Eine Szene im StillstandDeborah Lotti über Tanz, Lockdown und  gestohlene Stunden des Künstlerlebens

Eine Szene im Stillstand / Deborah Lotti über Tanz, Lockdown und  gestohlene Stunden des Künstlerlebens
Bereits zum zweiten Mal muss Deborah Lotti ihre Aktivitäten als Tänzerin in Paris einstellen, diesmal sind die Richtlinien des Lockdowns jedoch weniger strikt als noch im März Foto: Alexinho Mougeolle

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Ein Leben auf der Bühne, den Applaus der Massen in den Ohren, strahlende Gesichter vor den Augen – wer die darstellenden Künste als Handwerk gewählt hat, der lebt von den Momenten des Rummels, jenen Augenblicken, die das validieren, wofür man wochen-, gar monatelang gearbeitet hat. Doch während der Krise sind es genau diese Aktivitäten, die als Erstes den Folgen der Pandemie zum Opfer fallen. Social Distancing, Lockdown und Ausgangsverbot sind die Feinde jeglicher Form von Kultur, das spürt auch Deborah Lotti. Die Tänzerin arbeitet und lebt in Paris und zählt aktuell die Tage bis zum Ende des am vergangenen Freitag angelaufenen „reconfinement“. Vorerst bis zum 1. Dezember darf die 27-Jährige nicht mehr auf die Bühne, alternativ arbeiten geht im Tanzmilieu kaum. Fünf Tage nach der Verkündung von Macron erzählt die Luxemburgerin, wie Corona das Leben als Künstlerin beeinflusst und was es bedeutet, Teil einer Branche zu sein, die in Krisenzeiten oftmals als Erste leidet.

Der Vorhang ist gefallen, die Lichter sind nun aus – so in etwa lässt sich der zweite Lockdown in der Pariser Kulturszene wohl beschreiben. Sechs Wochen lang herrscht auf den Bühnen der französischen Hauptstadt Stillstand, denn das Land befindet sich in der erneuten Ausgangssperre. Seit sieben Jahren nennt Deborah Lotti die Stadt der Liebe ihr Zuhause, als professionelle Tänzerin hat sie hier fürs Erste genau ihren Platz in der Welt gefunden. Doch nun muss sie ihren Beruf auf Eis legen – schon wieder, denn bereits im März wurde die 27-Jährige unfreiwillig in die temporäre „Arbeitslosigkeit“ versetzt. „Als Tänzer können wir keinen ‚Télétravail’ machen, es gibt für uns keine Alternativen, denn wir brauchen die Menschen, wir brauchen die Unterhaltung, wir brauchen all das, was uns als Erstes verboten wurde: das soziale Leben“, so die Künstlerin.

Seit sie sechs Jahre alt ist, tanzt Deborah, wo und wann sie nur kann. Zuerst als aufgeweckte Schülerin in der Luxemburger Tanzschule Li Marteling, seit 2013 auf den Tanzböden des „Institut de Formation Professionelle Rick Odums“ sowie den Bühnen von Paris. Ihr offizielles Diplom als Tanzlehrerin und die Lizenz für darstellende Künste der „Université Paris 8“ haben ihr die Karriere als professionelle Jazz-Choreografin und -Performerin eröffnet, doch seit März gestaltet sich der Berufsweg als schwierig. „Ich glaube, viele verstehen nicht, was es bedeutet, wenn man zu den Ersten gehört, denen die Möglichkeit genommen wird, zu arbeiten“, meint Deborah. Im letzten Tanzkurs am Tag vor dem offiziellen Lockdown haben sie und ihre Kollegen sich noch einmal so richtig ausgetobt, denn ab jetzt heißt es für sie: Freiheit ade und „bonjour le confinement“.

Leere bei der Sacré-Coeur

Genau eine Stunde lang dürfen die Bewohner der Stadt ihr Zuhause verlassen. Da richtiges Tanzen für Deborah im kleinen Zimmer der Pariser Wohnung, die sie mit einer älteren Dame teilt, nicht möglich ist, nutzt sie den Ausgang, um sich mit Joggen wenigstens etwas fit zu halten. „Heute Morgen war ich bei der Sacré-Coeur-Basilika oben in Montmartre und alles war leer oder geschlossen. Das war ein sehr seltsames Gefühl, da das Viertel normalerweise voller Touristen und Künstler ist“, sagt die 27-Jährige. Ihr Leben direkt neben dem famosen Variété-Theater Moulin Rouge, dessen Türen seit Beginn der Krise ebenfalls zu sind, hat sich durch Covid massiv verändert. Während vor knapp zwei Wochen noch Hunderte Zuschauer ihr im „Casino de Paris“-Theater zujubelten, weiß Deborah nun nicht einmal, wann sie wieder auf eine Bühne darf.

„Das ‚couvre-feu’ ab 21.00 Uhr war die erste Schelle für uns. Wir durften zwar noch weiterproben, aber die Bühne ist unser Arbeitsplatz und man kann nicht einfach alle Shows auf mittags verlegen, schon gar nicht unter der Woche, denn dann kommen keine Leute“, erklärt die Tänzerin. Ein lautes „Merde!“ huscht ihr über die Lippen, denn als Künstler fühle man sich machtlos, so als ob man bestraft würde. „Man ist einfach wütend und frustriert, da einem die Hände gebunden sind. Vor allem da wir im September endlich wieder tanzen durften und unsere Energie wiedergefunden hatten – und dann dieser schnelle und brutale Cut. Ça pèse.“ Die Stimmung im Tanzmilieu sei bedrückt, denn jeder hat es kommen sehen, etwas gegen den drohenden Lockdown unternehmen konnte allerdings niemand.

Zukunfts- und Existenzängste

Doch Deborah kennt das Gefühl der Stagnation, denn bereits im März musste sie dieses zum ersten Mal erleben. Damals gerade frisch aus einer Künstler-Residenz im lothringischen Freyming wieder nach Paris gekommen, kündigte sich die Covid-Krise für die Tänzer der RB Dance Company an wie dunkle Gewitterwolken. „Im März hatten wir unser erstes Datum in Paris, was für uns ein enorm wichtiger Schritt war“, erinnert sich Deborah. Am 12. startete die Show „Stories“ erstmals auf der Bühne im Pariser Casino, zu diesem Zeitpunkt bereits mit Einschränkungen bei den Zuschauerzahlen. Doch während am ersten Abend noch rund 1.000 Tanzbegeisterte die Tap-Dance-Einlagen des Ensembles zu sehen bekam, verlief der geplante zweite Auftritt auf einmal ganz anders. „Wir waren gerade fertig mit unserem Warm-up im Theater, als uns die Nachricht des Premierministers erreichte.“ Ein Lockdown, und das inmitten der Saison.

Die Stimmung bei den Tänzern war unterirdisch, dennoch wollte Choreograph Romain Rachline Borgeaud die letzten Momente im Casino nutzen, um wenigstens ein Promo-Video zu drehen, bevor dann alles in Stillstand verfallen würde. „Histoire de ne pas déprimer.“ Aufgrund ihrer derzeitigen Wohnsituation – seit September 2019 hatte sie ihren Alltag mit Wechseltrips und Couchsurfing zwischen Luxemburg und Paris verbracht – entschloss sich die 27-Jährige, die Ausgangssperre bei ihrer Familie in der Heimat zu verbringen. Hier mauserte sie sich mit einem eigens auferlegten Trainingsprogramm durch die langen Lockdown-Stunden: Laufen für die Kardio, Gaga-Tanzkurse über Zoom, Meditation gegen das mentale Chaos im Kopf. „Ich hatte eine enorme Nervosität in mir, da ich nicht mehr tanzen durfte. An manchen Tagen überkam mich aber auch Trägheit und Unlust, was dann neben den bereits bestehenden Fragen zur Zukunft noch weitere, existenzielle Zweifel aufkommen ließ.“

Ob sie mit ihrem Tanzensemble „RB Dance Company“ im Januar wieder auftreten darf, weiß die 27-Jährige aktuell noch nicht
Ob sie mit ihrem Tanzensemble „RB Dance Company“ im Januar wieder auftreten darf, weiß die 27-Jährige aktuell noch nicht Foto: Aline Gérard

Rettendes „statut d’intermittent“

Ist Tanzen wirklich das Richtige, wenn man plötzlich aufwacht und keine Lust darauf hat? Wie wird es weitergehen, wenn zwar Geschäfte und Restaurants ihre Türen irgendwann wieder öffnen dürfen, dasselbe Glück allerdings nicht unbedingt Theatern und Showrooms zuteil wird? Fragen um Fragen, die das schon oftmals schwierige Leben eines freischaffenden Künstlers zunehmend belasteten. Einziger Lichtpunkt: Exakt am 17. März konnte Deborah ihr „statut d’intermittent du spectacle“ validieren. Ein Jahr lang hatte die 27-Jährige Aufträge, Shows, Proben und Tanzkurse angesammelt, um so die 507 nötigen Stunden oder insgesamt 43 geforderten „cachets“ zu erreichen, die ihr den offiziellen Künstlerstatus in Frankreich und somit ein kleines Einkommen garantieren. „Das hat mir während der ganzen Zeit, in der nichts im Kulturmilieu lief, erlaubt, wenigstens ein bisschen Geld zu verdienen“, so die Tänzerin dankbar.

Wir brauchen die Menschen, wir brauchen die Unterhaltung, wir brauchen all das, was uns als Erstes verboten wurde.

Deborah Lotti, Tänzerin

Denn die geplanten Daten mit ihrer Tanzgruppe, ihre Kurse bei „Espas Danse“ sowie andere Shows mit dem „Les Allumettes“-Cabaret-Ensemble oder dem „Armstrong Jazz Ballet“ mussten bis auf Weiteres auf Eis gelegt werden – keine Aussicht auf Arbeit also, und das als jemand, der dauerhaft den Drang verspürt, zu kreieren. Im Laufe des Lockdowns verkündete der französische Staat allerdings, dass die Deadline für das Erfüllen der Intermittent-Voraussetzungen – der Status muss jedes Jahr neu bestätigt werden – bis August 2021 verlängert würde, denn erst im Sommer durften Künstler und Kulturschaffende ihre Arbeit wieder aufnehmen. „Das hat uns wenigstens einen kleinen Puffer gegeben, auch wenn wir jetzt wieder anderthalb Monate nicht arbeiten dürfen und nicht wissen, ob der Staat uns nochmals entgegenkommt“, meint Deborah.

„Ich tanze wieder“

Einen ersten Hoffnungsschimmer inmitten der Krise gab es für die Tänzerin schließlich im Mai, als sie von Choreograph Romain eine Mail mit Datenvorschlägen für einen Videodreh über den Dächern von Paris erhielt. „Trotz zahlreicher Einschränkungen hat es einfach gutgetan, endlich wieder etwas Konkretes zu planen und zu wissen, dass wir bald wieder tanzen dürfen.“ Zu Hause in Luxemburg hatte sie die Zeit im Lockdown genutzt, um ein Video-Projekt in Zusammenarbeit mit Filmemacher Vito Labalestra für die virtuelle Version eines eigentlich geplanten Tanzfestivals in Brüssel zu produzieren, ihre Pläne für Projekte in der Heimat zu konkretisieren und an ihren Improvisationskünsten zu feilen. Doch nichts auf der Welt kann das ersetzen, was ein Tänzer im direkten Kontakt mit anderen Kreativen verspürt, so die 27-Jährige: „Ich habe zwar an Online-Kursen mit 700 Tänzern aus aller Welt teilgenommen und es ist auch wirklich bewegend, all diese kleinen Figuren auf dem Bildschirm wackeln zu sehen, aber der erste Kurs in Paris war einfach unbeschreiblich. Wieder mit anderen Energien im Raum zu sein, etwas zu teilen, zu geben und zu bekommen, das war ein richtiger Aufschwung für mich, der mir wieder gezeigt hat, dass ich genau das mache, was ich liebe.“

„Ich tanze wieder“, so betitelt Deborah ihre große Befreiung aus den Fesseln des Lockdowns. Und auch seitens der Produktion gab es hoffnungsgebende Nachrichten, denn plötzlich rieselte ein Job nach dem anderen herein. „Wir bekamen mit RB kurzfristig ein Engagement für einen Auftritt in einer italienischen Fernsehshow und flogen spontan für fünf Tage nach Rom, um dort die Sendung aufzunehmen.“ Die Freude über den Job erhielt allerdings schnell einen kleinen Dämpfer, denn nach der Rückkehr aus dem Süden musste das Tanzensemble seine Aktivität aufgrund eines internen Covid-Falles für eine gesamte Woche einstellen. „Wir hatten gerade wieder angefangen, intensiv für ‚Stories‘ zu proben, und die dadurch fällige Quarantäne hatte zur Folge, dass wir sieben Tage an Studio-Proben verloren“, erklärt die 27-Jährige.

Erleichterung auch beim Publikum

Doch am 7. Oktober durfte die Truppe nach monatelanger Pause dann endlich wieder auf die Bühne: im „Théâtre La Merise“ im französischen Trappes, als Abschluss einer Residenz vor Ort. „Der Moment nach dem Auftritt ist schwer in Worte zu fassen. Während man tanzt, ist man in seiner Rolle und nimmt das Drumherum nicht so wahr. Als wir am Schluss dann aber den Applaus des Publikums hörten und die Leute klatschen sahen, wurde uns bewusst, dass wir endlich wieder unser Metier ausgeführt hatten. Das war das größte Geschenk, das man uns hätte machen können“, meint Deborah gerührt. Auch beim anschließenden Kontakt mit den Zuschauern – natürlich auf Abstand und mit Maske – wurde die Lust auf Show und Freude darüber, endlich wieder Kunst zu sehen, seitens der Gäste spürbar. „Es war wie eine riesige Erleichterung, auf beiden Seiten“, so die Tänzerin.

Ein Gefühl, das leider nicht von Dauer sein durfte, denn bereits zehn Tage später stand der nächste Schlag für die gesamte Szene an. „Am 17. Oktober wurde die nächtliche Ausgangssperre eingeführt. Wir mussten also eine Lösung finden, denn am 23. sollte der Auftritt vom 13. März im Casino nachgeholt werden.“ Mit verfrühten Uhrzeiten, zwei Terminen, um die aufgrund der Zuschauer-Limitationen bereits auf zwei Shows aufgeteilten Publikumszahlen irgendwie reinholen zu können, und viel Neu-Organisation der Tickets durfte die RB Dance Company also schließlich auftreten – vorerst zum letzten Mal. „Der 23. war für mich ein sehr besonderer Abend. Einerseits, weil meine Familie und Freunde extra angereist waren, um mich zu unterstützen, und andererseits, weil es für uns eine Art Déjà-Vu war. Wir hatten all die Monate überstanden und durften endlich dort stehen, wo wir bereits im März hätten stehen sollen“, so Deborah.

Eine „dérogation“ als Arbeitserlaubnis

Mit einem herzlichen „Genießt jeden Moment, denn wir wissen nicht, wann wir wieder auf die Bühne dürfen“ entließ der Choreograph seine Crew also auf die Tanzfläche, seine Prophezeiung beim Warm-up bestätigte sich allerdings schon nach einer Woche. Nun sitzt Deborah wieder in ihrem Zimmer, diesmal in Paris, und wartet auf Besserung. Der Lockdown ist weniger strikt als im Frühling, für Proben zu bereits geplanten Auftritten nach dem 1. Dezember kann sich die Tänzerin eine „dérogation“, also ein Ausnahmeschreiben, ausstellen lassen. Dennoch wiegt das Gewicht der erneuten Schließung schwer auf den Schultern der Kunstszene: „Die allgemeine Stimmung lautet: das kann doch einfach nicht sein! Lasst und raus und lasst uns tanzen, denn das ist unser Job!“  

Bis sich diese Forderung allerdings erfüllt, hofft Deborah darauf, dass die Zahlen der Neuinfektionen schnell wieder sinken und so wenigstens die geplanten Daten mit der „Eddi Tsui Compagnie“ in Luxemburg sowie die RB-Shows im Januar im Pariser Casino stattfinden können. Denn schließlich habe die Welt der Künstler bereits genug eingesteckt, meint die 27-Jährige, und das, obwohl Kunst doch eigentlich vor allem in Zeiten der Krise so unabdingbar ist.     

Gecancelte Shows, Probenchaos durch Covid-Fälle, eingeschränkte Zuschauerzahlen: Das Leben als Künstler in Zeiten der Krise ist alles andere als einfach
Gecancelte Shows, Probenchaos durch Covid-Fälle, eingeschränkte Zuschauerzahlen: Das Leben als Künstler in Zeiten der Krise ist alles andere als einfach Foto: Aline Gérard