Sarajevo, 15.00 Uhr. Ein hochgewachsener Slawe steht mit den Händen an der Hüfte vor dem Hotel Holiday Inn. Auf der gegenüberliegenden Straße lauert ein Scharfschütze.
Er zielt vom Dach aus in die Menge. Nur sein Kopf und der Lauf des Gewehrs ragen hervor, der Rest des Teams ist unsichtbar. Sie haben die Passanten im Visier. Der Hüne wedelt vor dem Holiday Inn mit seinen Armen. Schnell rüber zum Klotz in Dottergelb.
Für einen kurzen Moment verschmilzt die Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit – doch keiner der Scharfschützen drückt ab. Vor 22 Jahren wäre Nino hier in der „Sniper Alley“ vermutlich getötet worden. Heute winkt er uns lediglich zur anderen Straßenseite rüber.
Die Männer auf den Dächern bewachen den Westbalkan-Gipfel in Bosniens Parlament. Alles, was in der Region Rang und Namen hat, sitzt in Sarajevo an einem Tisch. Es gilt die höchste Sicherheitsstufe.
„Hatte euch gewarnt“
Zum x-ten Mal sucht man den interregionalen Dialog und lässt sich von der EU-Kommission erklären, was es für den in weite Ferne gerückten EU-Beitritt braucht. Einziger Unterschied: Dieses Mal passiert es im „historischen“ Kollektiv.
Wir laufen zum Wagen. „Tut mir leid, mein Auto ist wirklich klein.“ So schlimm wird es schon nicht sein. Wir bleiben vor einem Fiat Uno stehen. „Ich hatte euch gewarnt.“ Nino bittet, ohne eine Frage zu stellen, zwei fremde Journalisten aus Italien und Luxemburg zu sich ins Auto.
„Flavio hat mir so viel von dir erzählt! Großartig, dass du dir Zeit für uns genommen hast“, bedankt sich Dario, der Kollege aus Italien. „Ich würde alles für Flavio tun, nichts zu danken“, antwortet Nino. Er spricht langsam, wirkt ausgeschlafen und trotzdem müde. Nino hat seinen eigenen Rhythmus.
Das Englisch mit dem typisch slawischen Akzent lullt einen beim Zuhören ein. Seine Stimme ist kräftig, die Bässe geben ihm etwas Väterliches. „Wo soll ich hinfahren? Welche Bilder brauchst du für deinen TV-Sender?“, fragt Nino.
Der Kovaci-Friedhof
Wir fahren die Hügellandschaft entlang und machen am Kovaci-Friedhof halt. Ein Meer aus weißen Grabsteinen blickt auf Sarajevo. Dario verschwindet mit seiner Kamera. Er will das Märtyrer-Denkmal filmen.
Der erste Präsident der Unabhängigen Republik Bosnien und Herzegowina, Alija Izetbegovic, wurde 2003 hier beigesetzt. Die Namen der Toten und die Todesjahre auf den Grabstätten ähneln sich. „Trauere nicht für jene, die auf Gottes Weg getötet wurden. Sie sind nicht tot, sie leben, doch weder fühlen noch sehen kannst du sie“, übersetzt Nino.
Die Toten sind ausschließlich bosnische Moslems, die im Krieg gefallen sind. Mehr als 2.500 Kämpfer liegen hier begraben. Die meisten wurden knapp 30 Jahre alt. Alleine in Sarajevo starben während der Belagerung mehr als 11.000 Menschen. Nino wirkt, als wolle er mehr erzählen, zögert aber. Ein Kopfnicken und ein Lächeln reichen.
„Die Friedhöfe unserer Kriegsveteranen sind den Religionen nach geordnet: Muslime bei Muslimen, Christen bei Christen.“ Im quicklebendigen Sarajevo gibt es mehr Friedhöfe als Sportplätze. Die Vielzahl ethnisch sauber getrennter Todesstätten ist Humor zwischen den Gräbern.
Traumabewältigung
Ninos Blick gleitet vorsichtig über die Grabsteine. Er streckt seinen kahlen Kopf kurz Richtung Sonne und blickt wieder zu Boden. „Der Krieg war schlimm. Mein Bruder wurde schwer verletzt. Er lag zwei Monate im Koma. Er war danach nie wieder derselbe.“
Nino, dessen vollständigen Namen nicht einmal Dario kennt, ist ein liebevoller, aufmerksamer Mann. Doch selbst während er fremde Journalisten durch seine Heimat begleitet, übt er sich beim Spaziergang über den Friedhof in Traumabewältigung. Er erzählt von seiner Familie, den Veteranen, seiner Stadt, aber kein Wort von sich.
Ob er vielleicht Lust hat, bei einer Runde Cevapcici sein Leben Revue passieren zu lassen. Nino strahlt. „Liebend gerne, wenn das für dich in Ordnung geht, Dario“, antwortet der fast verlegen wirkende Bosnier. „Na klar, ich lasse mir die Cevapcici doch nicht entgehen“, witzelt Dario.
Wir fahren zur osmanisch geprägten Bascarsija, der historischen Altstadt. Bosnier und Touristen drängen sich durch die Gassen, ältere Herren verkaufen kupferne Mokkatassen, Lederware und Schmuck. Am Ende landen wir beim Sebilj, dem orientalischen Brunnen in Form eines Kiosks.
Narben und ein Krater
Von hier aus lässt sich der Blick auf die Bergzüge rund um die Stadt genießen. Schönheit und Verletzlichkeit gehen bei diesem Anblick Hand in Hand, wurden doch vor mehr als 20 Jahren noch Granaten von dort oben hier ins Tal geschossen. „Das ist die Stadt, die in sich zusammenfällt und stirbt und gleichzeitig aufersteht und sich entfaltet“, meinte einst Ivo Andric, Jugoslawiens einziger Literaturnobelpreisträger.
Wir nehmen in einer Grillstube Platz. Ninos rasierter Hinterkopf verläuft Richtung Gesicht zu einer Halbglatze. Auf seiner zerfurchten Stirn gesellen sich Narben rund um einen kleinen Krater. Es wirkt, als ob sich unter der Haut ein Hohlraum verberge. Hautfetzen ragen wie eine improvisierte Brücke über die kleine Stirnschlucht.
Nino trägt eine schwarze Hipster-Brille mit bernsteinfarbenen Klecksern im Rahmen. Die müden Lider wölben sich hinter dem Ray-Ban-Gestell über die dunklen Augen. Nino lacht nicht, er lächelt nur mit seinem Hush-Puppy-Blick.
Sein Mund öffnet sich leicht, die breiten Oberzähne treten zum Vorschein. Der Dreitagebart ist auf die gleiche Länge wie sein Haar am Hinterkopf getrimmt. Unter der schwarzen Bomberjacke mit dem roten Vlies trägt er ein weißes T-Shirt.
„Krieg war richtig übel“
Dreht Nino den Kopf, prangt ein großes Tattoo an seinem Hals. Es windet sich wie eine kräftige Kletterpflanze um seine Hauptschlagader. Sein Körperschmuck stammt aus den neunziger Jahren. Nino zieht genussvoll an seiner Zigarette.
„Der Krieg war richtig übel. Es gab nur noch in den ländlichen Gegenden Wasser. Man musste, um in Sarajevo an Wasser zu kommen, bis ganz nach oben in die Berge, wieder runter zu den Flüssen und über Brücken laufen“, erzählt Nino.
Das seien dann vielleicht 20 Liter gewesen. Man habe so viel mitgenommen, wie man nach Hause tragen konnte. „Es gab während Monaten keinen Strom. Aber selbst, wenn es ein paar Stunden funktionierte, ging danach wieder gar nichts.“ Neben der humanitären Krise entfaltete sich ein blutrünstiges Spektakel.
„Die Typen saßen oben in den Bergen, lauerten, soffen und schossen auf uns. Wir liefen und mussten uns hinter Gebäuden verstecken. Es war auf eine merkwürdige Weise beeindruckend, dass so etwas zum Alltag wurde.“
Großartige Partys
Während viereinhalb bis fünf Jahren hätten die Menschen in Sarajevo alle das Gleiche durchlebt. Die Belagerung habe sie sehr stark miteinander verbunden. „Jeder war gleich und jeder half dem anderen.“ Aus Solidarität wurde ein neues Lebensgefühl. Am Tag flogen die Kugeln durch die Gegend, in der Nacht rissen sich die Menschen die Kleider vom Leib.
„Wir hatten die großartigsten Partys. Wir haben überall gefeiert: zu Hause, in Bars – es gab keine Grenzen.“ Es gab aber auch nicht genug Wasser und Brot, doch zum Bierbrauen blieb Zeit. „Das Bier schmeckte scheußlich. Die Hauptzutat fehlte. Man musste zehn Liter davon runterkippen, bevor man auch nur ansatzweise betrunken war. Aber jeder trank es“, witzelt Nino.
Es ist einer der seltenen Momente, in denen er richtig zu lachen scheint. Zigaretten seien auch Mangelware gewesen. Er streut die Überreste seines Glimmstängels in den Aschenbecher. „Wenn man in der Armee war, erhielt man zwei Schachteln pro Tag. Das war dann für die ganze Familie und reichte bei weitem nicht aus.“
Nino diente bis November 1991 acht Monate in der jugoslawischen Volksarmee für Serbien, bevor die Sozialistische Föderative Republik kollabierte und der Krieg in Kroatien wütete. Im April 1992 brach schließlich der gesamtjugoslawische Krieg aus. „Jeder, der wie ich 1971 oder 1972 geboren wurde, hatte viel Pech mit dem Timing. Wir wurden in die Armee eingezogen.“
15 Kugeln in der Waffe
Die Cevapcici werden aufgetischt: saftiges, fettiges Fladenbrot, ein Dutzend Würste pro Kopf, eine Schüssel rohe, in feine Würfel geschnittene Zwiebel und Sauerrahm – so isst man in Sarajevo die Cevapi, die nur Ausländer verniedlichend Cevapcici nennen.
Wir schlemmen. Nur Nino nicht. Er hält seine Gabel mit dem Würstchen wie eine Speerspitze vor unser Gesicht. „Ich hatte vielleicht 15 Kugeln in meiner Waffe. Damit macht man nichts im Krieg. Wir hatten Glück, dass die Serben glaubten, wir besäßen viele Waffen und eine solide Armee. Dabei hatten wir gar nichts.“
Nino nimmt einen Bissen und legt die Gabel nieder. „1992 gingen die Menschen so wie ich in Turnschuhen in den Krieg.“ Er zeigt auf seine Bomberjacke und das T-Shirt. Von Panzerung und kugelsicherer Weste keine Spur. „Wir hatten nicht einmal eine eigene Uniform.“ 15 Jahre vor dem Krieg sei Sarajevo eine Stadt gewesen, in der alle Nationen zusammengelebt hätten.
„Niemand war wirklich religiös, Mischehen standen auf der Tagesordnung. Ich wusste nie, welcher Name zu welcher Religion gehört.“ Während des Kriegs seien vielleicht 15 Prozent der Serben in Sarajevo geblieben, der Rest in die Hügel, in andere Städte oder nach Belgrad gezogen. „Es war schwer zu akzeptieren, dass der Krieg nicht verhindert wurde. Die Menschen Sarajevos, die hier lebten, bereiteten sich keine Probleme – egal welchen Ursprung sie hatten.“
Das Funkgerät fällt
Nino verließ die Armee und arbeitete als Journalist. Er machte die dreckige Feldarbeit, während sich die Star-Journalisten aus den USA nachher aus sicherer Entfernung vor ihre Kamera stellten und sein Videomaterial benutzten. An einem Tag läuft Ninos Kriegsroutine jedoch schief.
Er fährt zum Holliday Inn. Es ist das einzige Hotel zu dem Zeitpunkt, das noch nicht zerstört wurde. Die ausländischen Journalisten schlagen seit Wochen ihr Quartier dort auf. Während draußen die Stadt brennt und Maschinenpistolen knattern, versuchen im Hotel 150 Angestellte eine krampfhaft aufrechterhaltene Insel der Normalität am Leben zu halten.
Nino filmt jeden Tag die Massaker, den Fünf-Sterne-Bunker sieht er nur von außen. „Ich fahre also einen Kollegen zum Holiday Inn und plötzlich schießt ein Scharfschütze von einem hohen Gebäude auf unseren Wagen. Ich entscheide mich, eine andere Route zu wählen und denke mir: ‚Dann passiert dir schon nichts.’“
Nino fährt weiter. „Plötzlich fällt mein Funkgerät zu Boden.“ Genau in dem Moment knallt eine Kugel durch die Windschutzscheibe. „Es fühlte sich an, als ob mir jemand mit voller Wucht ins Gesicht getreten hat, als sei mein Kopf wie ein Fußball beim Volley gegen einen harten Schuh geknallt.“ Nino realisiert direkt, was passiert ist.
Die Windschutzscheibe
„Ich hatte ein weißes T-Shirt an und blickte runter auf meine Brust. Ich sah das Blut. Es floss mein Kinn entlang und tröpfelte zu einem Mosaik auf meine Kleidung. Allerdings gab es ein kleines Problem. Ich habe die Kugel in meinem Kopf gespürt, fasste mir an den Hinterkopf, doch fand ich nirgends die Austrittsstelle.“
Er wischt über seine Glatze und tastet sie ab, als erlebe er die Situation ein zweites Mal. Er greift sich ans Kinn. „Dann dämmerte es mir: Sie haben im Krieg irgendwann angefangen, explosive Munition zu benutzen. Die Kugel war beim Aufprall mit der Windschutzscheibe explodiert, mein Kopf wurde von den Splittern durchsiebt. Ich wurde am Auge, am Kinn, an der Nase, in der Brust und am Vorderkopf getroffen.“
In seiner Stirn sieht man heute noch den kleinen Krater. „Wäre mein Funkgerät mir nicht gefallen, wäre ich mit Sicherheit tot.“ Nino bleibt bei Bewusstsein, will aber nicht alleine ins Krankenhaus. Er fährt zu seinem Fernsehsender. Es sind qualvolle 15 Minuten.
„Ich wurde erst sieben Tage, nachdem ich verletzt wurde aus der Stadt in ein Krankenhaus gebracht und dann nach London. Man bastelte mir mit Plastikchirurgie ein neues Gesicht.“ Betretenes Schweigen. „Wenn du in ungewöhnliche Umstände hinein gesogen wirst, akzeptierst du sie als normal. Wenn ich jetzt daran zurückdenke … total verrückt!“ Nino schüttelt den Kopf.
Ein Sinnsuchender
Der 45-Jährige ist einsam, ein Sinnsuchender. Höhepunkt und sinnstiftendes Element seines Lebens war der Krieg. „Es waren die besten Liebschaften und Freundinnen, die ich je in meinem Leben hatte. Ich heiratete 1994 während des Kriegs.“
Für Nino gab es keine Zukunft, er lebte für den Augenblick: „Du denkst dir: ‚Ich kann morgen getötet werden. Ich muss alles ausprobiert haben. Ich will verheiratet gewesen sein, ein Kind gehabt haben.’“ Ninos Sohn kommt 1994 im Krieg zur Welt. Es war die pure Euphorie.
„Ich war total glücklich, total froh. Dann endete der Krieg und ich realisierte, dass ich nie wirklich in meine Frau verliebt war.“ Die meisten Ehen, die während des Kriegs geschlossen wurden, endeten später in Scheidungen. Dennoch bereut Nino nichts.
„Es gab sehr viel Sex. Wenn du den Eindruck hast, dass du jederzeit sterben kannst, treibst du es einfach mit jedem.“ Nach dem Krieg habe er schnell in seinen alten Rhythmus zurückgefunden und erkannt, wie wirr sein Verhalten gewesen sei. Dennoch: „Ich war 19, als die Hölle in Sarajevo ausbrach. Der Krieg hat mich definiert.“
Nino wirkt verletzlich
Wieder schweigt er. Die Abstände zwischen Erzählen und Verkrampfung werden immer länger. Nino hat kein Bedürfnis nach psychologischer Betreuung oder nach Spiritualität. Er findet im Erzählen seiner Lebensgeschichte Kraft.
Etwas fehlt ihm aber besonders: „Es war nicht normal während des Kriegs, dass, wenn jemand zusammenbrach, niemand ihm half. Es war normal, dass jeder zu der Person hinrannte und ihr beim Aufstehen half oder sie wegschleppte. Heutzutage passiert genau das Gegenteil.“ Sein Telefon klingelt.
„Entschuldigt mich bitte.“ Er spricht in genau dem gleichen Ton mit der gleichen Emotionslosigkeit weiter. Nur seine strahlenden Augen und das vorsichtige Lächeln verraten, dass Nino mit jemand Besonderem telefoniert. „Sorry, das war mein Sohn. Er hat angefangen, zu arbeiten. Heute war sein erster Tag.“ Was sein Sohn denn für einen Job habe, fragen wir.
„Oh, er arbeitet in einem Billard-Club. Er ist derjenige, der den Leuten die Bälle gibt und … nichts wirklich Intellektuelles.“ Nino schämt sich nicht für seinen Sohn. Er fürchtet aber, dass wir seine Arbeit nicht respektieren. Nino wirkt zum ersten Mal verletzlich. Es verleitet uns dazu, ihm zu versichern, dass jede Form von bodenständiger Arbeit in jungen Jahren ehrenwert und sinnvoll ist.
„Ich werde alt“
„Ja.“ Nino nickt mit dem Kopf. „Es ist schwer, Geld zu verdienen. Deswegen muss man studieren. Aber er will nichts … lernen und …“ Wieder eine Pause. Fast flüstert er in sich hinein: „… deswegen muss er anfangen, zu arbeiten.“ Er blickt in seinen Teller. Nino sorgt sich um seinen Sohn. Er ist weit davon entfernt, zu weinen. Dennoch wirkt er emotional.
Wie es denn um Sarajevos Jugend von heute im Allgemeinen stehe. Nino schreibt auf seinem imaginären Smartphone Textnachrichten und streckt den Arm von sich weg, um Selfies zu machen. „Facebook, Twitter, Instagram …“
Er hält kurz inne und sagt unverblümt: „Ich werde alt. Das ist komisch für mich. Ich habe den ganzen Quatsch selbst auf meinem Handy. Wenn ich aber mit jemandem reden will, gehe ich noch am liebsten aus, um mir ein paar Drinks zu genehmigen.“
Nino weiß, dass Krieg weder eine Lösung noch ein Lebensstil ist. Doch man spürt seine Sehnsucht nach der alten Welt und ihren Werten. Er fühlt sich allein und fremd in seiner Heimat. Er gehört noch zur Raja, der alteingesessenen Stadtbevölkerung Sarajevos.
Die Raja und die „papci“
„Als ich vor dem Krieg durch die Stadt ging, kannte ich einfach jeden: Die Ladenbesitzer, die Restaurantbetreiber. Ab und zu brauchte ich alleine 15 bis 20 Minuten, um durch diese eine Straße zu laufen, weil ich überall stehen bleiben musste, um die Leute zu grüßen. Wenn ich jetzt ein, zwei bekannte Gesichter – Bekannte, nicht Freunde – sehe, ist das bereits etwas Besonderes.“
Die neuen Einwohner Sarajevos sind Binnenflüchtlinge. Die über 150.000 Neuankömmlinge aus den ländlicheren Gebieten Süd- und Ostbosniens strömten im Zuge der ethnischen Säuberungen in die Stadt. Die Raja lachte zu Beginn über die Landeier, die sogenannten „papci“ oder „seljaci“, die am Anfang noch ihren Müll aus den Fenstern warfen. Sie lernten jedoch schnell, sich anzupassen.
„Sie haben die Stadt übernommen. Ihre Leute haben Geld, fahren teure Autos. Die Menschen, die hier gekämpft haben, krepieren. Gestern haben rund 2.000 Kriegsveteranen vor dem Parlament demonstriert.“ Die Militärpensionen wurden halbiert. Die Veteranen erhalten jetzt nur noch 200 Euro.
„Davon kann niemand leben. Eine Wohnung kostet bis zu 400 Euro und dann hat man noch nicht gegessen oder getrunken. Die Veteranen haben Traumata, wurden verletzt, haben einen Arm oder ein Bein verloren.“
„Respekt, Führung“
Auch Ninos Welt wurde mit dem Krieg zerstört, sein Kampf für die Rückkehr zum alten Sarajevo wirkt vergeblich. „Ach, die guten alten Zeiten. Weißt du: Respekt, Führung.“ Er sieht, dass seinem Gegenüber die Wurst fast im Hals stecken bleibt. „Im Ernst. Ich bin total dafür.“ Er grinst und beißt in seine Cevapi. Er erzählt von seinen Auslandsaufenthalten nach dem Krieg.
Er arbeitete weiter als Reporter und absolvierte Journalismuskurse. Zunächst in Rom, dann in London. „Jedes Mal, wenn ich in London war und nach Sarajevo zurückkehrte, musste ich fast weinen. Es gab gemischte Pärchen, eine Schwarze und ein Italiener. Das erinnerte mich an Sarajevo vor dem Krieg. Damals war es egal, ob du Muslime, Jude oder Christ bist. ‚No one really gave a shit.’“
Heute müsse bei den Nachkriegsgenerationen alles gleich sein: Religion, Ethnie. Er zeichnet mit seinen Fingern Reihen in die Luft und zieht Trennlinien. „Für uns Alte spielt das alles keine Rolle mehr.“
Nino vereint viele Widersprüche in sich. Trotz seiner Sehnsucht nach mehr Führung ist er ein toleranter Mensch. „Es ist doch egal, mit wem du ins Bett gehst. Ob jemand ein Kopftuch trägt oder sonst eine Religion hat, spielt keine Rolle.“ Dennoch ist sein Hang zum Autoritarismus unüberhörbar.
„Ich weiß nicht …“
„Ich erinnere mich noch daran, dass wir als Kinder spielten und ‚Ich schwöre auf Tito‘ riefen. Heute hörst du ‚Allah, Allah‘. Die Christen und die Orthodoxen sind genauso schlimm.“ Er würde aber niemals seinen Sohn von der Heirat mit einer Muslimin abhalten. Bislang stellte sich gar nicht die Frage, ob Nino religiös ist.
„Meine Ex-Frau war orthodox. Ich bin Muslime.“ Das sitzt. Der anti-muslimisch wirkende Moslem Nino bekennt sich zu einem Glauben. Der ethnisch-religiöse Wahn der Kriegsjahre hat ihn aber gebrochen. „Wenn ich morgen hier auch nur eine Kugel fliegen höre oder Wind davon kriege, dass es erneut zu Krieg kommt, bin ich weg.“
Seine Generation wolle nicht mehr kämpfen. Sie habe gekämpft. Man wolle nicht noch einmal die gleichen Fehler begehen. Er nimmt den letzten Bissen Cevapi und lädt auf eine Runde bosnischen Kaffee ein. „Heute war der serbische Premier Vucic hier. Er schlägt Dialog vor. Ich weiß nicht …“
Nino wischt über seine Stirn.
De Maart

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