InterviewBelarussische Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja begrüßt EU-Sanktionen gegen Lukaschenko-Regime

Interview / Belarussische Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja begrüßt EU-Sanktionen gegen Lukaschenko-Regime
Swetlana Tichanowskaja im Gespräch mit Guy Kemp © Foto/Fabrizio Pizzolante

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Swetlana Tichanowskaja ist im Zuge der manipulierten Präsidentschaftswahlen und der gewaltsamen Niederschlagung der friedlichen Proteste in Belarus zur Ikone des Widerstands gegen den letzten Diktator Europas, Alexander Lukaschenko, geworden. Vor der Verhängung neuer Sanktionen gegen Lukaschenkos Regime war die 38-Jährige gestern Morgen Gast beim Treffen der EU-Außenminister auf Kirchberg in Luxemburg. Bei dieser Gelegenheit führten wir folgendes Gespräch mit Swetlana Tichanowskaja.

Tageblatt: Als was treten Sie hier vor den EU-Außenministern auf: als Politikerin, engagierte Bürgerin, Freiheitskämpferin, …?

Swetlana Tichanowskaja: In Belarus weiß jeder, für wen er im August gewählt hat. Ich kann mich als gewählte Präsidentin bezeichnen. Ich kann mich auch Führerin eines demokratischen Belarus nennen oder was auch immer, es ändert nichts. Lukaschenko behauptet zwar, er sei Präsident, er ist es aber nicht, und jeder weiß das. Ich bin eine Bürgerin, die alles tut, was sie kann, um einen demokratischen Wandel in unserem Land herbeizuführen. Das Gleiche tun all die anderen Menschen. Sie haben mir dieses Mandat gegeben, um sie auf internationaler Ebene zu repräsentieren, und ich tue mein Bestes. Einige schreiben den politischen Gefangenen Briefe oder geben deren Angehörigen Geld, um ihnen zu helfen, andere schreiben Artikel über die Situation in Belarus: Jeder tut etwas Kleines, aus dem etwas Großes entsteht.

Die EU-Außenminister kündigten eine Reihe von Sanktionen gegen das Regime in Belarus an. Was erwarten Sie von ihnen und was würden Sie ihnen empfehlen?

Wir sind dankbar für die Sanktionen, denn seit August haben wir über viele diplomatische Wege versucht, auf Lukaschenko einzuwirken: die OSZE, die UNO und viele andere Organisationen und Vermittler. Doch wir hatten keinen Erfolg. Das Regime gab keine Antwort, sondern eskalierte die Gewalt. Wir sehen die Sanktionen als den einzigen Hebel, um von außen Druck auf Lukaschenko auszuüben. Im Land tun die Leute alles, was sie können. Aber vonseiten der Europäischen Union, vor allem nach dem Fall mit dem Flugzeug, ist es evident, dass der Druck konkreter werden muss. Meine Botschaft gegenüber den Ministern war, konsequent zu sein. Wir wissen, dass Lukaschenko im Rahmen der Sanktionen versucht, sein Spiel mit den politischen Gefangenen zu machen. Er kann zehn oder hundert Menschen freilassen, doch die EU sollte nicht auf sein Spiel eingehen. Sie sollte die Sanktionen beibehalten, bis alle politischen Gefangenen frei sind und es Neuwahlen gibt. Diese Bedingungen müssen erfüllt sein, bevor Sanktionen aufgehoben werden.

21062021, Luxembourg-Kirchberg, European Convention Center Luxembourg, Place de l'Europe 4, Portraits de Svetlana Tichanowskaja (Militante des droits civiques), © Editpress/Fabrizio Pizzolante
21062021, Luxembourg-Kirchberg, European Convention Center Luxembourg, Place de l'Europe 4, Portraits de Svetlana Tichanowskaja (Militante des droits civiques), © Editpress/Fabrizio Pizzolante © Foto/Fabrizio Pizzolante

Glauben Sie, dass Sanktionen der EU sowie anderer Staaten Lukaschenko wirklich zum Einlenken bringen könnten?

Sehen Sie, Lukaschenkos Macht stützt sich auf Gewalt und Geld. Wenn wir ihm einen dieser Pfeiler wegnehmen, wird der zweite auch fallen. Es geht nicht allein um Sanktionen, damit erreichen wir nicht alles. Es ist zuvorderst auch die Verantwortung der belarussischen Bevölkerung, die im Land selbst und im Exil kämpft. Ich fordere eine gemeinsame Aktion. Die USA werden sich den Sanktionen anschließen, hoffe ich, die EU, Kanada, Großbritannien, die Ukraine: Wenn wir das alles zusammenbringen, wird unsere Stimme stärker. Ich schätze diesen schwierigen Schritt der Europäischen Union, diese Sanktionen zu verhängen. Wenn diese Schritte Lukaschenko nicht in dem Sinne beeinflussen, wie wir es wollen, wie etwa die Freilassung der politischen Gefangenen, sind weitere Schritte nötig. Ich sagte den Ministern aber auch, dass wir den Menschen in Belarus eine positive Botschaft hinsichtlich ihrer Zukunft übermitteln müssen. Während 26 Jahren redete Lukaschenko uns ein, dass wir kein Leben ohne ihn hätten. Die EU muss zeigen, dass sie weiter da sein wird und die Menschen unterstützt. Damit sie verstehen, dass die Welt nicht ruiniert ist.

Nach all dem, was seit dem vergangenen August geschehen ist – die gewaltsame Niederschlagung der friedlichen Proteste, die Inhaftierung hunderter Bürger, die Folterungen –, kann Lukaschenko noch glaubwürdig mit der Opposition verhandeln?

Lukaschenko ist nicht der Präsident unseres Landes. Es gibt andere Repräsentanten des Regimes. Die sind jetzt vielleicht loyal gegenüber Lukaschenko, aber sie verstehen, dass er unmöglich die Zukunft des Landes sein kann. Die werden am Verhandlungstisch sitzen. Lukaschenko ist nur eine Person. Es gibt Leute im Regime, die ebenfalls Veränderungen wollen. Es gibt keine Einigkeit in der Nomenklatura. Die Leute können nicht unter solchen Bedingungen arbeiten: Sie sind eingeschüchtert, es gibt Druck von der EU und jeder will, dass sich unser Land entwickelt. Die Nomenklatura ebenso wie die Bereitschaftspolizei, es gibt mehr Sklaven in diesem Regime als gewöhnliche Leute. Es wird gesagt, dass es leicht ist, Teil des Regimes zu werden, aber unmöglich wieder herauszukommen. Sanktionen werden Einfluss auf die Unternehmen haben. Die könnten den Dialog mit Vertretern der Zivilgesellschaft und der Europäischen Union suchen. Das könnte der Beginn eines Dialogs sein, der am Ende auf internationaler Ebene geführt wird, mit Vertretern des Regimes und aus Russland. Es geht nicht um Lukaschenko, es geht um die Menschen.

Wir wissen nicht, wie lange der russische Präsident unseren Diktator noch unterstützt. Doch Lukaschenko ist auch für sie ein Problem.

Wie stark ist Lukaschenko vom russischen Präsidenten Wladimir Putin abhängig, um sich an der Macht zu halten?

Die beiden haben eine sehr merkwürdige Beziehung. Sie können sich auf einer persönlichen Ebene gegenseitig unterstützen. Aber, der russische Präsident muss den Belarussen zuhören, nicht nur einer Person. Und wir wollen Veränderungen. Wir wollen Freunde mit Russland sein, wir wollen, dass die Handelsbeziehungen weitergehen und sich sogar weiterentwickeln. Doch wir wollen, dass sie transparent und klar sind. Wir wissen nicht, wie lange der russische Präsident unseren Diktator noch unterstützt. Doch Lukaschenko ist auch für sie ein Problem. Sie wollen das Problem beheben, doch sie wissen nicht wie. Es geht nicht um Russland, es geht um das Regime. Wir wollen leben, wir suchen keine Feinde.

Wie groß ist die Gefahr, dass Belarus ein Teil von Russland wird?

Die Tiefe der Integration zwischen Belarus und Russland ist bereits groß. Der nächste Integrationsschritt wäre ein Verlust der Unabhängigkeit. Das würden die Leute bekämpfen. Ich glaube nicht, dass Russland eine kriselnde Region will. Das ist kein Ausweg für Russland. Denn die Leute werden für die Unabhängigkeit einstehen. Deshalb ermahnen wir die Minister, dass alle Abkommen zwischen Putin und Lukaschenko illegitim sind. Er hat kein Recht, das belarussische Volk zu vertreten.

Ich will, dass jeder unseren künftigen Präsidenten mag, da er sich um die Leute kümmert und nicht um sich selbst
 © Foto/Fabrizio Pizzolante

Welches Gefühl hinterlässt es bei Ihnen, wenn Sie Ihre Landsleute zu Demonstrationen aufrufen und Sie wissen, was passieren kann?

Das ist ein schreckliches Gefühl! Ich sage immer: Es ist eure Entscheidung. Ich sage nie: Geht auf die Straße. Aber ich schätze ihre Stärke, wenn sie raus auf die Straße gehen. Denn ich weiß, dass sie möglicherweise am Abend nicht nach Hause kommen und dass sie zu jedem Moment festgenommen werden können.

Wenn Sie zurückdenken an Ihr Leben vor einem Jahr, hatten Sie sich erwartet, dass es eine solche Wendung nehmen würde?

Natürlich nicht. Ich war eine Hausfrau. Und es ist wirklich schwer, in einer so kurzen Zeit eine Politikerin zu werden. Ich war nicht darauf vorbereitet. Ich habe so viele wunderbare Lehrer. Jeder Minister ist mein Lehrer. Ich werde aber nicht an künftigen Wahlen teilnehmen. Wir haben viele wunderbare Leute in Belarus, die Präsident werden können. Ich werde so lange bei den Menschen sein, wie sie mich brauchen. Man muss nicht unbedingt Präsident sein, um seinem Land zu dienen. Heute ging ich mit dem luxemburgischen Premierminister durch die Stadt und es war großartig zu sehen, dass er jeden grüßt. Die Leute sind zufrieden. Das will ich in meinem Land, nicht umgeben sein von Sicherheitskräften, da sie wissen, dass sie keine Unterstützung haben. Ich will, dass jeder unseren künftigen Präsidenten mag, da er sich um die Leute kümmert und nicht um sich selbst.

HTK
23. Juni 2021 - 9.25

Pass auf Swetlana. Luka hat sich gestern mit Putin zur Beratung zurückgezogen.

Claude Oswald
22. Juni 2021 - 11.50

Ich bin kein Anhänger von Lukaschenko. Aber ich bin der Meinung, die Weißrussen sollten gut aufpassen, dass sie nicht von der EU, von den USA oder von deren Marionetten über den Tisch gezogen werden.