Europaparlament fordert Erdogan heraus

Europaparlament fordert Erdogan heraus
(Reuters/REUTERS/Vincent Kessler )

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Der im März zwischen den EU-Staats- und Regierungschefs und der Türkei ausgehandelte Flüchtlingspakt gerät zusehends ins Wanken.

Das Europäische Parlament will der zentralen Forderung Ankaras erst nachgeben, wenn dazu alle Kriterien erfüllt wurden. Was allerdings angesichts der letztwöchigen Äußerungen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan nicht fristgerecht eintreten dürfte.

Es ist ein „schmutziges Abkommen“

Das Europäische Parlament sollte sich gegen das Abkommen mit der Türkei stellen, forderte gestern die Linken-Abgeordnete Marina Albiol, während ihre Fraktionskollegin Cornelia Ernst den EU-Türkei-Deal als ein „schmutziges Abkommen“ bezeichnete. Beide besuchten Anfang Mai gemeinsam mit einem dritten Linken-Abgeordneten Abschiebezentren und Flüchtlingslager an der türkisch-griechischen und an der türkisch-syrischen Grenze. Sie kommen zum Schluss, dass es für die allermeisten Flüchtlinge in der Türkei keine Zukunft gebe und sowohl gegen die europäische Menschenrechtskonvention als auch gegen die Genfer Flüchtlingskonvention verstoßen werde.
Die Probleme würden allerdings bereits in Griechenland beginnen, wo nach Angaben von Cornelia Ernst vor allem Nicht-Syrern eingeredet werde, keinen Asylantrag zu stellen. Und wieder einmal von Griechenland in die Türkei zurückgebracht, hätten Nicht-Syrer keine Chance, überhaupt Asyl zu bekommen, was etwa der Fall für Menschen aus Pakistan sei. Sie müssten unweigerlich mit einer Abschiebung rechnen, sagte die Spanierin Marina Albiol. In die von der EU mitfinanzierten Abschiebezentren würden ohnehin keine Anwälte reinkommen und es gebe keine medizinische Versorgung. Syrische Flüchtlinge, von denen 90 Prozent nicht in Lagern lebten, würden in türkischen Fabriken ausgebeutet, selbst Kinder würden dort arbeiten, so die Linken-Abgeordnete weiter. Andere wiederum würden wieder nach Syrien abgeschoben. gk

Die Türkei sieht sich im EU-Parlament zunehmender Kritik ausgesetzt, nicht zuletzt wegen des Umgangs mit der Meinungs- und Pressefreiheit oder den Minderheiten im Land. Die vorige Woche vom türkischen Präsidenten angekündigte Weigerung, irgendetwas an der Anti-Terror-Gesetzgebung zu ändern, hat die EP-Abgeordneten dazu bewogen, selbst Klartext zu reden. Sie würden nicht eher mit den legislativen Arbeiten zur Visa-Liberalisierung für türkische Staatsbürger beginnen, bevor nicht alle dazu vorgesehenen Bedingungen von Ankara erfüllt wurden, hieß es gestern unisono von den Fraktionen.

Entschluss der Konferenz der Präsidenten

Deren Vorsitzende verwiesen auf einen entsprechenden Entschluss der Konferenz der Präsidenten, die sich bereits vor einer Woche auf diesen Standpunkt geeinigt hatte. Die EU-Parlamentarier werden erst dann mit den Diskussionen über die Visa-Erleichterungen im zuständigen Ausschuss beginnen, wenn die EU-Kommission schriftlich garantiert, dass die Türkei alle 72 Kriterien dazu erfüllt. Bei einer vorige Woche von der Kommission vorgelegten Bestandsaufnahme standen noch fünf Punkte aus, darunter der Datenschutz sowie eine Anpassung der Anti-Terror-Gesetzgebung. Was Recep Tayyip Erdogan nun vollmundig erklärt hat, nicht ändern zu wollen.

Der für Visa-Angelegenheiten zuständige Ausschuss für zivile Freiheiten im EP bekräftigte bei seiner Sitzung am Montagabend den Standpunkt der Parlamentarier – die ohnehin skeptisch gegenüber der Mitte März beim EU-Gipfeltreffen getroffenen Abmachung mit dem damaligen türkischen Regierungschef Ahmet Davutoglu sind, da versucht werde, das EP zu umgehen. Der juristische Dienst des EU-Parlaments stellte denn auch während der Ausschusssitzung klar, dass es sich bei dem Türkei-Deal nicht um ein internationales Abkommen, sondern um eine unverbindliche politische Absichtserklärung handele.

Von der nun ein wesentlicher Punkt nicht erfüllt werden dürfte. Bis Ende Juni sollte die Visa-Erleichterung für türkische Staatsbürger stehen, haben die EU-Staats- und Regierungschefs im März mit Davutoglu vereinbart. Wird es nicht dazu kommen, ist zu erwarten, dass auch Ankara sich nicht mehr an die Abmachung gebunden fühlt. In diesem Fall könnte die Türkei nicht nur keine Flüchtlinge aus Griechenland mehr aufnehmen. Der türkische Präsident könnte zudem seine Drohung wahrmachen und Flüchtlinge in der Türkei wieder vermehrt Richtung EU ziehen lassen.

Bei Flüchtlingspolitik nicht auf Türkei setzen

„Erdogan muss klarstellen, dass auch er zur Vereinbarung steht“, forderte gestern der Vorsitzende der konservativen EVP-Fraktion, Manfred Weber. Er betonte, dass seine Fraktion nach wie vor zu der Abmachung stehe. Auch von der Fraktion der Sozialdemokraten komme „im Grundsatz kein Widerstand“ gegen die Visa-Erleichterung, erklärte deren Vorsitzender, der Italiener Gianni Pittella, gestern.

Er ließ dennoch ein gewisses Unbehagen erkennen, indem er auf die zunehmenden Verletzungen der Meinungs- und Pressefreiheit sowie die Drohungen gegen Universitätsprofessoren und Intellektuelle hinwies. Die Liberalen und Grünen im EP hingegen wollen sich bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise nicht auf die Türkei verlassen.
Die Kovorsitzende der Grünen-Fraktion, Rebecca Harms, forderte, dass die EU sich von ihrer bisherigen Politik gegenüber der Türkei trennt. Es lasse sich „keine gute und dauerhafte Flüchtlingspolitik betreiben, wenn man sich auf die Türkei stützt“, sagte die Deutsche.

Europäischer Grenz- und Küstenschutz

Auch der Vorsitzende der Liberalen im EP, Guy Verhofstadt, will nicht abwarten, ob die Vereinbarung mit der Türkei funktioniert. Er fordert, dass so schnell wie möglich ein europäischer Grenz- und Küstenschutz geschaffen wird und die EU-Asylpolitik durch eine gemeinsame Rückführungspolitik ergänzt wird, um so auch die osteuropäischen Staaten wieder mit ins Boot zu holen.

Schließlich haben auch die Linken im EP grundsätzliche Probleme mit der Türkei-Politik der EU, weshalb sie für den heutigen Mittwoch eine gesonderte Debatte dazu beantragt haben.