe, doch zählt doch einfach nach“, giftete sie.

Straßenproteste nach Wahlschluss

Allgemein geht man in Weißrussland davon aus, dass das Resultat solcher „Wahlen“ schon im Vorhinein feststeht. Laut in Oppositionskreisen populären Meinungsumfragen beträgt Lukaschenkos Rückhalt jedoch nur noch 3 Prozent. Allerdings sind in Weißrussland keine unabhängigen Untersuchungen möglich. „Sascha – 3 Prozent“ gifteten dennoch im Sommer die Fans von Tichanowskajas Ehemann Sergej, dem Blogger. Dazu klatschten sie mit Hausschuhen und schimpften den fünfmaligen Staatspräsidenten einen Kakerlaken, den sie bald vertreiben würden. „Das Kakerlaken-Flugzeug steht zum Abflug bereit, schon am Montag sind wir ihn los“, postete eine Gruppe namens „Basta!“ gestern in den sozialen Netzwerken unter einem Foto der Präsidentenmaschine.

Doch so einfach wird sich Lukaschenko nicht geschlagen geben. Gestern Abend ließ er am Lenin-Platz vor dem Parlament seine „Omon“-Sondereinheiten aufmarschieren – und das Internet wie erwartet weitgehend lahmlegen. Mindestens 38 Bürger wurden bereits tagsüber festgenommen. Nachwahlproteste gegen die erwarteten Wahlfälschungen sollen kurz nach Wahllokalschluss beginnen. „Wir brauchen kein Blut auf den Straßen“, appellierte Tichanowskaja direkt an die Sicherheitskräfte in einem Video. „Ich halte mir alle Optionen offen“, hatte Lukaschenko bei seiner Stimmabgabe auf eine entsprechende Frage eines russischen Journalisten geantwortet.