D wie Damals

D wie Damals
(dpa)

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Damals war irgendwie alles anders. Wäre es nicht so, weshalb müsste man sich auf Damals berufen? „Mal’ das aber nicht zu genau aus“, höre ich jemanden sagen, der zu Damals eher ein gespaltenes Verhältnis hat.

„Ich will das alles gar nicht im Einzelnen wissen. Und wer interessiert sich schon dafür, was damals alles war?“
Ehrlich gesagt, tut mir Damals ein wenig leid. So richtig weiß Damals nämlich nicht, woran es ist. Sicherlich: Damals ist mit Früher eng befreundet. Sie teilen sich die Vorliebe für die Vergangenheit und finden großen Gefallen daran, in dem, wovon sie berichten, förmlich zu schwelgen. Als fleißige Arbeiter im Steinbruch der Erinnerungen haben sie sich bis auf weiteres um das Gewesene verdient gemacht. Aber erfahrungsgemäß gibt es eben auch diese Querulanten, die alles besser wissen wollen und einem die Freude an der eigenen Gedächtniskunst vergällen: Ich kann mich ganz genau erinnern. Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Mein Gedächtnis hat mich noch nie im Stich gelassen. Und im Übrigen: Da kann man jeden fragen, es hier und dort nachlesen, sich bei diesem oder jenem Fachmann informieren. So war es und nicht anders.

Dieter Heimböckel ist Professor für Literatur und Interkulturalität an der Uni Luxemburg. Seine Beiträge erscheinen im Tageblatt (samstags) und an dieser Stelle im Zwei-Wochen-Takt.

Die Kolumne trägt den Namen Flöz und lädt zu einer Suchbewegung durch das ABC gedanklicher Rohstoffe ein. Was dabei genau herauskommt, liegt wie im Flöz allerdings noch im Verborgenen.

Auf der anderen Seite hat Damals keinen Grund, sich zu beklagen. Mit der Gegenwart des schnöden Alltags hat es nichts zu schaffen. Das ist etwas für Kleinkrämer und diejenigen, die bevorzugt ihr Heil im Kurzzeitgedächtnis suchen. Die hier zu Hause sind, fehlt einfach der lange Atem. Sie haben ein zu kurzes Gesicht.
Was aber interessiert Damals, was gestern oder im letzten Jahr geschah? Damals gehört einer Zeit an, die noch Kniestrümpfe trug oder sich so kleidete, als wäre sie, wie im Stummfilm, einer unbekannten Welt entsprungen. Dass der Stummfilm sich jetzt einen Retro-Look verpasst, gilt unter Insidern nicht als Affront gegen Damals, sondern als Beweis dafür, dass Heute Damals nicht das Wasser reichen kann. Da kann sich Heute kleiden, wie es will.

Ohnehin macht sich Damals einen Sport daraus, ein wenig exzentrisch daherzukommen oder sich so auszustaffieren, als wäre der Stoff, aus dem sein Gewand fabriziert ist, für die Ewigkeit bestimmt. Damals neigt zur Pose und nimmt sich dabei selbst nicht so ernst wie manche, die alles, was Damals sagt, für bare Münze nehmen. Der Vergangenheit mitunter ein wenig auf die Sprünge zu helfen, schadet Damals zufolge nicht sonderlich, zumal Erinnerung und Erfindung eine stillschweigende Übereinkunft darüber getroffen haben, sich im Ernst- und Zweifelsfall zu unterstützen. Man sollte Damals jedoch keine Lügen unterstellen. Mit Lügen hat das wenig zu tun, mögen diejenigen, die nur in die Jahre gekommene Autoritäten gelten lassen wollen, sich noch so sehr auf Platon berufen. Platon wird sowieso maßlos überschätzt. Dass alle Philosophie nach ihm nur eine Fußnote zu seinem Werk sei, gehört zu den Übertreibungen, mit denen Damals gerne kokettiert.

Es gibt daher kaum Veranlassung dazu, Damals schlichtweg alles durchgehen zu lassen. Neuerdings hält es wieder einmal große Stücke auf sich und scheint sich förmlich darin überbieten zu wollen, für alles Gegenwärtige die Urheberschaft zu beanspruchen: Das gab es schon bei den Römern, im Mittelalter, bei Shakespeare, unter Napoleon Bonaparte, bei den Existentialisten usw. usw. Nur mich gab es damals noch nicht. Und hätte es mich damals gegeben – sagen wir zur Zeit der alten Ägypter –, hätte ich entweder Pyramiden gebaut oder für die Nahrungssicherung am Nil gesorgt. Woher ich das weiß? Das weiß der lesende Arbeiter allein.

Was mir aber bei alledem wirklich ein Rätsel aufgibt, ist die Tatsache, dass bei Damals höchste Geistes- und Erinnerungsaktivität und bedenkliche Gedächtnislücken Hand in Hand gehen, fast ununterscheidbar zusammenfallen. Darauf kann ich mir nach wie vor keinen Reim machen. Vielleicht weiß ja die Demenzforschung Rat. Von solchen Amnesien will sie zurzeit allerdings wohl eher nichts wissen. Sie hat genug mit dem Erinnerungsverlust der Zukunft zu tun. Vermutlich stehen wir unmittelbar vor einem Zeitalter, in dem selbst Damals der Vergessenheit anheimfallen wird: Fragen wir doch Damals. Damals? Nie gehört!