Bestehen für Luxemburg genaue Angaben über den Anteil von Kindern mit Lern- und Schreibstörungen?
" class="infobox_img" />Zur Person
Diane Dhur arbeitete während 13 Jahren als Lehrerin in Roodt/Syr. Ihrer Ausbildung als Lehrerin am Iserp waren vier Jahre Beschäftigung in einer Bank vorausgegangen.
Seit zehn Jahren ist sie Schulinspektorin, zuerst während drei Jahren in Differdingen und Schifflingen, seit nunmehr sieben Jahren in Mersch.
2006 schloss sie ihre Masterarbeit ab. Titel: „Erfolgreiche Konzepte der LRS-Förderung“. In ihrer Inspektorinnen-Arbeit befasste sie sich mit „Dyskalkulie in der Grundschule – eine Analyse mit Fördermöglichkeiten im schulischen Kontext“.
Diane Dhur: „Mit Prozentzahlen muss man vorsichtig sein. Es gibt Studien, die auf 5 bis 10 Prozent Schüler mit LRS kommen. Dieselben Angaben bestehen für Dyskalkulie (Schwierigkeiten beim Rechnenlernen). Vieles hängt von den angewandten Tests ab, welche in Form von Screenings vorgenommen werden. Das Ergebnis können dann höhere oder niedrigere Prozentanteile sein.
In Luxemburg wird nicht systematisch getestet. In Frankreich und Deutschland wird das periodisch getan. Dabei werden ganze Schulklassen geprüft. Kinder mit Problemen werden dann herausgefiltert, um sie gezielt zu fördern. Das hat Vor- und Nachteile.“
Wie werden in Luxemburg Kinder mit LRS identifiziert? Wartet man auf Reaktionen der Eltern, die beim Lehrer vorsprechen?
„Die Hauptaufgabe kommt dem Lehrer zu. Er kennt den Lese- und Schreiblernprozess, wie er sich aufbaut und die respektiven Stufenmodelle, die aus der Forschung entwickelt wurden. Er erkennt, wenn ein Kind zu lange auf einer Stufe verweilt und nicht fortschreitet. Natürlich lernen Kinder unterschiedlich schnell. Und man sollte nicht gleich in Panik verfallen, wenn es nicht so glatt läuft. Doch der Lehrer reagiert, wenn Auffälligkeiten festgestellt werden, ein Schüler näher beobachtet werden muss, um gezielt gefördert zu werden.
Es gibt natürlich auch Eltern, die selbst tätig werden. Und dabei dann manchmal auf private Institute zurückgreifen, die entsprechende Lösungen anbieten. Doch sollte man da vorsichtig sein. Diese Einrichtungen verdienen recht gut mit ihren Lösungen. Sie bieten jedoch oftmals nur eine Lösung für ein klar identifiziertes Problem an. Aus der Wissenschaft wissen wir jedoch, dass bei LRS viele Faktoren mitspielen und dass es keine einfache Lösung gibt; genauso wenig wie es eine Pille gegen LRS gibt.“
Wann werden in der Regel LRS-Probleme bei Kindern festgestellt? In den ersten Schuljahren?
„Ja, oftmals auch schon früher. Im ersten Zyklus der Spielschule. Um Lesen und Rechnen zu lernen, bedarf es Vorläuferfertigkeiten. Erzieher stellen dann manchmal fest, dass diese Basiskompetenzen fehlen. Da kann man schon im Zyklus 1 gezielt einwirken.“
Sind unsere Erzieher und Lehrer ausreichend qualifiziert und ausgebildet, um LRS-Probleme rechtzeitig zu erkennen?
„Bereits in der Grundausbildung lernen die zukünftigen Lehrer, was die Basiskompetenzen und Vorläuferfertigkeiten der Kinder sein müssen. Sie lernen auch, wie sich der Schreib- und Lernprozess entwickelt. Ich persönlich bin aber der Ansicht, dass man da noch weit mehr tun müsste. Aber das wird immer von der Grundausbildung gefordert. Diese gibt derzeit den angehenden Lehrkräften einen Überblick über Problemfelder. Am einzelnen Lehrer ist es dann, sich weiter zu spezialisieren. Wir haben festgestellt, dass in den letzten Jahren Lehrer ihren Master in diesem Bereich absolviert haben. Lernstörungen gehören zu den Themen, die ebenfalls in der beruflichen Weiterbildung für Lehrerinnen und Lehrer angeboten werden.“
Haben Sie in den letzten Jahren eine Zunahme von Kindern mit Lern- und Rechtschreibschwierigkeiten festgestellt? Und wenn ja, ist das auf intensivere Früherkennung durch die Lehrkräfte zurückzuführen?
„Uns liegen im Ministerium dazu keine Angaben vor. Die Lehrer stellen jedoch eine Zunahme von Lernstörungen und Verhaltensauffälligkeiten fest. Das ist meines Erachtens u.a. auf die andere Lebensart der modernen Gesellschaft zurückzuführen. Eltern haben selbst viel Stress, sind einem größeren Druck ausgesetzt, haben nicht immer die nötige Zeit für ihre Kinder. Es wird nicht mehr so viel gelesen. Wir stellen eine Zunahmen des digitalen Konsums bei den Kindern fest, der oftmals erschreckend früh einsetzt. Ein Handy in der Spielschule ist keine Ausnahme mehr. Das alles führt sicherlich nicht zu einer besseren Konzentration bei den Kindern. So dass man wohl davon ausgehen kann, dass die Zahlen von LRS-Fällen nicht rückläufig sind.
Eine wichtige Rolle kommt in diesem Zusammenhang auch den Eltern zu. Ich möchte jedoch betonen, dass sie nicht als Zusatzlehrer herhalten sollen. Sie sollen nicht das aufarbeiten, was nicht in der Schule gemacht werden konnte. Dennoch können sie sehr viel tun, um ihre Kinder zu fördern. Das beginnt bereits beim Reden. Man sollte viel mit seinem Kind reden, sich mit ihm darüber unterhalten, was in der Schule los war. Und natürlich lesen. Studien zu Projekten, bei denen Schulen den Kindern Bücher mit nach Hause gaben, um den Eltern vorzulesen, ergaben, dass sich die Lesefähigkeit dieser Kinder schneller verbessert hat als die jener Kinder, die lediglich an einer Leseförderung in der Schule teilgenommen haben.“
Vermutlich, weil die Atmosphäre zu Hause entspannter ist …
„Natürlich spielen Motivation und die Emotionen eine große Rolle. Diese Fragen sprechen die Lehrer auch bei den Bilanzgesprächen mit den Eltern an. Oftmals fragen die Eltern selbst, wie sie sich einbringen können. Das ist häufig wirksamer als lange Therapiestunden.“
Was geschieht konkret, wenn ein Lehrer bei einem Kind LRS-Probleme feststellt?
„Als Erstes wird der Lehrer das Kind genauer beobachten. Relativ schnell wird er sich dann mit seinen Kollegen beraten. Verschärft sich das Problem, wird auf Schulebene nach einer Lösung gesucht. Kinder mit ähnlichen Problemen können in Gruppen zusammengefasst werden, um ihnen gezielt eine Förderung zukommen zu lassen. Wenn auch das nicht reicht, wird der Schulinspektor eingeschaltet und wir erörtern individuelle Lösungsmöglichkeiten. Spezialisierte Lehrer können dann Sonderförderstunden geben.“
Können Kinder mit LRS nach entsprechenden Stützkursen wieder zu ihren Schulkameraden aufschließen?
„Ich wage zu behaupten, ja. Die Probleme fallen zu Beginn in den ersten Schuljahren am meisten auf, weil diese vor allem auf das Lese- und Schreibenlernen ausgelegt sind. Auf den späteren Schulzyklen werden jedoch ebenfalls andere Fähigkeiten angesprochen. Da geht es um Argumentieren, Schlussfolgerungen ziehen, andere Fähigkeiten also, die diese Kinder ja haben, sie sind ja nicht weniger intelligent als ihre Schulkameraden. Und hier können sie glänzen. Natürlich bleiben die Probleme mit der Rechtschreibung. Die verschwinden nicht einfach so. Man kann sich jedoch mit Hilfsmitteln helfen, etwa mit Rechtschreibprogrammen. Man kann Strategien erlernen, um diese Probleme zu überbrücken. Natürlich werden diese Kinder später nicht alle Berufe erlernen können, aber die Berufswelt steht ihnen dennoch weit offen.“
In anderen Worten, ein Kind mit LRS ist nicht weniger intelligent und begabt als ein anderes. Es hat eben nur in einem bestimmten Bereich Schwierigkeiten.
„Ja, genau. Mit dem kompetenzorientierten Unterricht haben wir etliche Fortschritte zugunsten der Kinder gemacht. Da fragt man zum Beispiel das Kind, ein Erlebnis zu beschreiben. Rechtschreibung ist dabei nur ein Aspekt von vielen anderen, die genauso wichtig sind. Wenn man Wörter richtig schreiben kann, ein Erlebnis jedoch nicht erzählen kann, hat man ebenfalls Probleme.“
Eine der Besonderheiten der Luxemburger Schule ist, dass sie Kinder aus vielen unterschiedlichen kulturellen Kreisen zusammenbringt. Kinder aus minderbemittelten Schichten sind objektiv benachteiligt, weil die Eltern weniger Zeit für ihre Kinder haben, seltener mit ihnen lesen. Fallen Kinder aus diesen Schichten nicht eher durchs Netz als Kinder aus besser gestellten Luxemburger Familien?
„Das ist nicht nur eine Frage des kulturellen und sprachlichen Hintergrundes. Wobei es auch Kinder aus Luxemburger minderbemittelten Haushalten gibt, die dieselben Probleme haben. Das kann man nicht nur auf kulturelle Unterschiede reduzieren. Studien haben ergeben, dass der soziale Hintergrund eine weit größere Rolle spielt als die Nationalität. Ein Kind ist in unserem Schulsystem weit stärker benachteiligt, wenn es aus einem niedrigen soziokulturellen Milieu stammt, als wenn es bloß eine andere Nationalität hat. Die Schule hat leider noch nicht immer die richtigen Antworten. Und Luxemburg steht in dieser Beziehung im internationalen Vergleich nicht sehr gut da. Obwohl man sich bemüht. So sollen die ‚Maisons relais‘ da Verbesserungen bringen. Aber es bleibt schwierig.“
Wie wirkt sich LRS auf das Verhalten der Kinder aus? Werden sie gehänselt?
„Wir haben glücklicherweise andere Unterrichtsmethoden. Früher wurden sehr viele Diktate gemacht, beispielsweise. Das war sehr frustrierend für Kinder mit LRS. Andererseits erfolgt der Unterricht heute sehr differenziert. Es wird ein größerer Wert auf Unterrichtsformen wie Gruppenarbeiten gelegt, wo die Kinder miteinander kooperieren. Die Leistungen der Kinder können auch nicht mehr direkt verglichen werden, wie das etwa früher der Fall mit den Punkten auf dem Zeugnis der Fall war. Und auch hier spielt der Lehrer eine große Rolle. Er muss vermitteln, dass jedes Kind seinen eigenen, anderen Schulweg geht, und der Lehrer begleitet es. Alle haben Schwächen sowie Stärken.
Beim Lernen ist das Emotionale wichtig. Die Schule und das Elternhaus sollten sich dessen bewusst sein, dass das Kind nur in einer angstfreien Zone lernen kann. Es darf nicht befürchten, negativ bewertet zu werden, und es muss wissen, dass Fehler einfach zum Lernprozess dazugehören und sogar erwünscht sind, um das Lernen voranzutreiben. Wenn diese Botschaft mal rüberkommen würde, wäre schon viel erreicht.“
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