Eine schrecklich utopische Familie

Eine schrecklich utopische Familie
(Jens Kalaene)

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Marie, Jean, Lis und Theo brauchen als Familie rund 4.000 Euro im Monat, um in Luxemburg gut zu leben. Der Haken dabei: Sie sind utopisch perfekt. Und hatten viel Glück.

In ihrer letzten Veröffentlichung hat das luxemburgische Statistikinstitut Statec untersucht, wie viel eine Familie braucht, um in Luxemburg gut leben zu können. Hierfür wurde eine Musterfamilie, bestehend aus der Mutter Marie (42 Jahre), dem Vater Jean (43 Jahre), Tochter Lis (14 Jahre) und Sohn Theo (10 Jahre), als Beispiel angeführt.

Das Resultat: Die Familie braucht genau 3.935 Euro, die sich wie folgt aufteilen:

Nur gibt es ein Problem. Bei den vier läuft alles, aber wirklich alles super. Und sie hatten bei verschiedenen Ausgaben eine ungeheuere Portion Glück. Das Leben von Marie, Jean, Lis und Theo ist unrealistisch perfekt. Sehen wir uns die verschiedenen Bereiche im Detail an.

Wohnen

Laut Statec wohnt die Familie in einer größeren Stadt, aber nicht in der Hauptstadt. Die zweitgrößte Möglichkeit wäre also Esch/Alzette. Ihr Appartement hat 100 Quadratmeter und die Familie zahlt, ohne Nebenkosten, 1.191 Euro Miete. In Esch/Alzette gibt es laut einer Wohnungs-Suchmaschine eine einzige Anzeige mit den vorgegebenen Kriterien.

In diesem Appartement gibt es allerdings nur ein Schlafzimmer. Ungeeignet für eine vierköpfige Familie. In der drittgrößten Stadt, Differdingen, fand die Suchmaschine nichts. In der viertgrößten, Düdelingen, ebenfalls nichts. Um eine Wohnung in den abgesteckten Kriterien zu finden, braucht eine vierköpfige Familie also sehr viel Glück.

Nahrung

Hier erklärt der Statec, dass eine Ernährungsberaterin einen Essensplan für die ganze Familie aufgestellt hat. Abgesehen davon, dass sich die vier Familienmitglieder exemplarisch ernähren (es sind nur 217 Euro für Fleisch, Fisch und Eier im Monat vorgesehen), springen noch andere Summen ins Auge.

Die beiden Eltern gehen einmal die Woche mit den Kollegen essen. Für 8,40 Euro. Für einen Kebab und eine Cola würde der Betrag vielleicht noch reichen. Ein Tagesmenü in einem Restaurant kostet selten so wenig, außer man trinkt nur Leitungswasser – was es nicht in jedem Restaurant in Luxemburg gibt – und verzichtet auf jeglichen Schnickschnack, beispielsweise einen Kaffee nach dem Essen. Trotzdem wäre die Restaurantwahl sehr begrenzt.

Transport

Die utopische Familie des Statec fährt, wie sollte es anders sein, besonders viel mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Sie hat zwar ein Auto, benutzt dieses jedoch nur sehr selten für Ausflüge oder um Einkäufe zu tätigen. Es legt lediglich 15.000 Kilometer im Jahr zurück. Das Auto wurde für 8.900 Euro gebraucht gekauft und die Familie benutzt es zehn Jahre lang.

Auch hier hilft ein Blick auf eine luxemburgische Autoverkaufsseite. Für den angegebenen Preis haben die meisten Autos mindestens 100.000 Kilometer auf dem Zähler. Realistischer sind 150.000, wenn man nicht das älteste Auto kauft. Dass bei dem Gebrauchtwagen in den kommenden zehn Jahren kein Problem auftreten wird, ist äußerst unwahrscheinlich.

Freizeit

In der Kategorie Freizeit stehen einem die Haar zu Berge. Die Berechnung des Statec mit einem Gesamtbetrag von 548 Euro teilt sich wie folgt auf:

Die vier haben besonders günstige Hobbies. Vater und Sohn spielen Fußball, die Mutter ist im Gymnastik-Club und die Tochter spielt Volleyball. Ein Glück, dass die 14-jährige Lis nicht auf die Idee gekommen ist, Klavier oder Gitarre lernen zu wollen. Oder sonst ein Hobby betreibt, bei dem tatsächliche Kosten entstehen.

Einmal im Monat geht die Familie ins Kino, Theater, Museum oder sieht sich ein Konzert an. Beim Konzert fallen übrigens nur 20 Euro Eintrittspreis an. Ein Essen davor oder danach ist nur in jedem zweiten Monat drin. Die Familie geht eben nur alle zwei Monate ins Restaurant.

Das Statec hat auch vorgesehen, dass der Vater einmal die Woche mit seinen Kumpels ein Bier trinken oder Pommes essen geht. Ihm stehen dann 12,75 Euro pro Ausgang zur Verfügung. Mutter Marie hat gefälligst zu Hause zu bleiben. Sonst geht die Rechnung nicht mehr auf. Dass Tocher Lis mit ihren 14 Jahren in ein, zwei Jahren auch Lust haben wird, am Freitagabend etwas mit ihren Freunden zu unternehmen und beispielsweise Diskotheken zu besuchen (sehr teuer), ist auch nicht vorgesehen.

Handys und Laptops, die nie kaputt gehen

Auch bei den neuen Technologien hapert es an der Realitätstauglichkeit. Die Eltern und Tochter Lis haben ein Smartphone, das jeweils 79 Euro kostet. Die beiden Laptops der Familie kosten einzeln etwas über 500 Euro. So weit, so gut. Nur ist der Statec in seiner Rechnung davon ausgegangen, dass all diese Geräte eine Lebensdauer von fünf Jahren haben. Jeder, der einmal in seinem Leben ein paar elektronische Geräte hatte, weiß, dass mindestens eines davon in den fünf Jahren kaputt gehen wird.

Auch bei den Ferien muss die Familie mit dem absoluten Minimum leben. 1.000 Euro stehen zur Verfügung, um einmal im Jahr ans Meer zu fahren. Bei der Unterteilung fallen vor allem die Benzinskosten bis zum Ferienort auf: 50 Euro. Damit würde die vierköpfige Familie samt Gepäck möglicherweise noch bis an die Küste kommen. Für den Rückweg genügt es sicherlich nicht. Übrigens dürfen die vier während den Ferien nur einmal ins Restaurant, einmal zum Bowling und einmal in den Freizeitpark.

Die Rechnung des Statec ist nicht grundsätzlich falsch. Sie ist einfach utopisch. Viele vierköpfige Familien müssen in Luxemburg monatlich mit rund 4.000 Euro über die Runden kommen. So gut wie Marie, Jean, Lis und Theo können sie allerdings kaum leben. Dass eine Familie so viel Glück hat, ist ziemlich unwahrscheinlich. Niemand ist krank. Nichts geht kaputt. Alles läuft nach Plan. Übrigens bekommen Marie, Jean, Lis und Theo auch den Preis der sparsamsten Familie Luxemburgs. Glückwunsch.

Hier geht es zur Veröffentlichung des Statec: Link. Wir haben nur ein paar Beispiele aufgelistet. In der Studie befinden sich noch andere Zahlen, deren Realitätstauglichkeit höchst fragwürdig sind.

Der Statec hatte vor ein paar Monaten bereits eine ähnliche Studie durchgeführt, die für viel Aufsehen gesorgt hatte. Die Lebenskosten für eine einzelne Person waren laut ihren Berechnungen damals unter dem Mindestlohn. Link