Au revoir, altes Frankreich

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(AFP)

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Nach dem Erdrutschsieg für Macrons Kandidaten in der ersten Runde der Parlamentswahlen sorgen sich die traditionellen Parteien um die Folgen für die Demokratie. Ein anderes Problem: Die Wahlbeteiligung war so gering wie seit 1958 nicht mehr. Das Wichtigste zum Wahlsonntag im Überblick.

Die Partei des französischen Präsidenten Emmanuel Macron hat die erste Runde der Parlamentswahl am Sonntag klar für sich entschieden und kann auf eine überwältigende Mehrheit in der neuen Nationalversammlung hoffen. „Frankreich ist zurück“, sagte Ministerpräsident Edouard Philippe im Fernsehen. Das gute Ergebnis zeige, dass die Bevölkerung hinter dem Reformkurs stehe.

Der proeuropäische Politiker Macron findet mit seinen Reformvorhaben vor allem bei liberalen, gut ausgebildeten Franzosen Anklang. Die etablierten Parteien mussten eine herbe Niederlage hinnehmen. Macrons politische Gegner zeigten sich besorgt über die Folgen für die Demokratie. Sozialisten-Chef Jean-Christophe Cambadelis sagte: „Wenn Macron wie vorhergesagt in der zweiten Runde gewinnt, gibt es im Parlament keinen Raum für eine demokratische Debatte.“ Francois Baroin, der den Wahlkampf der Konservativen anführte, sagte, die politische Macht sollte nicht in der Hand einer einzigen Partei konzentriert sein.

Um im ersten Durchgang gewählt zu werden, musste ein Kandidat mindestens 50 Prozent gewinnen. In den anderen Wahlkreisen nehmen alle Kandidaten mit mindestens 12,5 Prozent an der Stichwahl teil, bei der dann die einfache Stimmenmehrheit entscheidet.

Das Wichtigste in Kürze:

Das Bündnis von Präsident Emmanuel Macron wurde nach Angaben des Innenministeriums mit 32,32 Prozent der Stimmen mit Abstand stärkste Kraft und kann mit der absoluten Mehrheit in der Nationalversammlung rechnen.

Wermutstropfen für den neuen Staatschef: die historisch niedrige Wahlbeteiligung von unter 50 Prozent. Laut Innenministerium gingen 51,29 Prozent der Wahlberechtigten nicht an die Urnen. Damit war die Wahlbeteiligung so gering wie seit Gründung der fünften Republik 1958 nicht mehr.

Für Macrons „La République en marche!“ sind 400 bis 455 der insgesamt 577 Abgeordnetenmandate möglich. Die absolute Mehrheit liegt bei 289 Mandaten. Es wäre eine der größten parlamentarischen Mehrheiten in der Geschichte von Frankreichs 1958 gegründeter Fünfter Republik.

Sie würde dem vor einem Monat gewählten Präsidenten eine Umsetzung seiner Reformvorhaben ermöglichen, unter anderem eine Lockerung des französischen Arbeitsrechts.

Laut dem offiziellen Ergebnis holte das konservative Lager aus Republikanern und Zentrumspartei UDI 21,56 Prozent der Stimmen. Sie haben Aussichten auf 70 bis 130 Mandate.

Die rechtspopulistische Front National kam auf 13,2 Prozent. Die Partei der unterlegenen Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen dürfte im zweiten Wahlgang wegen des Mehrheitswahlrechts aber höchstens zehn Mandate gewinnen. Parteivize Florian Philippot sprach von einer „Enttäuschung“.

Die Linkspartei La France insoumise von Jean-Luc Mélenchon kam auf elf Prozent und könnte in der zweiten Runde zehn bis 23 Sitze holen. Mélenchon appellierte an seine Anhänger anders als vor der Präsidentschaftswahl, ihre Stimme keinem Front-National-Kandidaten zu geben.

Jean-Luc Mélenchon selbst überholte in Marseille die Kandidatin von La République en Marche und bekam mit 34,4 Prozent die meisten Stimmen.

Die ehemals regierenden Sozialisten erlebten wie schon bei der Präsidentschaftswahl ein Debakel. Die Partei von Ex-Präsident François Hollande und verbündete linke Parteien erhielten zusammen nur 9,51 Prozent.

Parteigrößen wie Sozialistenchef Jean-Christophe Cambadélis, Präsidentschaftskandidat Benoît Hamon und weitere prominente Vertreter der Traditionspartei scheiterten mit ihren Kandidaturen. Cambadélis sprach von „beispiellosen Verlusten“.

Nach der Stichwahl am kommenden Sonntag kann die Partei nur noch mit 15 bis 40 Mandaten rechnen. Im bisherigen Parlament hatte sie mit 277 Abgeordneten die Mehrheit.

Zwei Pressestimmen aus Frankreich:

„Triumph ohne Begeisterung“ vs. „Gewonnene Wette“

Libération:

„Als Neuling in der Politik ist Emmanuel Macron dabei, den spektakulärsten Grand-Salam der Fünften Republik zu gewinnen. (…) Die Wählerschaft ging davon aus, dass die Sache erledigt war. Sie ist zur Hälfte nicht zur Wahl gegangen, ein historischer Rekord und für die Sieger der einzige Schatten auf dem Bild: Es ist ein Triumph ohne Begeisterung, ein überwältigender und schlaffer Sieg.

Er bedeutet allerdings eine quasi einfarbige Nationalversammlung. Letzten Endes zertrampelt (Macrons Partei) En Marche ihre Gegner; Macron kann sich die ganze Macht greifen; für das Land beginnt ein völlig neues Kapitel. Die Linke ist zersplittert. Die Sozialistische Partei fährt ihr schlechtestes Ergebnis seit Karl dem Großen ein. Sie wird um ihr Überleben kämpfen müssen.“

Die erste Seite der „Libération“ am Montag:

Der Leitartikel der „Libération“ vom Montag:

Le Figaro:

„Eine politische Formation, die es vor zwei Jahren noch nicht gab, steht also davor, eine unverschämte Mehrheit in der Nationalversammlung an sich zu raffen. Und im gleichen Zug eine politische Landschaft umzupflügen, die man lange für unverrückbar hielt. Emmanuel Macron hat seine Wette gewonnnen und kann heute Morgen die Folgen dieser donnernden Sprengung beobachten. (…)

Aber Vorsicht vor der optischen Illusion! Der überwältigende Sieg nach Sitzen ist mehr der Hebelwirkung des Mehrheitswahlrechts mit zwei Wahlgängen geschuldet als einer starken Mobilisierung des Volkes. Denn gestern hat einer von zwei Franzosen nicht gewählt. Sicher, der Staatschef kann erwidern, dass er die Wähler der Republikaner, der Sozialisten oder der Front National davon abgebracht hat, gegen ihn zu stimmen. Aber diese mehr oder weniger wohlwollende Enthaltung («alles in allem, lassen wir ihm seine Chance») ist weit davon entfernt, eine Unterstützung seines Programms zu sein. Diese unaufspürbare Mehrheit, eine absehbare Quelle von Schwierigkeiten, verpflichtet ihn zum Erfolg.“

Der Leitartikel vom „Le Figaro“ vom Montag: