Mittwoch5. November 2025

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Lüttich versucht den Alltag

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Der Amoklauf von Lüttich hat die Stadt verändert. Die Menschen haben Angst. Ihre Gedanken kreisen um das Blutbad, mit Bildern von Verletzten und Toten. Die Welt ist nicht mehr im Lot.

Es ist nur trügerischer Schein: Einen Tag nach dem Blutbad lebt Lüttich seinen Alltag. Am frühen Morgen strömen die Menschen zur Arbeit, Kinder gehen zur Schule, die Straßen füllen sich. Später öffnen sogar die Buden auf dem Weihnachtsmarkt. Aber wer will schon dahin, wo Granaten und Schüsse eines Amokläufers mehr als hundert Menschen verletzten und mindestens fünf töteten?

Im Café am Bushof herrscht reger Betrieb. Wären da nicht die Einschläge von Granatsplittern in der Glasscheibe, könnte man meinen: Alles wie immer. Doch nicht nur Stefan Binot, den Mann hinter der Theke im Café, martern die Bilder, die er nicht los wird.

Die Bilder lassen ihn nicht los

Das Blutbad geschah vor Binots Augen, nur getrennt durch die Fensterscheiben, wenige Meter entfernt: Explosionen, Schüsse, Schreie, Panik, Chaos, Rettungskräfte, Verletzte, Blut. Die ganze Nacht haben ihn die Bilder verfolgt. „Wir haben noch schnell zwei Menschen ins Geschäft gezogen, einer war verletzt“, erzählt Binot. Alle warfen sich im Café auf den Boden.

Und dann am Tag danach: „Das ist merkwürdig. Da kommt man hierher und alles läuft einfach weiter.“ Irgendwie versteht er es nicht. Seine Welt ist nicht mehr im Lot. Er geht zurück zur Theke, setzt eine freundliche Miene auf. Der nächste Kunde will einen Kaffee.

„Business as usual“

Draußen herrscht reger Busverkehr. Menschentrauben stehen an den Wartehäuschen, viele Schüler aus den Schulen nebenan. Wie jeden Tag – wie am Vortag, als der Amokläufer drei Granaten auf ein Wartehäuschen warf und auf die Menschen feuerte.

Zwei Jugendliche im Alter von 15 und 17 Jahren starben, später auch ein 17 Monate altes Kleinkind. Der Amokläufer schoss sich mit einem Revolver in den Kopf. Einschließlich des Täters mit marokkanischen Wurzeln starben fünf Menschen. 125 Menschen wurden verletzt. Unter ihnen auch der Freund von Jerôme Harray.

Er wartete – und wurde verletzt

Jerôme und sein Freund kamen zusammen aus der Schule. Jerôme erwischte noch seinen Bus um 12 Uhr. Der Freund wartete auf einen anderen Mitschüler, nahm einen Bus später – und liegt jetzt schwer verletzt im Krankenhaus. „Er wurde schon operiert“, erzählt der Junge. Er ist nachdenklich, fühlt sich nicht sicher.

Vor ihm stellen Mädchen vor der Ansammlung von Blumen und Stofftierchen Teelichter in Herzform auf. Es regnet. Es ist trostlos. Eine Gestalt, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, legt einen großen Strauß weißer Rosen und Lilien ab – ohne zu verharren, eilt sie davon. Anderen rinnen Tränen über die Wangen.

Pausenloses Weinen

Der Amoklauf hat die Menschen erschüttert. Das ist nicht mehr ihre Stadt, der sie vertrauen und in der sie sich sicher fühlen. Wie Sarah Gillet, deren Söhne am Tatort vorbeikommen, wenn sie zur Schule gehen. Wie der junge David Degueldue, dessen verletzte Freundin am Morgen nur geweint hat, pausenlos. Cathérine Guenard hat die ganze Nacht wach gelegen. Die Gedanken waren ein einziger Teufelskreis. Sie hat Angst um ihre drei Kinder.

Plötzlich tauchen im Stadtzentrum Handzettel auf. „Zeichne mir ein Schaf“, steht darauf, ein symbolträchtiger Satz aus „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry. Darunter der Satz: „Angst ist unser einziger Feind.“ Der Zettel klebt an Schaufenstern, den vielen Übertragungswagen der Fernsehsender, auf einem Transparent hängt er über der Straße.

Dass der Amokläufer Nordine A. die Putzfrau eines Nachbarn erschoss, bevor er zum Weihnachtsmarkt zog, dringt bei den Menschen im Zentrum nicht richtig durch. Die Leiche der Frau wurde in einem Schuppen gefunden, in dem der 33-Jährige Cannabis angebaut hatte. Der Schuppen liegt in einem Stadtviertel, in dem viele Einwanderer zu Hause sind: Hausnummer 33, ein zweigeschossiges Backsteinhaus, an dem das Holz der Fensterrahmen bröckelt. Die Rollos sind heruntergelassen, die Polizei hat Haustür und Garagentor versiegelt. Nachbarn winken ab, sie wollen nichts erzählen.