Lügen haben lange Beine

Lügen haben lange Beine
(Patrick Muller)

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Kann man die Zukunft eines Landes auf Lügen aufbauen? Und ob, man kann. Luxemburg ist dafür das beste Beispiel.

Nächste Woche läuft „Eng nei Zäit“ in den luxemburgischen Kinos an. Am 07.10 war Weltpremiere beim Filmfestival in Namur.

Ein Thema, das bis jetzt nur von einigen Historikern, Politikern und Journalisten diskutiert wurde, wird von Christophe Wagner in seinem Film „Eng nei Zäit“ behandelt.

Die Bilder der Nachkriegszeit, die das Allgemeingedächtnis bestimmten, sind Bilder von glücklichen Menschenmassen am Straßenrand, die der Großherzogin zujubelten. Jubel hat es zweifellos gegeben, aber nicht nur. Die Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren auch eine Zeit des Neuaufbaus, aber auch der Abrechnungen.

„Kann man die Zukunft auf Lügen aufbauen?“, fragt der Untertitel des Films „Eng nei Zäit“. Spontan würde jeder sagen, nein, das geht nicht. Die Arbeit von Historikern wie Vincent Artuso z.B. hat jedoch gezeigt, dass man es sehr wohl konnte. Jahrzehntelang wurde der Mythos des „guten“ Luxemburgs aufrechterhalten, der sich aktiv oder passiv gegen die Nazi-Besatzer zur Wehr setzte. Was bisher jedoch nur in Doktorarbeiten von Historikern oder in Zeitungsartikeln zu lesen war, wird nun dank des Films von Christophe Wagner einem breiteren Publikum zugänglich gemacht.

Die Story

Ausgehend vom fünffachen Mord vom Wandhaff im Sommer 1945 zeigt Wagner die Verlogenheit der damaligen Gesellschaft, in der nicht immer klar war, wer Kollaborateur und wer Widerstandskämpfer war. Eine deutsche Familie wird mit ihrem luxemburgischen Hausmädchen (Elsa Rauchs) ermordet. Jeder scheint daran interessiert zu sein, dass es Raubmord war. Der Kriegsheimkehrer Jules (Luc Schiltz), der bei der Gendarmerie arbeitet und dessen Freundin das getötete Hausmädchen war, geht Indizien nach, die darauf hinweisen, dass die Familie sterben musste, damit der Verrat an Luxemburgern während des Kriegs nicht aufgedeckt wird. Ein Landstreicher (Luc Feit) dient als Sündenbock.

Mit seiner Hinrichtung soll die Wahrheit vertuscht werden. Die Lüge wird zur offiziellen Version erklärt.
Wagner zeigt anhand dieses Einzelfalls, wie die Politik und die Justiz „Kollaboration“ behandelten. Wie sagt einer der Protagonisten im Film: „Wenn sie jeden wegsperren würden, der irgendwie mit den Deutschen zusammenarbeitete, wäre niemand mehr übrig.“ Und das durfte natürlich nicht sein. Der Mikrokosmos eines Dorfes steht stellvertretend für das ganze Land.

Der Film beginnt mit einer Szene, die in einem Gefängnis spielt: Ein Insasse wird, mit einer Kapuze über dem Kopf, zum Verhör gebracht. Nach dieser Eingangsszene wird ein Zitat von Shakespeare – „What’s past is prologue“ (sinngemäß: Unsere Gegenwart baut auf der Vergangenheit auf) – eingeblendet. Doch das Vergangene wird von mehreren Seiten totgeschwiegen. Luxemburg konnte also sehr wohl auf dem Mythos des allgemeinen Widerstands und somit auf einer Lüge aufbauen. Die allgemeine Entschuldigung, die wie ein roter Faden den Film durchzieht, lautet: „Et war alles net sou einfach.“

Damals wie heute

„Eng nei Zäit“ spielt mit seinem Titel darüber hinaus auch auf die Gegenwart an. Affären, die unter den Teppich gekehrt wurden, gab und gibt es in Luxemburg einige, nicht zuletzt die Bommeleeër-Affäre, bei der höchste Beamte aus Staatsräson bevorzugten, ihren Mund zu halten.
Christophe Wagner schuf mit „Eng nei Zäit“ kein filmästhetisches Meisterwerk, es ist aber eine saubere Arbeit, die – und das ist unüblich bei luxemburgischen Produktionen – bis in die kleinsten Sprechrollen mit richtig guten Schauspielern besetzt wurde.

Sehenswert ist der Film allerdings aus historischen Gründen. Obwohl er behauptet, er habe keinen historischen Dokumentarfilm drehen, sondern eine Geschichte zeigen wollen, trägt Wagner mit seinem Film zur Diskussion um unsere Geschichte bei. Und darin liegt sein Verdienst. Es ist das erste Mal, dass das luxemburgische Kino die Nachkriegsmonate und deren Schattenseite thematisiert. Was umso überraschender ist, da einer der ersten Langfilme, die hierzulande gedreht wurden – „Déi Zwee vum Bierg“ – sich bereits 1985 dem Zweiten Weltkrieg und der Besatzung widmete. 30 Jahre musste man also auf die logische Fortsetzung warten.