Als die Gesellschaft erwachte

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"Sixty8" ist Regisseur Andy Bauschs ganz persönliche Geschichtsstunde.

Für die Franzosen war Mai 68 ein gesellschaftlicher Wandel, ein Aufbäumen der Jugend gegen die bis dahin geltenden Regeln. Auch in Deutschland war es eine Auseinandersetzung mit dem Establishment, der Beginn der außenpolitischen Opposition. Was in Luxemburg geschah, hat Andy Bausch recherchiert.

Er selbst ist kein „alter 68er“. Der Regisseur war gerade mal neun Jahre alt, als Luxemburgs Jugend sich den großen gesellschaftlichen Bewegungen vom Frühjahr 68 anschloss. „Bei uns zuhause war das kein Thema“, sagt der Arbeitersohn. Auch sein persönliches Interesse galt eher der Musik aus den 60er-Jahren, die er liebt und eigenen Aussagen nach teilweise massiv hört.
Aber Andy Bausch hat eine erklärte Vorliebe für Dokumentarfilme. So war es irgendwie nicht unlogisch, nach den unmittelbaren Nachkriegsjahren („Schockela, Knätschgummi a brong Puppelcher“), der Belle Epoque und den „Fifties“ und vor einem Film über die Achtziger nun auch die Sechzigerjahre zu dokumentieren.

Allerdings verkündet der Titel bereits die Absicht. Bausch hat bei diesem neuen Dokumentarfilm kein ganzes Jahrzehnt und auch keine Epoche nachvollzogen, sondern ein punktuelles Phänomen aus dieser Zeit, das sich hierzulande (wir sind nie so schnell) allerdings bis in den Anfang der Siebzigerjahre hinzog. Nicht nur in der Bausch-Familie war die 68er-Bewegung kein Thema. Auch für das 1969 geschaffene sonntägliche „Hei Elei“-Programm war die Revolte der Studenten nicht von Interesse, es gibt kaum filmisches Material darüber. Die interessantesten Bilder kommen aus Saarbrücken vom Saarländischen Rundfunk.

Das gilt auch für die geschriebene Presse. Die Studentenrevolten haben kaum Schlagzeilen gemacht. „Es war durchaus ein Wagnis, gegen die schöne, von der Kirche tunlichst gewahrte Ordnung vorzugehen“, sagt der als „Pafefrësser“ abgestempelte Andy Bausch. „Mit diesem Prädikat kann ich leben“, grinst der Mann mit der unabänderlichen Baseballkappe, der mit einem gewissen Genuss erzählt, wie Pater Holtz der Schülerzeitung „Roud Wullmaus“ den Prozess macht.

Jugend im Aufstand: Die Presse berichtet nur punktuell. Foto: Theo Mey/PTD

Die Ereignisse von Mai 1968 jähren sich in sechs Monaten und die internationale Presse wird uns zum 50. Jahrestag mit Informationen regelrecht überhäufen. „Deshalb war es uns wichtig, vorher auf dem Markt zu sein“, unterstreicht Produzent Paul Thiltges. Auch er war 1968 mit elf Jahren noch zu jung, um auf der Straße zu demonstrieren.

Genau das haben jedoch die 25 Zeitzeugen gemacht, die Andy Bausch in seinem Film abwechselnd zu Wort kommen lässt, um die einzelnen Aspekte der studentischen Revolte zu beleuchten.
Reihum sprechen sie von ihrer Darlegung der 1968er Ereignisse, dokumentieren den politischen Wandel, wo es zu einem klaren Linksruck kam, als die Jugend den vorherrschenden Konservatismus ablehnte und den Vietnamkrieg bekämpfte. Sie schildern, wie die traditionelle Organisation des Schulbetriebs an den Pranger gestellt wurde, wie sie sich der gesellschaftlichen Ordnung und den Erwartungen der Erwachsenen widersetzten. Sie sprechen von der Hippie-Bewegung und von der Musik jener Zeit, konfrontieren den schlechten Ruf der verpönten Diskothek „Dany Cage“ mit der Begeisterung für die luxemburgische Beteiligung am „Grand Prix Eurovision de la chanson“.

Lebendige Freske

Bewusst schildert Bausch die Vorgänge, die sich zwischen 1967 und 1971 zugetragen haben, aus der Sicht der Schüler und Studenten, auf die Gefahr hin, dass die konservative Seite dadurch zu kurz kommt. „Es war auch viel schwieriger, sie vor die Kamera zu bekommen und zu einer Aussage zu bewegen“, sagt Bausch rückblickend. Das haben seine 25 Gesprächspartner – darunter leider nur drei Frauen – dafür bereitwillig getan und eine lebendige Freske gezeichnet. Sie waren 1968 zwischen 24 und 33 Jahren alt. Die meisten waren Schüler, einige auch Lehrer oder Künstler. Politiker kommen mit Ausnahme von André Hoffmann nicht zu Wort.

Fast alle Zeitzeugen haben sich nach ihren „wilden Jahren“ jedoch der gesellschaftlichen Ordnung angepasst, viele davon als Staatsbeamte. Nur wenige leben heute noch am Rande der Gesellschaft.
Zeitlich spielt der Film zwischen 1967 – mit der Eröffnung der „Beat Shops“ und den Consdorfer Scheunen, in denen junge Künstler wie Marc Reckinger, Anne Weyer und Jeannot Bewing mit Pop-Art und Konzeptkunst an das Publikum herantraten – und 1971 mit dem Prozess der „Roud Wullmaus“.

Thematisiert werden die Hippie-Bewegung und die Musik jener Jahre, an die Stücke von The Who und Kyte, aber auch Luxemburger wie Leslie Kent, das Dan-Marcer-Orchester und We Feel erinnern, genau wie die Aussagen von Charlie Hornemann und Pit Hoerold. Und dann kommen natürlich immer wieder die Demos zur Sprache, die es bis dahin in Luxemburg kaum gegeben hatte.

Ein wenig zu kurz kommen der politische Hintergrund und der Beginn der Frauenbewegung. Dabei haben die geschilderten Ereignisse wahrscheinlich überhaupt erst den Weg freigemacht für die erste Regierung ohne Beteiligung der CSV im Jahr 1974 und die Befreiung der verheirateten Frauen aus der Minderjährigkeit.

Politische Vorkenntnisse sind nicht notwendig, um den Film zu genießen. Einzelne Gesprächspartner wie der Rechtsanwalt Gaston Vogel, damals Präsident des Vietnam-Komitees und der Studentenvereinigung Assoss, der Historiker Lucien Blau, der Schauspieler André Jung, der Dramaturg und frühere Theaterdirektor Frank Feitler oder die Lehrer und Schriftsteller Lambert Schlechter und Pierre Puth sind heute noch für ihre entschiedenen Stellungnahmen bekannt.

Ihre Aussagen bilden den größten Teil des 84-minütigen Dokumentationsfilms, Bausch hat dieses Mal nur wenige Szenen nachgestellt. Dafür bringen seine bewegten Zeichnungen und Fotos eine verspielte, filmisch interessante Note. Andy Bausch hat es wiederum hervorragend verstanden, die zeitgenössische Geschichte auf verständliche Weise aufzuarbeiten. Den Zeugen und Gestaltern jener Zeit spricht er aus dem Herzen, den nachfolgenden Generationen bringt er die Ereignisse auf anschauliche Art und Weise näher. So wie man sich Geschichtsunterricht vorstellt.