„Wir haben nichts von der EU zu erwarten“

„Wir haben nichts von der EU zu erwarten“
(AFP)

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Wieder eine Brexit-Hürde weniger. Das britische Unterhaus hat Premierministerin May grünes Licht gegeben. Wir sprachen mit der Politologin Melanie Sully über Tories, Labour, die Schotten, Trump und die EU.

Der Brexit macht nicht nur Wirtschaft und Industrie im Vereinigten Königreich nervös. Auch die britischen Parteien finden sich in einer schwierigen Situation wieder. Das britische Parlament hat nun am Mittwochabend das Gesetz zum Start der Brexit-Verhandlungen mit der EU gebilligt. Damit erteilten die Parlamentarier der Regierung mit 494 gegen 122 Stimmen die förmliche Erlaubnis, die Austrittsverhandlungen mit der EU aufzunehmen. Nach der Abstimmung im Unterhaus geht das Gesetz nun ins Oberhaus. Wir sprachen im Vorfeld dieser Abstimmung mit der britischen Politologin Melanie Sully über die letzten Entwicklungen und was da noch alles auf Tories, Labour und auch die Scottish National Party zukommen mag.

Melanie Sully
Melanie Sully ist britische Politologin und Direktorin des Wiener Instituts für Go-Governance. Sie lehrte
Politikwissenschaft an der Diplomatischen Akademie und war Beraterin der OSZE und des Europarats. Sully ist Mitglied des Royal Institute of International Affairs in London.

Tageblatt: Besonders Labour scheint keine einheitliche Linie in Bezug auf den Brexit zu finden. Woran kann das liegen?

Melanie Sully: Labour ist gespalten, ihr Vorsitzender Jeremy Corbyn noch immer nicht akzeptiert. Corbyn hat es nicht geschafft, in vielen wichtigen Punkten eine klare Linie zu finden. Es ist ihm zum Beispiel in der Einwanderungspolitik der EU-Migranten nicht gelungen, die Labour-Position verständlich zu erklären. Nach wie vor verstehen viele nicht, wofür oder wogegen Labour in dieser zentralen EU-Frage steht. Vor kurzem meinte Corbyn, wir bräuchten ein gut gemanagtes, vernünftiges Immigrationssystem. Corbyn sagt, sein Weg sei die einzige Möglichkeit, die Ausbeutung der EU-Migranten zu vermeiden. Diese würden Billigjobs annehmen, die sonst keiner will, und so die Arbeiterschaft auseinander dividieren. Deswegen müsse er deren Einwanderung einschränken. Damit ist er weder auf der Linie der konservativen Tories noch auf der Linie der EU mit ihren vier Freiheiten – und vor allem ist seine Botschaft alles andere als klar.

Auch vor dem Referendum tat sich Corbyn schwer mit einer klaren Botschaft …

Das war auch vor dem Referendum das Problem. Corbyn ist ja eigentlich für die EU. Sie scheint aber für ihn ein politisches Tier zu sein, das sehr schwer zu verstehen ist. Für Corbyn ist die EU nach wie vor ein Klub der Kapitalisten, dem die Sozialdimension ebenso fehlt wie der Schutz der Arbeitnehmer. Also sagt Corbyn: Die Artikel-50-Frage ist eine demokratische Entscheidung, die man zu akzeptieren hat. Aber wir werden Abänderungsanträge einbringen für den Schutz der Arbeitnehmer. Er erklärt aber nicht, was passiert, wenn diese Anträge im Parlament von einer konservativen Mehrheit abgelehnt werden. Trotzdem stimmt Corbyn zu. Das bringt viele in der Labour-Partei in eine Zwickmühle. Die Europafrage spaltet zwar auch die Konservativen, hat aber in den letzten Tagen in der Labour-Partei zu einer noch viel größeren Spaltung und zum Rücktritt vieler führender Persönlichkeiten in Corbyns Schattenkabinett geführt.

Droht der Labour-Partei die offene Teilung? Kann sich eine neue Partei bilden?

Über eine Spaltung der Partei hat man im Herbst spekuliert. Damals stellte Owen Smith Corbyns Führungskraft in Frage. Smith war hierfür aber nicht der beste Kandidat, kein Schwergewicht wie Hilary Benn etwa oder David Miliband. Corbyn hat die beiden internen Parteiwahlen dann zwar gewonnen, seine Position ist trotzdem nicht abgesichert. Die Leute im Parlament sind nicht zufrieden mit ihm. Außerhalb des Parlamentes sieht das anders aus. Da hat er die Bewegung „Momentum“ hinter sich. Es gibt also ohnehin eine Parallelbewegung in der Labour-Partei. In dem Sinne ist sie bereits gespalten. Aber eine offene Teilung erwartet niemand. Es ist klar, dass das Herz, die Seele von solchen Leuten wie Owen Smith, die aufgewachsen sind in dieser Bewegung, an Labour hängt. Ein Teil von Labour zu sein, ist etwas Besonderes. Ein Bruch mit Labour wäre ein Bruch mit etwas sehr Wichtigem aus der eigenen Vergangenheit. Was wir aber gesehen haben, ist eine Spaltung innerhalb von „Momentum“. Diese Bewegung war hundert Prozent für Corbyn. Jetzt heißt es immer öfter: Er vertritt uns nicht ganz, besonders in Bezug auf die vier Freiheiten der EU nicht. Bei „Momentum“ gibt es mittlerweile eine Gruppe, die Corbyn sehr kritisch gegenübersteht. Das war im Herbst noch nicht der Fall. Und sie werden zunehmend unzufriedener mit der Parteiführung. Corbyns Position ist also gefährdet, aber von unerwarteter Seite.

Auch einigen Tories bricht es wohl das Herz, gegen Europa zu stimmen …

Leider sind viele Tories, die sich getraut haben, gegen Artikel 50 abzustimmen, zurück auf Parteilinie. Man darf dabei nicht vergessen: Mays Position in der Partei hat sich seit dem Sommer gestärkt – und sie hat die Macht der Patronage, sie kann Jobs in der Regierung vergeben. Das können Labour und Corbyn mit ihrem Schattenkabinett nicht. Es rechnet ja niemand ernsthaft damit, dass Corbyn Premier wird und dann plötzlich so viel Macht hat. May hingegen sitzt an den Schalthebeln. Sie kann Jobs verteilen – warum also soll man es sich mit ihr verscherzen? Sie scheint, ob man jetzt ihrer Meinung ist oder nicht, konsequent vorzugehen. Der einzige, der wirklich mit Herz und Seele dagegen war, ist Kenneth Clarke, ein alter guter Dinosaurier der Partei, der nicht aufgibt. Aber mit einer großen Rebellion in der Tory-Partei ist nicht zu rechnen. Wenn es in der Vergangenheit Rebellionen bei den Tories gab, kamen sie von den Euroskeptikern, die Cameron für ein Ja/Nein-Referendum unter Druck gesetzt haben. Dort gab es bei den Tories die Bereitschaft, gegen die eigene Regierung abzustimmen. Aber für Europa abstimmen? Dafür fehlt den Konservativen die Motivation.

Weiß die Regierung, was sie vorhat?

Irgendwie schon. Aber das sind zwei Welten. May stellte ihre Brexit-Absichten erst auf dem Tory-Parteitag und im Januar bei ihrer großen Rede im Lancaster House vor – aber nicht im Parlament! Doch genau dort hätte die Premierministerin ihre Pläne detailliert mitteilen müssen. Nun bekamen die Abgeordneten das Weißbuch zum Brexit sogar erst nach der Abstimmung. Das alles kommt von einer Partei, die das nationale Parlament und dessen Souveränität immer hochgehalten hat! Was jetzt passierte, ist das exakte Gegenteil davon. Das Parlament hat kämpfen müssen, damit es überhaupt eingebunden wird. Die Regierung hat dem Parlament nichts freiwillig hergegeben. Das ist keine schöne Taktik.

Spielt das Ja des Parlamentes May nicht sogar in die Hände?

Ja, May kann sagen, ich habe grünes Licht für meine Verhandlungen – und ich habe immer gesagt, wir wollen aus dem Binnenmarkt. Was soll das Parlament denn nachher machen? Jetzt wäre der Moment gewesen, zu sagen: So geht es nicht! Denn es kann unserer Wirtschaft schaden. Und welche Konsequenzen hat ein harter Brexit überhaupt für diesen oder jenen Bereich? Später nutzt das alles nichts mehr. Denn wenn man innerhalb der zwei Verhandlungsjahre zu bremsen anfängt, gilt man als Zeitverschwender. Dann tickt die Uhr für London, und Bremser werden sehr schnell als Schuldige von eventuell schlecht laufenden Verhandlungen dastehen. Das gilt auch für Schottland. Dann wird es heißen, ja, es dauert eben so lange, weil wir so viel Zeit in Ausschüssen und mit den Schotten verbracht haben. Würden die sich jetzt nicht so anstellen, hätten wir schon alles unter Dach und Fach. Wir, die Regierung, haben unser Bestes gemacht, und die anderen nicht. Wer irgendwann auf die Idee kommt, es passt nicht, kommt in eine sehr ungünstige Position. Es ist sinnlos dann.

Was kann das Parlament 2019 nach den Verhandlungen noch tun? Kann es noch Nein sagen?

Es kann Nein sagen – aber was sind die Konsequenzen? Was sollen sie sagen, geht zurück nach Brüssel und verhandelt etwas Besseres? Kann man da erwarten, dass Brüssel sagt, das ist ok für uns, wir verhandeln noch einmal und vielleicht gibt es noch ein paar Rosinen? Ich glaube eher nicht. Wir können gar nichts erwarten von der EU. Es gibt die Theorie, die rechtlich nicht geklärt ist, an der sich aber einige festklammern, dass man nach zwei Jahren, wenn es keinen Deal gäbe, einfach drinnen bleibt. Status quo demnach. Auch EU-Ratspräsident Tusk hat mit dieser Idee gespielt. Aber wenn man Artikel 50 liest, sozusagen als Laie, da denkt man, man fliegt raus. Im High Court in Dublin, in der Republik Irland, schaut man, ob, nachdem man Artikel 50 gestartet hat, diesen Prozess nach einem Jahr stoppen kann. Auch das ist nicht klar, es gibt eine Grauzone. Man weiß nicht genau, ob es einen Ausweg geben könnte. Deswegen sollte das jetzt geklärt werden! Schließlich hat das Parlament das Recht bekommen, 2019 noch einmal abzustimmen. Und wenn man dann nicht vom Brexit zurücktreten kann – was für einen Sinn hat dann eine Abstimmung?

Dann ist es also zu spät?

Dann ist es zu spät. Was ist denn die Alternative, wenn man den Deal mit der EU dann ablehnt? Die Alternative ist ein Rückfall auf die Regeln der Welthandelsorganisation. Was ist das bitteschön für eine Wahl für das Parlament? Not oder Elend, mehr nicht. Das ist doch eigenartig. Jetzt ist der Zeitpunkt, zu klären, ob man nach zwei Jahren noch aussteigen könnte und dann den Status quo hätte. Der einzige, der das beurteilen könnte, der EU-Recht interpretieren kann, ist der Europäische Gerichtshof. Darauf zielt auch das Verfahren in Dublin ab.

Kann es wirklich einen Ausstieg ohne Deal geben?

May hat ja gesagt, kein Deal ist besser als ein schlechter Deal. Daher hätte ich mir vom Parlament mehr Fragen dazu gewünscht. Denn was das eigentlich heißt, weiß keiner so recht. Fällt man wirklich auf die WTO-Zölle zurück? Was wird mit der irisch-irischen Grenze sein? Alles, was man zu hören bekommt, ist, das wird schon okay sein. Schöne Worte reichen aber nicht zur Beruhigung. Vor allem in Nordirland nicht, das gerade in einer tiefen politischen Krise steckt.

Kommen wir zu Schottland, kann SNP-Chefin Nicola Sturgeon noch ein erfolgreiches Referendum machen?

Momentan nicht. Sie macht das rhetorisch. Sie muss in ihrer Partei Alex Salmond beruhigen, der nur die Referendum-Karte spielt. Aber der harte Brexit bedeutet für die Schotten bei einer Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich den Verlust des Binnenmarktes mit England, mit Wales, mit Nordirland. Sturgeon muss also gut überlegen. Denn was sie anbieten kann, ist der Verlust dieses Binnenmarktes, ohne den Binnenmarkt mit der EU bereits in der Tasche zu haben. Sturgeon muss vermeiden, dass es geht wie letztes Jahr, wo die Leute wählen mussten zwischen irgend etwas nicht ganz klar Definiertem und dem Status quo. Diese Irgendwas muss besser definiert werden. Das ist momentan nicht der Fall. Schottland will in der EU bleiben, hat eine ganz andere Wirtschaftsstruktur. Die brauchen ihre Migranten dort, nur wollen die alle nach London. Dazu kostet die Mitgliedschaft im EU-Binnenmarkt etwas, das ist nicht gratis. Wird Schottland dann zahlen? Und nochmal, wenn die Schotten nach der Auslösung von Artikel 50 Schwierigkeiten machen, werden sie als Zeitverschwender dastehen. Es gibt auch keinen Hinweis, dass ein zweites Referendum unter diesen Umständen für die Unabhängigkeit ausgehen würde. Man würde die Leute wahrscheinlich so irritieren, dass eine noch größere Mehrheit für den Verbleib stimmen würde. Und wenn die SNP ein zweites Referendum verliert, kann man die Partei vergessen. Für Sturgeon ist das eine ziemlich schwierige Situation.

Hat sich Mays Position mit Trump verbessert?

Ich glaube nicht. Aber was für Möglichkeiten hat sie? Sie fährt nach Washington und will einen Deal. Die USA sind ein traditioneller Verbündeter Großbritanniens. Und Trump ist ein Businessmann. Da geht es dann wohl so: Okay, du willst das, ich will das, etwa ein Foto mit der Königin … Dass ein Staatsbesuch so schnell genehmigt wird, ist nicht üblich. Wir kennen Trumps Bedingungen nicht. Vielleicht war der Besuch ein Teil des Deals, und May hat das zusagen müssen. Großbritannien muss diese Deals nun ohne die EU machen. Die Briten können sich nicht erlauben, mit der EU Probleme zu haben und mit den USA Probleme zu haben.

Mays genaue Brexit-Linie ist nicht klar. Was die EU will aber auch nicht, oder?

Es gibt keine einheitliche Linie. Tusk hat gesagt, Hard Brexit or no Brexit. Das ist für Leute in Großbritannien alarmierend, die eher pro EU sind. Für die EU war es bis jetzt sehr bequem, sich hinter diesem „No Negotiation before Notification“ zu verstecken (also keine Verhandlungen vor Auslösung von Artikel 50, Anm.d.Red.). Vielleicht werden sie im März, wenn es losgehen soll, eine Position haben. Aber es sind 27 Mitgliedstaaten mit unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessen, die sich einmischen wollen. Einfach wird das auch auf EU-Seite nicht.

Eine leicht gekürzte Version des Interviews findet sich in der Tageblatt-Ausgabe vom Mittwoch, 8.2.2016