„Die Krise hat ein Eigenleben entwickelt“

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Aus Protest gegen neue Austeritätsmaßnahmen haben Tausende Griechen gestern gestreikt. Weshalb die Griechen die Nase voll haben, verrät der Journalist Giannis Seferiadis.

Das griechische Parlament soll heute über ein neues, rund fünf Milliarden Euro schweres „Spar“- und Reformpaket abstimmen. Stichwort: Austerität. Es beinhaltet u.a. Rentenkürzungen in Höhe von 2,7 Milliarden Euro ab 2019 und eine drastische Senkung des Steuerfreibetrags.

Zur Person
Der Grieche Giannis Seferiadis arbeitet als Journalist für das „International News Department“ der griechischen Nachrichtenagentur „Athens News Agency – Macedonian News Agency“. Er hat jahrelang in griechischen und ausländischen Medien als Freelance-Journalist gearbeitet. Zu seinen Schwerpunkten gehören politische, soziale und kulturelle Themen. Er arbeitet zurzeit ebenfalls für die „Nikkei Asian Review Newspaper“. Sein Fokus hat sich zuletzt auch auf den Nahen Osten konzentriert. Seferiadis hat etwa aus dem Kriegsgebiet in Kobane berichtet.

Die Kürzung um rund ein Drittel, von 8.636 auf 5.700 Euro, soll ab 2020 dem griechischen Fiskus jährlich rund zwei Milliarden Euro bringen. Zudem sollen Staatsbediensteten die Gehälter gekürzt und Privatisierungen beschleunigt werden.

Beobachter in Athen gehen davon aus, dass die Regierung von Premier Alexis Tsipras auch diese Kraftprobe überstehen wird – trotz dünner Mehrheit im Parlament von nur drei Sitzen. Die Billigung des harten Austeritätspakets ist Voraussetzung für weitere Hilfen der Gläubiger Griechenlands.

EU, Europäische Zentralbank und Europäischer Stabilitätsmechanismus hatten 2016 beschlossen, Athen mit einem weiteren Rettungspaket in Höhe von bis zu 86 Milliarden Euro unter die Arme zu greifen.

Tageblatt: Wieso interessiert sich niemand mehr für Ihr Land?

Giannis Seferiadis: Wir befinden uns im neunten Krisenjahr. Ein Kind, das heute neun Jahre alt ist, kennt also nur das Krisen-Griechenland. Die Krise hat ein Eigenleben entwickelt. Es wird jetzt über das vierte Austeritätspaket abgestimmt und die Menschen haben es satt.

Nicht die politische Welt oder Gewerkschaften, aber die Normalsterblichen. Deswegen waren „nur“ 50.000 Menschen auf der Straße. 2010 waren es mehr als eine Million.

Wie dramatisch ist die Situation in Griechenland?

Vor zwei Jahren war Syriza der Hoffnungsträger. Ich weiß zwar nicht, was Hoffnung jemals für die Griechen bedeutet haben soll, aber das war der Ausgangspunkt. Jetzt gibt es ein neues Gleichgewicht.

Wenn man heute Rentner ist und 1.000 Euro erhält, befindet man sich in einer besseren Situation als jemand, der im öffentlichen Dienst 700 Euro für seine Rente erhält oder wie jemand, der gar keine hat. Es sind zwar im Vergleich zu vor fünf Jahren 300 Euro weniger, aber man fühlt sich glücklich. Viele Familienmitglieder oder Freunde haben gar keine Arbeit.

Sind die Griechen mittlerweile politikverdrossen?

Ja, es existiert eine riesige Kluft zwischen der politischen Elite und der Gesellschaft. Das ist ein globales Phänomen, aber in Griechenland gab es eine große Nähe zwischen den Menschen und ihren politischen Vertretern. Die griechischen Politiker beten einfach die Vorgaben aus Deutschland und der Institutionen nach und sagen: „Tja, jetzt gibt es halt wieder neue Sparmaßnahmen.“

Provokative Frage: Die Deutschen haben Griechenland Methoden aufgezwungen, die sie selbst nicht anwenden. Gibt es irgendetwas Positives, das man dieser blinden Austeritätspolitik abgewinnen kann?

Man bemerkt es nicht, wenn man sich in einer Krisensituation befindet. Ein paar Beispiele. Ich habe vor kurzem über eine Schule berichtet. Dort gab es brutale Einsparungen: Lehrer, Gelder – überall wurde gestrichen. Der Direktor der Schule wollte aber neue Computer kaufen.

Er verkaufte die alten Geräte und hatte lediglich 300 Euro Eigenkapital. Das hat geklappt. Vor 50 Jahren hätte man erwartet, dass aus EU-Geldern ein Computernetzwerk im Wert von 20.000 Euro errichtet worden wäre. Es wird weniger verschwendet, das steht fest.

Was haben die Kapitalverkehrskontrollen bewirkt? Bankkunden hatten zwischen November 2014 und Juli 2015 mehr als 50 Milliarden Euro ihrer Gelder abgezogen – aus Furcht vor einem Staatsbankrott und dem Grexit. Damals konnten Bankkunden nur noch 420 Euro pro Woche abheben.

Ganz ehrlich? Die Steuerflucht ist zurückgegangen. Jede Regierung hat über die Jahrzehnte hinweg versucht, Steuerflucht zu bekämpfen. Aber das Problem hat sich jetzt auf brutale Weise gelöst. Wenn man etwas nicht mehr per Kredit kaufen kann, wird es sehr schwierig, Geld zu verstecken. Außerdem haben sich die Fat Cats längst abgesetzt. Deshalb verbessert sich die Situation zwar teilweise. Aber nicht aus wirtschaftlicher Perspektive.

Wie würden Sie den Zustand der griechischen Volkswirtschaft unter dem Eindruck der Austeritätspolitik beschreiben?

Es wurden teilweise noch nicht alle Vorgaben aus dem ersten Austeritätspaket umgesetzt. Das wird man Griechenland vorhalten und somit dreht sich die Diskussion immer um das Gleiche, wenn es um unsere Wirtschaft geht: Zunächst müssen die Sparmaßnahmen umgesetzt werden, dann kann erst über den Rest gesprochen werden.

Die Menschen haben unter diesen Umständen kein Vertrauen in die Politik und in die Wirtschaft. Allerdings muss man auch Folgendes sagen: Keine Partei kann etwas ändern.

Inwiefern?

Weder Syriza noch eine andere Partei hat die nötige Hebelkraft. Der Verhandlungsstil mag ein wenig anders sein, aber die Grundzüge werden von den Institutionen vorgegeben.

Ist Syriza ein zahnloser Tiger geworden?

Als die Syriza-Politiker noch in der Opposition waren, haben sie sich gegen jegliche Liberalisierungstendenzen gewehrt. Ich denke etwa an die Investitionen der Chinesen in einen Großflughafen und einen Hafen.

Heute sind die gleichen Syriza-Politiker stolz darauf, dass mit ihrer Hilfe alles liberalisiert wird. Das passiert gerade in unserem Energiesektor. Keine Regierung vor Syriza hat derart drastische Maßnahmen durchgeboxt wie Syriza zuletzt. Das ist ironisch: Syriza waren wohl die Letzten, von denen man so etwas erwartet hätte (lacht).

Syriza hat die anderen von rechts überholt?

Genau. Wenn man überall streichen geht, liberalisiert und noch radikaler als die anderen Politiker agiert, gibt es weniger Widerstände. Deshalb gibt es kaum noch linken Aktivismus in Griechenland.

Denn wenn die Linke sich so benimmt, was soll man sich dann bitte von den moderaten politischen Kräften Griechenlands erwarten? Deshalb geht das vierte Austeritätspaket, zumindest mit Blick auf die Proteste, leichter über die Bühne.

Wird Syriza das nächste Mal abgewählt?

Diese Frage bleibt ein Mysterium. Die Strategie der Partei wird aber gerade heftig debattiert. Ich habe mich letzte Woche mit einem Syriza-Politiker aus der Führungsebene unterhalten. Es entscheidet sich gerade, welche Linie sich durchsetzt. Szenario 1 fordert Neuwahlen.

IWF-Chefin Christine Lagarde und der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble einigen sich endlich und finden ein wenig Lob für Griechenland, nachdem das vierte Austeritätspaket gestimmt wurde. Vor den Bundestagswahlen wollen Politiker jeden zufriedenstellen (lacht).

Also quasi pure PR?

Ja, nichts ändert sich in Wirklichkeit für die Menschen, aber so kann Syriza darauf hoffen, dass Griechenland vielleicht ein kleiner Schuldenerlass versprochen wird. Dann kann Tsipras sagen: Ich bin der Premier, der Griechenland wieder auf die Finanzmärkte geführt hat.

Und das zweite Szenario?

Syriza verzichtet auf Neuwahlen bis 2019. Die Umsetzung der Austeritätsmaßnahmen beginnt erst in diesem Zeitraum (siehe Kasten). Deshalb entwickelt die Abstimmung am Donnerstag, wenn es zum Ja kommt, ihre fatale Kraft erst in zwei Jahren. Demnach könnte er 2019 die ganze Verantwortung der Maßnahmen, für die er gestimmt hat, wieder von sich weisen und dagegen protestieren.