„Sie haben geschrien, als sie starben“

„Sie haben geschrien, als sie starben“
(AP/Nilufer Demir)

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Die Bilder toter Flüchtlinge, die im Mittelmeer ertrunken sind, sind schon fast trauriger Alltag. Bei den meisten Menschen in Europa scheinen sie keine großen Gefühle mehr auszulösen. Vor nicht einmal einem halben Jahr war das noch ganz anders.

Fünf Monate ist es her, dass das Bild des dreijährigen Aylan Kurdi um die Welt ging. Der syrische Junge ertrank auf der Flucht im Mittelmeer, seine Leiche wurde an der türkischen Küste angespült. Das Foto löste Entsetzen aus. Nun gibt es wieder solche Bilder – Aufnahmen von Kindern, die die Überfahrt von der Türkei nicht geschafft haben. Doch die Reaktionen sind nicht mit denen im September vergleichbar.

Die traurige Routine droht das Mitleid zu ersticken. Täglich kommen Boote mit Flüchtlingen in Griechenland an, immer wieder kentern welche bei der Überfahrt. So wie jenes am Samstag vor der türkischen Küste – mindestens 37 Menschen, darunter Babys und Kleinkinder, kamen dabei ums Leben. „Die Öffentlichkeit scheint irgendwie immun geworden zu sein. Man will das nicht mehr sehen“, sagt Melissa Fleming, Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR). Die zunehmend kritische Haltung gegenüber den Flüchtlingen tut ein Übriges.

„Als ober er schlafen würde“

Und doch gibt es einige, die gegen die Gleichgültigkeit und das Abstumpfen aufbegehren. Griechische Profi-Fußballer haben am Freitag mit einem Sitzstreik auf das Schicksal der Flüchtlinge aufmerksam gemacht. Der chinesische Künstler Ai Weiwei stellte auf Lesbos das Bild des ertrunkenen Aylan nach.

Die Aufnahmen des toten Jungen waren weder das erste noch das letzte Dokument, das zeigt, welche Risiken die Familien auf sich nehmen, die aus Syrien nach Europa fliehen. Doch die Fotos von Aylans leblosem Körper – zunächst mit dem Gesicht nach unten am Strand, später in den Armen eines Polizisten – berührten die Menschen außergewöhnlich stark. „Menschen reagieren sehr emotional auf persönliche Geschichten“, sagt Fleming. „Da war dieser einsame Junge am Strand, der vielleicht wie mein Sohn oder mein kleiner Bruder aussieht und der da lag, als ob er schlafen würde.“

„Sie haben geschrien, als sie starben“

Anders als vor fünf Monaten geht nach dem jüngsten Bootsunglück kein Aufschrei mehr um die Welt. Und das, obwohl sich hinter der Tragödie Schicksale verbergen, die nicht weniger furchtbar sind. Die Insassen des Bootes hätten geschrien, als es die Felsen rammte, erzählt ein Augenzeuge der Nachrichtenagentur AP. „Ich werde diese Schreie immer hören“, sagt Gulcan Durdu. „Sie haben geschrien, als sie starben.“

Es gibt das Foto eines toten Jungen, der etwa so alt ist wie Aylan. Er liegt am Kiesstrand, an seiner Kleidung hängt noch die Plastikkette mit seinem Schnuller. Ein anderes Foto zeigt, wie ein türkischer Polizist den leblosen Körper eines älteren Jungen in einen Leichensack packt.

„Der Krieg muss aufhören“

In Luxemburg, den Nachbarstaaten oder den skandinavischen Ländern war die Berichterstattung über dieses Unglück vergleichsweise verhalten. Auf dem Balkan schenkte man den Bildern mehr Beachtung. In Griechenland berichteten die Medien entsetzt über das vierte Unglück innerhalb einer Woche. In Ungarn druckte die Boulevardzeitung „Blikk“ ein kleines Foto des toten Aylan und eine größere Aufnahme der jüngsten Katastrophe, dazu die Überschrift: „Niemand hat aus der Tragödie des kleinen Aylan gelernt“.

Einige Medien zogen in Erwägung, die Bilder der ertrunkenen Flüchtlinge nicht zu veröffentlichen. Eine ungarische Tageszeitung warnte vor der Wirkung, die die Aufnahmen auf Kinder haben könnten. In Aylans Fall, sagt UNHCR-Sprecherin Fleming, sei man seinem Andenken am besten gerecht geworden durch das große Mitgefühl und die Demonstrationen, die die Politiker aufforderten, mehr zu tun.

Die Tante des Jungen sieht es genauso. „Jetzt sind ein anderer Junge und noch ein Junge und noch ein Junge ertrunken“, sagt Tima Kurdi, die in Kanada lebt. „Ich begreife nicht, was da passiert. Der Krieg muss jetzt aufhören.“

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