InterviewDas Undenkbare: Friedensperspektiven in Kriegszeiten

Interview / Das Undenkbare: Friedensperspektiven in Kriegszeiten
Das Tageblatt hat den Präsidenten des Internationalen Roten Kreuzes am 1. Juni interviewt: Dr. Peter Maurer nahm sich beim Mittagessen in Luxemburg-Stadt Zeit Foto: Tom Jungbluth

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Gibt es noch Friedensperspektiven für die Ukraine und Russland? Was undenkbar wirkt und nicht dem Zeitgeist entspricht, könnte Menschenleben retten. Dr. Peter Maurer, Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, gibt Hoffnung: Kriege enden am Verhandlungstisch. Ein Interview über Waffenstillstände, Versöhnungsmomente und Vertrauensbildung.

Tageblatt: Sind Kriege vergleichbar? Inwieweit ist der Ukraine-Krieg anders? IKRK-Direktor Dominik Stillhart meinte jüngst: „Die Geschwindigkeit, mit der dieser Konflikt eskaliert ist, und das Ausmaß der Zerstörung und des Leids sind gewaltig. So etwas haben wir lange nicht mehr gesehen. Natürlich wütet seit zehn Jahren der Krieg in Syrien, aber in der Ukraine haben wir es innert zwei Monaten mit über fünf Millionen Flüchtlingen und sieben Millionen intern Vertriebenen zu tun.“

Dr. Peter Maurer: Wir vergleichen Gräueltaten eigentlich nicht. Wir sind in all diesen humanitären Konflikten rund um den Globus engagiert, um dem humanitären Völkerrecht zum Durchbruch zu verhelfen. Wir sehen natürlich die Folgen von Verletzungen und von Krieg. Wir messen nicht genau, was das ist. Wir haben Einblicke: Wenn wir feststellen, wie groß die humanitären Auswirkungen sind, wenn wir feststellen, dass mit großer Wahrscheinlichkeit auch schwere Verletzungen des humanitären Völkerrechts erfolgt sind, dann versuchen wir, sie im Dialog mit den Kriegsparteien zu einer Veränderung ihres Verhaltens zu bewegen. Das ist natürlich immer zu spät – wenn es geschehen ist. Darum ist es so wichtig, dass wir präventiv tätig sind, dass wir wissen, wo Spannungen sind, dass wir breitflächig mit Armeen, mit nicht-staatlichen Gruppierungen in Kontakt sind: um ihnen wenigstens in Erinnerung zu rufen, was die Normen des humanitären Völkerrechts sind. Wir vergleichen also nicht, aber es ist klar: Ich hatte die gleiche subjektive Empfindung, wie Dominique Still sie hat und wie viele sie haben. Wir kommen in diese Konflikte und so verschieden sie auch sind – so ähnlich sind sie.

Sie sagen, dass Sie aktiv werden, wenn es bereits zu spät ist. Niemand redet momentan gerne über Frieden, weil die Ukraine Waffenlieferungen braucht, weil die Stimmung sehr emotional aufgeladen ist, weil wir all diese Gräueltaten sehen: Sie deuten auf politische Lösungen hin. Wie sieht eine Exit-Strategie für Sie aus?

Erstens: Aus unserer Erfahrung in der Beschäftigung mit Kriegen wissen wir, dass, je mehr es uns gelingt, den Normen und Prinzipien des humanitären Völkerrechts während des Kriegs zum Durchbruch zu verhelfen, desto leichter es ist, einen Weg aus dem Krieg zu finden. Über die Länge und die Taktik von Kriegsführung und wann die Zeit reif ist, um Frieden zu schließen, um Abkommen oder Waffenstillstände zu schließen, das ist letztlich eine politische Frage, zu der wir uns nicht äußern. Wir sagen nur: Erste Priorität bleibt, humanitäre Prinzipien und Normen einzuhalten. Weil wir eben nicht wissen, wie lange diese Kriege dauern. Zweitens: Je besser die Einhaltung geschieht, umso größer sind die Chancen, dass wir nicht in einen Kreislauf von Gewalt und neuen Konflikten gelangen. Von dort aus gesehen sind es dann strategische, militärische und politische Überlegungen, die die Kriegführenden dazu bringen, entweder Einigungen oder Waffenstillstände zu schließen. Was wir sagen können: Wir begrüßen als humanitäre Organisation alle Schritte, die Bevölkerungen schützen. Die beste Lösung ist immer, dass der Krieg endet. Aber da wir uns nicht dazu äußern, wie legitim oder illegitim ein Krieg ist, äußern wir uns auch nicht zur Frage, wie legitim oder illegitim der Zeitpunkt der Friedensstiftung ist.

Es gibt mehrere Szenarien, wie ein solcher Frieden stattfinden kann. Oft wird von totalen Niederlagen gesprochen, vom Verhandlungsfrieden, der Kapitulation: Was ist aus Ihrer Sicht zumindest der effizientere Weg für einen nachhaltigen Frieden? Also in diesem Fall: dass nicht ständig Angst herrscht, der Invasor könnte zurückkehren, oder dass das Land ständig überfallen wird. Aber dass es auch nicht zu einer Gewaltspirale kommt, die einen Verteidigungs- in einen Angriffskrieg verwandelt.

Wenn wir zu den Wurzeln von Krieg und Konflikt gehen, ist eine nachhaltige Friedensförderung eine, die den Rückhalt der Kriegsparteien hat. Und die Bedingungen kreiert, in denen die Bevölkerungen Zukunftsperspektiven haben, zu denen sie Ja sagen können. Das ist der Idealfall, den wir selten haben. Und dann kommt der Augenblick, wo wir sehen, dass ein Kompromiss nötig ist. Wir sind aus humanitärer Perspektive immer eher der Auffassung, dass Leben geschützt werden muss und daher Kompromisse eingegangen werden müssen. Selbst, wenn vielleicht nicht sicher ist, wie stabil eine Lösung ist, aber schon der Waffenstillstand – wenn man will – einer Bevölkerung eine bessere Perspektive erlaubt.

Je länger Konflikte dauern, desto schwieriger wird es, einen Weg zu finden

Das heißt?

Ich verstehe natürlich: Je länger Konflikte dauern, desto schwieriger wird es, einen Weg zu finden. Desto mehr Opfer haben wir auf allen Seiten, desto schwieriger wird der Kompromiss, denn wenn schon so viele Opfer in Kauf genommen wurden, dann wird es umso schwieriger, den Frieden zu finden. Wir sind immer wieder in den schwierigen Situationen, dass wir lange Phasen von Unsicherheit haben, in denen das Wort „frozen conflict“ (eingefrorener Konflikt, Anm. d. Red.) bemüht wird. Letztlich haben wir an so vielen Orten über Jahre „frozen conflicts“, weil es nicht gelingt, aus der großen Polarisierung den übergroßen Schritt zu machen, zu etwas, das wir als ideale nachhaltige Friedenslösung mit Perspektiven für alle Seiten, inklusive Gesellschaften, betrachten. Das gelingt aber nicht am Stück. Deshalb ist es entscheidend, dass man eine pragmatische Herangehensweise hat. Das fängt im Krieg mit dem humanitären Völkerrecht an, damit es zu mehr oder weniger stabilen Waffenstillständen kommt, die es dann wiederum erlauben, gewisse Dienstleistungen gegenüber der Bevölkerung zu erbringen und gewisse Versöhnungsmomente zu schaffen. Und hier ist natürlich die Rotkreuzbewegung insgesamt gefordert: Wir sind hier, um den Auswirkungen von Krieg zu begegnen, aber auch um Gesellschaften zu helfen, sich wiederzufinden.

Sie haben gerade von „frozen conflicts“ gesprochen. Es gab diese Situation acht Jahre lang halbwegs in der Ukraine: 13.000 Menschen starben. Was macht man, wenn man einen solchen „frozen conflict“ hatte und den Leuten sagt, „jetzt tun wir das Gleiche mit dem gleichen Risiko“? Wie vermittelt man so etwas als Friedensorganisation? Das Vertrauen ist ja komplett zerstört.

Sie sagen das entscheidende Wort: Wir haben humanitäre Arbeit immer als die grundlegende Basis der Vertrauensbildung verstanden. Und humanitäre Arbeit nach dem Krieg ist eigentlich die Verlängerung der humanitären Arbeit im Krieg. Die ganze Essenz von dem, was wir in Konflikten, Kriegen und „frozen conflicts“ tun, ist Vertrauensbildung. Und Vertrauensbildung geht letztendlich über die Lösung von Problemen, die Bevölkerungen als entscheidend ansehen. Darum beschäftigen wir uns mit den Vermissten, den Kriegsgefangenen, den Verstorbenen und ihrer Rückführung, den Basisdienstleistungen in der Gesellschaft, den grenzüberschreitenden Kooperationen über Kontakt- und Waffenstillstandslinien hinweg. Wir glauben, dass langfristig nur konsensuelle Arbeit Vertrauen schafft: Konsensfindung ist der erste Schritt zu einem nachhaltigen Frieden.

Sie sprechen stets mit beiden Seiten: Sie haben z.B. Russlands Außenminister Sergei Lawrow zu Beginn des Ukraine-Kriegs getroffen. Dadurch kam es zur heftigen Polemik in der Ukraine und den sozialen Medien, Sie würden Russlands Spiel mitmachen. Es gab sogar den Vorwurf, Sie hätten dabei geholfen, Menschen aus Mariupol nach Russland zu deportieren. Sie entgegneten: Wir machen das nicht, wenn es nicht freiwillig ist. Wie haben Sie das erlebt? Wurde die Symbolik dieses Treffens mit Lawrow unterschätzt?

Ich denke, es ist bisschen eine andere Problematik. Erstens: Wir wollen ja insbesondere im Krieg mit allen Kriegsparteien eine offene Kommunikation haben. In dem Sinne war es für mich ein absoluter „No brainer“, dass ich Kiew und Moskau besuche, nachdem dieser schon acht Jahre schwelende Konflikt eskaliert ist. Dies, um auch darüber zu reden, wie wir uns in dieser neuen Phase des Kriegs versichern können, dass wir die Unterstützung der Kriegsparteien für unsere Arbeit haben. Für mich ist das nicht verhandelbar. Es ist das, was die Genfer Konventionen vorsehen und was wir machen müssen. Und in dem Sinne ist es mir auch egal, wenn gewisse Medien, soziale Medien oder Kriegsparteien das nicht so toll finden: Ich glaube, in der Zwischenzeit haben sie auch gesehen, wie wichtig es ist, dass wir diese Kontakte haben. Das Zweite, das Sie jetzt ansprechen – Fehlinformationen und die sozialen Medien: Ich glaube, unter uns, wir wissen, dass, nachdem Kriege in den letzten 160 Jahren in der Luft, zu See und zu Land stattgefunden haben, sie heute auch im Space und im Cyberspace stattfinden. Das ist eine Thematik, die uns natürlich stark beschäftigt. Wir sind jetzt in diesem Ukraine-Konflikt vielleicht zum ersten Mal konfrontiert gewesen mit einer emblematischen Cyber-Desinformationsattacke.

Inwiefern?

Wir müssen lernen, mit diesen Cyber-Desinformationsattacken umzugehen. Wir ziehen Konsequenzen daraus: Wir müssen Kapazitäten haben. Wir müssen auch mit den Kriegsführenden darüber nachdenken, wie das humanitäre Völkerrecht in diesem Bereich respektiert werden kann: Also, was es im Cyberspace bedeutet. Daran hat das IKRK auch schon seit Jahren gearbeitet. Und wir sind ja in engem Kontakt mit Kriegsführenden, um ebenfalls sicherzustellen, dass wir ein minimales Verständnis davon haben, dass die Grundlagen des humanitären Völkerrechts auch im Cyberspace und im All gelten. In dem Sinne sind die sozialen Medien nicht vom Völkerrecht ausgeschlossen.

IKRK-Präsident Peter Maurer traf Russlands Außenminister Sergej Lawrow am 24. März in Moskau. Zuvor war er bereits in die Ukraine gereist. Ein Handshake-Bild mit Lawrow provozierte die Ukrainer. Während Maurer Treffen mit allen Kriegsparteien als Neutralität und Unparteilichkeit einer humanitären Organisation verteidigte, empfanden die Ukrainer es als Russlands Propaganda-Sieg: Es folgten heftige, bis heute nicht überprüfbare Vorwürfe.
IKRK-Präsident Peter Maurer traf Russlands Außenminister Sergej Lawrow am 24. März in Moskau. Zuvor war er bereits in die Ukraine gereist. Ein Handshake-Bild mit Lawrow provozierte die Ukrainer. Während Maurer Treffen mit allen Kriegsparteien als Neutralität und Unparteilichkeit einer humanitären Organisation verteidigte, empfanden die Ukrainer es als Russlands Propaganda-Sieg: Es folgten heftige, bis heute nicht überprüfbare Vorwürfe. Foto: Kirill Kudryavtsev/Pool AFP via AP/dpa

Sie sprechen sich stets für Geheimdiplomatie aus. Sie haben das bei der Pressekonferenz mit Lawrow auch wiederholt und um Verständnis gebeten: Sie dürften nicht über Vertrauliches sprechen. Ist Geheimdiplomatie im heutigen Zeitalter der sozialen Medien eigentlich noch möglich?

Ich denke, es muss möglich sein. Und ich glaube immer noch, dass es wichtig ist. Ich bin ja als IKRK-Präsident wahrscheinlich unter jenen Präsidenten, die stärker als ihre Vorgänger offen darüber kommuniziert haben, was wir tun. Ich habe einen großen Raum geöffnet, weil ich mir bewusst bin, dass wir nicht einfach alles hinter verschlossenen Türen machen können. Aber es gibt Bereiche, in denen Vertrauensbildung essenziell ist. Und Vertrauensbildung ist ungleich schwerer, wenn sie mit dem Kommentar von Millionen von Menschen geschieht – und wenn sie nicht mit den Kriegsparteien in einem geschützten Raum stattfindet.

Es geht nicht so sehr um Geheimdiplomatie, es geht mehr um den Schutz von Vertrauensräumen

Wie meinen Sie das?

Es geht nicht so sehr um Geheimdiplomatie, es geht mehr um den Schutz von Vertrauensräumen. Und dieser Schutz muss gewährleistet sein, sodass sich Positionen verändern und wir auch offen über unsere Beobachtungen im Feld berichten können und den Kriegsführenden eine Gelegenheit zur Besserung geben. Und Sie wissen selbst: Besserung auf Druck ist nur das zweit- oder drittbeste Besserungsinstrument: Besserung durch Einsicht ist immer noch das beste. Ich erachte Vertrauensbildung durch Räume von Vertraulichkeit als ganz essenziell.

Sie waren im März in Russland: Sehen Sie denn Besserung im Sinne des Humanitären oder ist es immer noch die gleiche sture, strategische, fast genozidale Politik, die dort betrieben wird?

Ich denke, wir sind heute tatsächlich mit den Kriegsführenden im Gespräch über zentrale Punkte, welche Verpflichtungen Kriegsführende gemäß Genfer Konventionen haben: An einzelnen Orten sehen wir Besserung. Wir reden über zivile Kriegsgefangene, Vermisste, Leichen-Austauschs und auch über „conduct of hostilities“ (Kriegsführung, Anm. d. Red.). Wir haben Tausende von Anfragen erhalten von Familien in Russland und aus der Ukraine: Sie suchen ihre Väter und Söhne. Wir konnten einige davon klären, weil wir systematisch Informationen darüber suchen, wer verschollen, wer tot ist und wer im Gefängnis sitzt. In dem Sinn haben wir Fortschritte im Dialog mit den Kriegsführenden, aber wir sind natürlich nicht an einem Ort angelangt, der uns befriedigt. Eines der großen Dilemmata, mit denen wir konfrontiert sind, ist natürlich die heutige Ungeduld, Verhaltensänderungen festzustellen: Sie ist riesig gegenüber der Geschwindigkeit, mit der die Verhaltensänderungen eingeführt werden. Es ist nicht das erste Mal, dass wir in einem Konflikt stehen, wo es teilweise Jahre dauert, bis wir beobachtbare Besserungen in der Kriegsführung feststellen.

Das schlimme Szenario vieler Analysten lautet: Der Krieg wird sehr lange dauern – Monate, vielleicht gar Jahre. Wie gefährlich sind verzweifelte Kriegsparteien? Es könnte ja je nach Kriegsverlauf einen Verlierer geben. Welche Erfahrung haben Sie mit Kriegsparteien, die in die Ecke gedrängt werden?

Ja, das ist wirklich … (sucht die richtigen Worte) Es gibt keine vernünftige humanitäre Antwort auf Ihre Frage. Es gibt Kriege, die enden mit der Vorherrschaft oder dem sogenannten Sieg der einen oder anderen. Wahrscheinlich sind die besten Szenarien von Krieg jene, in denen beide Seiten behaupten können, sie hätten gesiegt.

Haben Sie ein Beispiel im Kopf, wo das der Fall war?

Es gibt nicht viele solcher Beispiele, nein. Wenn Sie aber heute auf den Balkan blicken, dann haben wir eine Situation, die trotz aller Schwierigkeiten substanziell besser ist als jene von 1991 …

Es war aber noch ein langer Weg bis zum Friedensabkommen 1995 in Dayton …

1991 hatten wir in Bosnien und im Balkan die größte Operation des IKRK weltweit – heute haben wir noch acht oder zehn Leute, die sich mit Vermissten beschäftigen. In dem Sinn haben wir eine Mischung aus Pattsituation, Nicht-Verlieren, internationalem Engagement, Zukunftsperspektiven für alle: Das sind alles Elemente, über die wir eben diskutiert haben. Diese Mischung hat dazu geführt, dass heute ein gewisses Maß an Stabilität dort ist, das ich als besser erachte als das, was wir hatten. Wenn ich heute Ruanda nehme, würde ich auch meinen … (ringt mit den Worten) Die Situation schien ausweglos durch den Genozid – und Ruanda ist heute eines der florierendsten und stabilsten Länder in Afrika. Das Land hat es irgendwie geschafft, einen Sieg der einen Seite mit Versöhnungsarbeit zu kombinieren, dass eine gewisse Stabilität herrscht. Aber Sie wissen es auch: Es gibt keine Garantien dafür, dass, wenn Kriege sich verändern, sie sich auch im positiven Sinn verändern und nicht Jahre später wieder aufflammen.

Eines der aktuellen Argumente lautet, man dürfe keine der Kriegsparteien demütigen. Aus Ihrer Erfahrung: Ist das zutreffend? Das hat ja nicht unbedingt etwas mit Vertrauensbildung zu tun, sondern damit, einen Schritt weiterzugehen und zu und sagen: „Wir machen das mit Russland jetzt so, dass das nicht mehr vorkommt.“

Es ist ein ganz wichtiges Element, das an der Basis des humanitären Völkerrechts liegt. Wenn Sie die Bestimmungen der Genfer Konventionen nehmen, dann sehen Sie, wie wichtig diese rechtlichen Bestimmungen sind: Ein Beispiel ist, im Individuellen oder Kollektiven Gefangene nicht in der Öffentlichkeit zu zeigen.

Die Verschwundenen, die Sicherheit für Familien, die Kriegsgefangenen, die Vertrauensbildung über den Austausch von Kriegsgefangenen, die Rückführung von Toten zu ihren Familien – das sind alles Akte der Humanität, die auch über den Krieg hinaus wichtig sind

Was ist für Sie besser: Ein sehr, sehr schlechter Frieden oder ein gut geführter Krieg nach den Genfer Konventionen?

(denkt nach) Ja, es ist eine Alternative, zu der ich an und für sich nicht viel zu sagen habe. Weil: Der Entscheid liegt ja nicht bei mir. In dem Sinne ist meine realistische Variante, dass wir alles daransetzen werden, dass, solange dieser Krieg dauert, das humanitäre Völkerrecht respektiert wird. Und dass es auch über diesen Krieg hinaus als gestaltende Kraft in einer Friedenslösung akzeptiert wird. Deshalb ist es besonders interessant zu sehen, welches die fünf, sechs wiederkehrenden Probleme in Konflikten sind: also wiederkehrende Themen, bei denen es wichtig ist, dass wir uns durchsetzen können, auch wenn es zum Teil Zeit braucht. Da wären: Die Verschwundenen, die Sicherheit für Familien, die Kriegsgefangenen, die Vertrauensbildung über den Austausch von Kriegsgefangenen, die Rückführung von Toten zu ihren Familien – das sind alles Akte der Humanität, die auch über den Krieg hinaus wichtig sind. Darum beschäftigen wir uns ja noch heute zwischen Irak und Iran, zwischen Irak und Kuwait und an anderen Orten der Welt – z.B. auf dem Balkan – mit Themen, die lange zurückliegen. Die aber zeigen, wie wichtig dieses Recht ist und wie wichtig es ist, eine Perspektive in den Frieden hinüberzuretten.

Sie sprechen viele Konflikte an: Welche Konflikte sind neben dem Ukraine-Krieg fast genauso gefährlich, dass sie die globale Lage destabilisieren könnten?

Das eine ist die Gefährlichkeit der Konflikte. Wir sind etwa in 50 Konflikten tätig. Da gibt es keine Hitliste. Das andere sind vielleicht jene Konflikte, die auch globalpolitisch eine größere Bedeutung haben, so wie die Ukraine: Da bleiben für mich Afghanistan, Syrien, Äthiopien und die Ukraine. Das sind vielleicht jene Konflikte, in denen sich humanitäre sowie politisch-strategische Probleme kreuzen – und daher auch in der Öffentlichkeit eine ganz andere Dimension einnehmen als die sogenannten vergessenen Konflikte, wo die Zivilbevölkerung zwar viel Leid erfährt, aber weniger Aufmerksamkeit erhält.

Zur Person

Dr. Peter Maurer ist Schweizer Diplomat und amtierender Präsident des „Internationalen Komitees vom Roten Kreuz“ (IKRK). Maurer wurde 1956 im Deutschschweizer Thun geboren. In Bern studierte er Geschichte und internationales Recht und promovierte dort zur Frage der Schweizer Lebensmittelversorgung während des Zweiten Weltkriegs. Ab 1987 war Maurer im Dienst der Schweizer Diplomatie unterwegs. Nach Bern und Pretoria wurde er 1996 stellvertretender ständiger Beobachter der Mission der Schweiz bei der UNO in New York. 2000 kam der nächste Wechsel: Er wurde zum Botschafter und Leiter der Abteilung Menschliche Sicherheit in der Politischen Direktion des Schweizer Außenministeriums – das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten – ernannt.
Was in Vergessenheit gerät: Die Schweiz wurde erst 2002 Mitglied der Vereinten Nationen. Maurer wurde im Zuge dessen 2004 Botschafter und ständiger Vertreter der Schweiz bei der UNO: dies, um das Land, dessen Neutralität eine variable Geometrie kennzeichnet, in die supranationale und multilaterale Organisation einzubinden. 2010 wurde Maurer Staatssekretär für auswärtige Angelegenheiten in Bern: Er übernahm die interne Leitung des Außenministeriums, das fünf Direktorate und weltweit rund 150 diplomatische Vertretungen zählt. 2012 hat Maurer das Amt des Präsidenten des „Internationalen Komitees vom Roten Kreuz“ von Jakob Kellenberger übernommen. Das Tageblatt interviewte Kellenberger 2011: Der Unterschied zwischen beiden Präsidenten ist sehr stark ausgeprägt. Während Kellenberger jedes Wort auf eine mögliche politische Komponente prüfte, hat Maurer einen direkteren und lockereren Kommunikationsstil, wie er auch im vorliegenden Interview sagt.

Was ist das Rote Kreuz?

Alles beginnt mit der Schlacht bei Solferino am 24. Juni 1859: Sie ist neben Waterloo eine der blutigsten, die es bis dato gegeben hatte – über 40.000 Soldaten und Offiziere wurden getötet, verwundet oder galten als verschollen. Der Genfer Kaufmann Henry Dunant befand sich damals auf dem Kriegsschauplatz. Als er begriff, dass man Tausende Verletzte hilflos zurückgelassen hatte, organisierte er Hilfsaktionen für alle (!) Verwundeten, unabhängig von ihrer Nationalität. 1862 hielt Dunant die Ereignisse in „Eine Erinnerung an Solferino“ fest. Darin forderte er ein internationales Abkommen zum Schutz der Kriegsopfer. Außerdem schlug er vor, in allen Ländern „Hilfsgesellschaften“ zu gründen: Die Grundidee für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) war gelegt. Durch sein Vorpreschen kam es 1864 zur Annahme der ersten Genfer Konvention, die seitdem mehrmals ergänzt wurde: Die Genfer Konventionen bilden die Basis des internationalen Völkerrechts und bestimmen genau, wie mit Soldaten, Flüchtlingen und anderen Kriegsakteuren humanitär umzugehen ist. Bereits in der ersten Konvention wurden zentrale Aspekte fixiert, wie das IKRK selbst beschreibt: „Darin wurden die Armeen verpflichtet, sich um verwundete Soldaten zu kümmern; unabhängig von ihrer Kriegspartei-Zugehörigkeit. Außerdem wurde ein einheitliches Emblem für den Sanitätsdienst geschaffen: ein rotes Kreuz auf weißem Grund.“ Die Idee hinter dem Roten Kreuz ist, als neutraler Vermittler und Wahrer der Genfer Konventionen auf den internationalen Kriegsschauplätzen zu fungieren. Die Organisation wird wegen ihrer Neutralität regelmäßig von Kriegsparteien kritisiert. Während diese Haltung oft humanitäres Leid lindern kann, zeigt der Zweite Weltkrieg, dass das Selbstverständnis auch Grenzen haben kann. Das IKRK schreibt in seiner eigenen historischen Aufarbeitung: „In diese Zeit fällt aber auch das größte Versagen des IKRK: seine Untätigkeit in Bezug auf die Opfer des Holocaust und anderer verfolgter Gruppen. Aufgrund fehlender rechtlicher Grundlagen, des Festhaltens an traditionellen Vorgehensweisen und seiner eingeschränkten Handlungsfähigkeit – infolge seiner Verbindung mit den Schweizer Institutionen – war das IKRK nicht in der Lage, aktive Schritte zu ergreifen oder seine Stimme zu erheben. Einzelne IKRK-Delegierte waren auf sich allein gestellt, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um jüdische Personen zu retten.“ Die Monde-Korrespondentin Isabelle Vichniac schrieb in einem Gastbeitrag für die Neue Zürcher Zeitung, die Geschichte des IKRK entbehre nicht dunklen Flecken, aber: „Das Gesamtbild jedoch wird zweifellos dominiert von blutigen Konflikten, in denen das Rote Kreuz Effizienz und Mut bewiesen hat, sogar wenn es mit Situationen konfrontiert war, in denen die Diplomaten und andere humanitäre Organisationen aufgegeben hatten.“