KolumnePetz Lahure über die Tour de Suisse vor 10 Jahren: Zwischen Freude und Leid ist die Brücke nicht breit

Kolumne / Petz Lahure über die Tour de Suisse vor 10 Jahren: Zwischen Freude und Leid ist die Brücke nicht breit
Am Tag vor dem Herzstillstand: Kim Kirchen in La Punt bei seinem letzten Interview als aktiver Radprofi mit dem Tageblatt  Fotos: Archiv P.L.

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Wenn mitten in der Nacht das Telefon an deinem Hotelbett klingelt, verheißt das meistens nichts Gutes. So auch an diesem 19. Juni 2010, als mir kurz mitgeteilt wurde, Kim Kirchen hätte einen Herzstillstand erlitten. Der Luxemburger Radprofi, der bei seiner 9. Tour de Suisse das Zimmer mit dem Spanier Joaquim Rodriguez teilte, war kurz vor dem Zubettgehen im Landhaus Sonne in Dürnten, wo das Katusha-Team logierte, zusammengebrochen. Rodriguez alarmierte den Mannschaftsarzt Andrei Mikhailov, der Kirchen zusammen mit Marc Joseph, einem Freund der Familie, mittels Defibrillator zu reanimieren versuchte.

Künstlicher Tiefschlaf

Kim musste mit Sauerstoff behandelt werden, ehe er mit der schnell eingetroffenen Ambulanz in die Klinik eingeliefert wurde. Nur wenige Stunden zuvor hatte der Radprofi im Etappenziel in Wetzikon gesagt, dass er am 3. Juli 2010 (seinem 32. Geburtstag) am Start der Tour de France sein würde. Das Schicksal wollte es anders, plötzlich war der Sport in den Hintergrund getreten, es ging nur noch um Leben und Tod.

Im Universitätsspital von Zürich beschloss das Professorenteam, den Luxemburger Patienten in ein künstliches Koma mit Hypothermie (Unterkühlung) zu versetzen. Eine erste Entwarnung gab es drei Tage später, als Kirchen aus dem künstlichen Tiefschlaf erwachte und sämtliche Mitglieder seiner Familie erkannte. Von dem, was in der Woche zuvor passiert war, aber hatte er nicht die leiseste Ahnung. Er konnte sich an nichts erinnern, war sich dagegen bewusst, dass er Vater von Zwillingen werden sollte.

Am 25. Juni 2010 wurde der Radprofi nach Luxemburg ins Centre Hospitalier verlegt, wo es langsam, aber sicher mit der Gesundheit bergauf ging. Am 8. Juli brachte Caroline Kirchen in der Clinique Dr. Bohler die Buben Mika und Liam zur Welt. Für die Familie begann ein neues Leben, der Radsport rückte weit in den Hintergrund. Heute arbeitet Kim im Sportministerium (zurzeit von zu Hause aus), Caroline hat ihr Kosmetik-Studio, und die Zwillinge beenden demnächst das 4. Schuljahr.

Immer am 19. Juni

Kim Kirchens letzte beiden Saisons waren eine einzige Leidensgeschichte. Im Jahr 2009 brach er sich bei der Kalifornien-Rundfahrt das Schulterblatt und das Schlüsselbein, danach stürzte er beim „Circuit de la Sarthe“ auf der nassen Straße und musste wieder aussetzen. Bis zum Schluss der Saison rannte er der großen Form hinterher, die er in der Schweiz gefunden zu haben schien.
Genau ein Jahr nach seinem Erfolg von Verbier gewann Kirchen auf der Anhöhe in Vallorbe/Juraparc seine zweite Etappe bei der Tour de Suisse. 2008 war es die sechste Teilstrecke, 2009 die siebte Etappe. Beide Male schrieb man den 19. Juni. Dieses Datum erwies sich zwölf Monate später als Katastrophentag. Denn am 19. Juni 2010 wurde Kim Kirchen ins Universitätsspital von Zürich eingeliefert.
Im Jahre 2009 folgte auf die Schweizer Rundfahrt eine verkorkste Tour de France. Nur bei der Weltmeisterschaft machte Kim bis zur Schlussrunde von sich reden. In der Zwischensaison wechselte er zum Katusha-Team, wo er einen neuen Anlauf zu einer zweiten Karriere nehmen wollte.
Der Rückschlag folgte nach Tirreno-Adriatico. Beim „Grand Prix de l’E3“ klagte Kirchen über starke Schmerzen an einer delikaten Stelle. Der behandelnde Arzt verordnete Antibiotika, auf die der Körper negativ reagierte. Der Fahrer wurde krank und musste bis zur „Flèche Wallonne“ aussetzen. Bei diesem Rennen wurde Kirchen nach der Abfahrt der „Mur de Huy“ schwindlig. Er steckte auf, unterzog sich in der Klinik verschiedenen Untersuchungen und blieb bis zur Tour de Luxembourg allen Rennen fern.

Favoriten

In der Tour de Suisse gehörte Kim Kirchen neben seinen Landsleuten Andy und Frank Schleck, Titelverteidiger Fabian Cancellara, dem damaligen Topstar Lance Armstrong, dem Australier Michael Rogers (Sieger der Tour of California) und dem Tschechen Roman Kreuziger (Tour de Suisse-Gewinner von 2008) zu den Anwärtern auf den Gesamterfolg.
In offiziellen Stellungnahmen sahen die drei Luxemburger die TdS zwar eher als Vorbereitung auf die „große“ Tour an, hofften im Stillen aber, dass es auf den Schweizer Straßen zumindest so gut laufen würde wie in den Jahren zuvor.

Bis dahin hatte noch nie ein Luxemburger die Tour de Suisse gewonnen. Arsène Mersch (1938), Jang Goldschmit (1950) und Kim Kirchen (2007) versuchten zwar alles, doch reichte es am Schluss nur zum Sprung auf das zweithöchste Treppchen. Auch 2008 war Kim Kirchen lange nahe dran, ehe er am letzten Tag beim Bergzeitfahren am Klausenpass das Gelbe Trikot an den späteren Sieger Roman Kreuziger abgeben musste.

Der erste Streich

Die Tour de Suisse 2010 fuhr durch alle Sprachregionen des Landes. Nach dem Auftakt-Prolog in der italienischen Schweiz starteten die Fahrer von Ascona aus in den französisch sprechenden Teil.
Auf der Etappe nach Sierre gab’s auch einen kleinen Abstecher nach Italien. Danach verließ die TdS das Welschland und rollte in die Deutschschweiz nach Schwarzenburg. Vor der Königsetappe in La Punt (romanische Sprachregion) machte die Rundfahrt noch in Wettingen und Frutigen Halt. Zum Schluss durchquerte der Tour-Tross erneut die gesamte Deutschschweiz mit einem Zwischenhalt in Wetzikon. Die definitive Entscheidung war beim abschließenden Einzelzeitfahren über 26,9 km von Liestal via Basel-Stadt zurück nach Liestal geplant.

Nach dem Auftakterfolg von Fabian Cancellara auf der 7,6 km kurzen ersten Etappe in Lugano und dem Sprintsieg von Heinrich Haussler in Sierre, schlug Frank Schleck auf der dritten Etappe zu. Er wartete die letzte Steigung des Tages ab, um rund 1.100 m vor dem Strich zum entscheidenden Coup auszuholen. In der steilsten Partie des Anstiegs setzte Schleck sich unwiderstehlich ab, wehrte einen letzten Angriff des Kolumbianers Rigoberto Uran ab und ließ sich als vielumjubelter Sieger feiern.
Tausende von Zuschauern hatten sich trotz der Übertragung der Fußball-WM in Schwarzenburg eingefunden, wo die Entscheidung auf einem herrlichen Schlussparcours fallen sollte. Mit erhobenen Armen fuhr der Luxemburger über die Ziellinie und verbesserte sich gleichzeitig in der Gesamtwertung auf den 6. Rang.

Andys Versuch

Auf der Königsetappe von Meiringen nach La Punt arbeitete sich Frank Schleck auf den 4. Gesamtplatz nach vorn, nachdem sein Bruder Andy im Anstieg des Albula-Passes alles auf eine Karte gesetzt hatte. Er attackierte rund 24 km vor dem Ziel. Vorne lag zu diesem Zeitpunkt eine Gruppe von Fahrern, die schon kurz nach dem Start ausgerissen waren. Mehrmals drehte der jüngere der Gebrüder Schleck sich um, wurde von Robert Gesink eingeholt und wartete die Hilfe seines Mannschaftskollegen Jakob Fuglsang ab.

Es blieben noch 16 km (davon 6 am Berg) zu fahren, als Andy erneut angriff und Gesink in seinem Rad nach sich zog. Dieser ließ den Luxemburger einen Kilometer später stehen, Andy wurde von den Verfolgern eingefangen, ehe Frank Schleck mit dem Schweizer Oliver Zaugg im Rad konterte. Am Ende traf Frank auf Platz 8 in La Punt ein (auf 42“), während Andy als 12. über eine Minute einbüßte (genau 1‘20“).

Nach der Schreckensmeldung um Kim Kirchen schien der Ausgang der Tour für die meisten Radsportliebhaber zur reinsten Nebensache zu werden. Insbesondere der Verlauf der zweitletzten Etappe wurde nur noch am Rande verfolgt. Das änderte sich schlagartig, als Frank Schleck am Schlusstag alle überraschte und nach der Hälfte des Zeitfahrens im Bereich eines möglichen Sieges lag.

Die Überraschung

Der Saxo-Bank-Leader, der als viertletzter Fahrer mit 38 Sekunden Rückstand auf den Holländer Robert Gesink auf die Strecke ging, machte diese Zeit nicht nur mehr als wett, sondern hielt auch Lance Armstrong, den großen Favoriten der meisten „suiveurs“, auf Distanz.
Wer am Schlussziel in Liestal ganz oben aufs Podium steigen wollte, musste den Amerikaner bezwingen. Frank Schleck ging mit 16 Sekunden Vorsprung auf Armstrong ins Rennen und büßte auf den 26,9 km nur 5 Sekunden auf ihn ein. Er behielt also 11“ Vorsprung und durfte seinen Namen als erster Luxemburger überhaupt ins „Goldene Buch“ der Tour de Suisse eintragen. Es war ein überraschender, dafür aber ein umso erfreulicherer Sieg, mit dem eigentlich niemand gerechnet hatte.

Lance Armstrong seinerseits verwies den „Luxemburger Dänen“ Jakob Fuglsang um fünf Sekunden auf den dritten Schlussrang. Robert Gesink, der nach seinem Sieg in La Punt das Leadertrikot übernommen hatte, verlor im „contre-la-montre“ zu viel Zeit (40. auf 2‘19“) und fiel noch auf den fünften Rang im Gesamtklassement zurück. Etappensieger wurde der Deutsche Tony Martin mit 17 Sekunden Vorsprung auf Fabian Cancellara und 29“ auf David Zabriskie.

Schlecks erstes Ziel bei der Tour de Suisse 2010 war ein Etappensieg. Dieses Vorhaben erreichte er in Schwarzenburg. Den Gesamterfolg, den er spontan Kim Kirchen widmete, wertete er als Bonus. Er, und alle andern Luxemburger auch, hätten sich viel mehr freuen können, wenn die schreckliche Sache mit dem Herzstillstand nicht passiert wäre.

Frank Schleck in Liestal mit der Trophäe des Schlusssiegers der Tour de Suisse am 20. Juni 2010, also heute vor zehn Jahren
Frank Schleck in Liestal mit der Trophäe des Schlusssiegers der Tour de Suisse am 20. Juni 2010, also heute vor zehn Jahren