Portugal wird zum Pulverfass

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Die einstige "Friedensoase" Portugal gibt es nicht mehr. Die Bürger des hoch verschuldeten ärmsten Landes Westeuropas wollen keine weiteren Entbehrungen mehr hinnehmen und steigen auf die Barrikaden.

Die Portugiesen bezeichnen sich gern als „duldsames und friedliebendes Volk“. Die strenge Sparpolitik zur Sanierung der maroden Staatsfinanzen wurde am Tejo-Fluss von den 10,5 Millionen Einwohnern lange Zeit nahezu widerspruchslos mitgetragen. Doch die einstige „Friedensoase“ hat sich inzwischen in ein Pulverfass verwandelt. „Wenn nichts getan wird, um das Konfliktniveau zu senken, laufen wir ernsthaft Gefahr, in sechs Monaten wie Griechenland zu sein.“ Das behauptet nicht die Opposition, sondern der Jurist Luís Marques Mendes, einst Chef der Sozialdemokratischen Partei (PSD) von Ministerpräsident Pedro Passos Coelho.

Andere Kritiker der strengen Sparpolitik – und die sind inzwischen in der überwältigenden Mehrheit – gehen noch weiter: Immer mehr fordern den Rücktritt der Mitte-Rechts-Regierung, darunter nicht nur der Gewerkschaftsfachverband CGTP, linke Oppositionsparteien oder der legendäre Ex-Regierungschef und -Präsident Mario Soares (87), der nach der friedlichen Nelkenrevolution von 1974 die Demokratisierung Portugals entscheidend geprägt hat. Auch gemäßigten Organisationen wie der Anwaltskammer ist der Kragen geplatzt. „Passos hat das ganze Land gegen sich“, Präsident Anibal Cavaco Silva müsse eine „Regierung der Nationalen Rettung“ bilden, fordert Kammer-Boss Marinho Pinto.

Landesweiter Protesttag am Samstag

Der CGTP rief für nächsten Samstag zu einem landesweiten Protesttag auf, und daran änderte nichts, dass Passos am Montag nach den jüngsten Massenkundgebungen und der Kritikwelle die umstrittene Erhöhung der Sozialabgaben fallen ließ und es nun mit einem neuen Sparplan mit weiteren Steuererhöhungen versucht. Es gab sofort neue Kritik: „Das bedeutet für 2013 nur noch mehr Enthaltsamkeit“, sagte etwa João Proença, Chef des gemäßigten Gewerkschaftsbundes UGT, und auch Unternehmer und die Kirche stimmten ein.

Der Handlungsspielraum der Regierung ist jedoch ziemlich klein: Zwar hatten die Kontrolleure der „Troika“ aus EU, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) dem Land schon mehr Zeit zum Erreichen der Sparziele gewährt. Am Montag machte Brüssel jedoch deutlich, dass an dem Sparkurs nicht zu rütteln sei. „Die Ziele werden nicht geändert, das Abkommen wird nicht geändert“, sagte ein Sprecher der EU-Kommission.

Sparpolitik verursachte Rezession

Wehmütig wird die Regierung in Lissabon an die vergangenen Monate denken, als das Volk beim Sparen noch brav mitmachte und Portugal international als „Musterschüler“ unter den Krisenländern gefeiert wurde. Die Erfolge konnten sich sehen lassen. Das Haushaltsdefizit, das 2009 und 2010 Rekorde um die zehn Prozent erreicht hatte, wurde 2011 auf 4,2 Prozent gedrückt. Doch Ende August kam die Hiobsbotschaft vom Finanzministerium: Die von der Sparpolitik verursachte Rezession habe die Steuereinnahmen derart in den Keller getrieben, dass die Sparziele ohne zusätzliche Maßnahmen nicht zu erreichen seien.

Die Portugiesen, die seit einem Jahrzehnt unter einer kränkelnden Konjunktur leiden, bekommen die Entbehrungen inzwischen immer schmerzhafter zu spüren. Die Notenbank teilte mit, der private Konsum sei im August im Vergleich zum Vorjahresmonat um 4,9 Prozent gefallen, die Wirtschaft schrumpfe seit 20 Monaten in Folge. Die Arbeitslosenrate erreichte zuletzt das Rekordniveau von 15,7 Prozent. Die Zahl der Familien, in denen beide Elternteile ohne Job sind, verdoppelte sich in einem Jahr auf knapp 9500. Drogenexperten sagen, der Missbrauch von Alkohol und Rauschgift wachse im Zuge der Krise unaufhaltsam. Die Auswanderungswelle wird unterdessen immer größer, die Arbeitsniederlegungen, Streiks und Proteste immer häufiger.

„Die Lage ist dramatisch. In meinen 18 Jahren in diesem Sektor habe ich noch nie so viele Notleidende gesehen, bei unserer Essensausgabe kommt es (zwischen den Notleidenden) immer häufiger zu Konflikten“, erzählte die Abteilungsleiterin der humanitären Hilfsorganisation AMI, Ana Martins. Kurz und beeindruckend schilderte dieser Tage der international mehrfach ausgezeichnete Architekt Eduardo Souto de Moura die Lage in seinem Land: „Portugal ist wie ein Raum, in dem es keine Luft mehr zum Atmen gibt.“