ÖsterreichAkutes Demokratiedefizit: Ein Drittel der Wiener von Wahlen ausgeschlossen

Österreich / Akutes Demokratiedefizit: Ein Drittel der Wiener von Wahlen ausgeschlossen
Die Wiener Staatsoper am Abend: schöne Stadt, aber demokratisch etwas problematisch Foto: dpa/Robert Michael

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Die Zwei-Millionen-Stadt Wien hat ein ähnliches Problem wie Luxemburg. Die im Oktober anstehenden Wahlen können nur bedingt als demokratisch gelten: Fast ein Drittel der hier lebenden Menschen dürfen mangels österreichischer Staatsbürgerschaft gar nicht abstimmen.

Germain Weber lebt seit 1974 in Österreich, war bis 2016 Dekan der psychologischen Fakultät an der Uni Wien, ist seit 2004 Präsident der karitativen Organisation „Lebenshilfe“ – und zählt zur dünnen Schicht der privilegierten Migranten: Der Luxemburger hat als Doppelstaatsbürger nicht nur in seiner Heimat das uneingeschränkte Wahlrecht, sondern auch in Österreich. Das resultiert allerdings nicht aus klaren rechtlichen Rahmenbedingungen, sondern vielmehr aus dem Fehlen solcher: Als Weber 1986 an die Uni Wien kam, war Österreich noch nicht EU-Mitglied und die alpenrepublikanische Staatsbürgerschaft Bedingung für einen Hochschuljob.

Da für Luxemburger immer eine spezielle Willkommenskultur herrschte, war das kein Problem: „Ich habe die Staatsbürgerschaft mit der Anstellung an der Uni Wien quasi mitbekommen“, so Weber zum Tageblatt. Damit hätte er allerdings gemäß österreichischem Recht seine alte Staatsbürgerschaft zurücklegen müssen. Weil es aber kein entsprechendes bilaterales Abkommen mit Luxemburg gab, durfte Weber seinen heimatlichen Pass einfach behalten und ist heute, wie er sagt, „durch die Doppelstaatsbürgerschaft voll eingebunden“.

Ein Luxemburger als seltene Ausnahme

Davon können Menschen mit Migrationshintergrund in Österreich meist nur träumen. Denn Germain Weber ist nur eine der seltenen Ausnahmen, die die Regel des Ausschlusses von Zuwanderern vom demokratischen Prozess nur bestätigen. Besonders krass wirkt sich das in der Bundeshauptstadt aus, wo am 11. Oktober ein neuer Landtag, Gemeinderat und damit indirekt auch der Bürgermeister gewählt werden.

Von den 1,9 Millionen in Wien lebenden Menschen sind aber nur 1,36 Millionen voll wahlberechtigt. Die Differenz ergibt sich zum geringsten Teil aus der Altersgrenze von 16 Jahren. Nur etwa 70 Prozent der Menschen im wahlfähigen Alter besitzen die österreichische Staatsbürgerschaft und sind damit auf allen Ebenen wahlberechtigt. Mehr als 16 Prozent haben als Bürger eines Drittstaates überhaupt kein Wahlrecht, auch wenn viele von ihnen schon lange in Wien wohnen. Rund 13 Prozent sind als EU-Bürger zumindest auf der Bezirksebene wahlberechtigt. In Summe hat fast ein Drittel aller „Wiener“ gar kein oder ein nur sehr beschränktes Wahlrecht.

Wahl-Wiener ohne Wahlrecht

Einer von ihnen ist Dirk Sterman. Der vor 32 Jahren als „Numerus-Clausus-Flüchtling“ nach Wien gekommene Deutsche ist heute einer der bekanntesten Kabarettisten Österreichs. Er würde am 11. Oktober auch gerne darüber mitbestimmen, ob die mit den Grünen koalierende SPÖ weiterhin stärkste Kraft im Rathaus bleibt. Doch außer auf Bezirksebene bleibt ihm als deutschem Staatsbürger das Wahlrecht verwehrt. Dennoch hat der 54-jährige Wahl-Wiener seine Stimme schon abgegeben – allerdings nur im Rahmen der bereits laufenden „Pass-egal-Wahl“, mit der die NGO „SOS Mitmensch“ auf das demokratische Defizit beim anstehenden Urnengang aufmerksam machen will.

So eine Wahl der Ausgeschlossenen hatte es auch vor der Nationalratswahl im vergangenen Herbst gegeben – mit einem völlig anderen Ergebnis als bei der regulären Wahl: Die ÖVP von Kanzler Sebastian Kurz scheiterte ebenso wie die FPÖ an der Vier-Prozent-Hürde, während die Grünen mit 51,5 Prozent die „Absolute“ holten und auch die SPÖ mit 27,4 Prozent deutlich besser als im richtigen Leben abschnitt.

Aussichtsloser Kampf

Bei 2.900 abgegebenen Stimmen spiegelt diese Wahl das imaginäre Wahlverhalten der Migrationsgemeinde sicher nicht repräsentativ wider, der Vorsprung von Grünen und SPÖ ist aber kein Wunder: Die Grünen kämpfen energisch seit Jahren für die wahlrechtliche Gleichstellung aller länger in Wien lebenden Menschen. Die SPÖ von Bürgermeister Michael Ludwig befürwortet das Wahlrecht für Ausländer auch, allerdings mit Blick auf die eigene, nicht nur ausländerfreundliche Parteibasis nicht allzu laut. Schon im Jahr 2002 war ein rot-grüner Landtagsbeschluss, mindestens fünf Jahre hier lebende Nicht-EU-Ausländer zumindest in den Bezirken das Wahlrecht zu geben, am Verfassungsgerichtshof gescheitert.

Demnach erfordert eine Ausweitung des Ausländerwahlrechts eine Änderung der Bundesverfassung, die nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Nationalrat zu erreichen wäre. Damals wie heute eine Utopie. Sowohl die FPÖ als auch der nach dem Ibiza-Skandal nun mit einer neuen Partei antretende Ex-FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache spielen im Wahlkampf auf der xenophoben Klaviatur. Die FPÖ-Slogans lauten „Unser Daham“ und „Wir Wiener zuerst“, wobei nach rechtspopulistischer Lesart Zuwanderer natürlich nicht als echte Wiener durchgehen. Auch die ÖVP matcht sich gerade auffallend eifrig mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und dessen Wiener Botschafter Ocan Ceyhun. Über ein Wahlrecht für Tausende oft seit Jahrzehnten hier lebende Türken wird nicht einmal nachgedacht.

SPÖ sieht das Problem

Der Bürgermeisterpartei ist die Dringlichkeit einer Lösung bewusst. „Wir sehen in der wachsenden Lücke zwischen Wohnbevölkerung und Wahlberechtigten ein großes demokratiepolitisches Problem“, so Integrationsstadtrat Jürgen Czernohorszky zum Tageblatt. Weil eine Wahlrechtsänderung unrealistisch ist, setzt die SPÖ auf einen einfacheren Zugang zur Staatsbürgerschaft. Cernohorszky: „Wir wollen ein modernes Staatsbürger/innen-Recht, das schneller und einfacher Teilhabe ermöglicht und das nicht zwischen arm und reich trennt.“ Doch auch das ist illusorisch: Österreich ist in Sachen Staatsbürgerschaft eines der restriktivsten Länder in der EU. Daran änderte bislang auch die Regierungsbeteiligung der Grünen nichts. Mit der ÖVP ist in dieser Hinsicht nichts zu machen.

Damit wird auch Germain Webers Anliegen ein frommer Wunsch bleiben: „Ich denke, dass EU-Bürger, die über eine Mindestanzahl von Jahren in einem anderen EU-Land leben, vollen Zugang zu Wahlen in ihrem neuen EU-Land haben sollten. Alles andere trocknet das Interesse an der Politik dieser Menschen aus, und die EU verliert insgesamt an in Demokratien engagierten Bürgerinnen und Bürgern!“