Theaterprojekt„Rosenkranz und Güldenstern auf Greta“ ist eine poetische Odyssee

Theaterprojekt / „Rosenkranz und Güldenstern auf Greta“ ist eine poetische Odyssee
Rosenkranz (Franz Liebig) und Güldenstern (Timo Wagner) landen auf einer geheimnisvollen Insel

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Fanny Sorgos „Theaterprojekt“ bettet Tom Stoppards verspieltes Metastück rund um die beiden bedeutungslosen Nebenfiguren aus Shakespeares „Hamlet“ in einen zeitgenössischen, ökologisch-feministischen Kontext, ohne die beckettsche Absurdität des Originaltexts zu verraten. Das Resultat ist ein nur manchmal plakativer, meist aber sehr unterhaltsamer, poetischer Spaß.

Was machen eigentlich die Nebenfiguren einer weltbekannten Tragödie, während die Hauptfiguren unter dem Rampenlicht sinnieren, intrigieren, verzweifeln, lieben und meucheln? Dieser Frage ging Tom Stopppard 1966 in seinem nunmehr klassischen metatextuellen Theaterstück „Rosencrantz and Guildenstern Are Dead“ nach – einem Stück, in dem sich der Autor nicht nur mit dem Schicksal von Hamlets beiden Jugendfreunden, sondern auch mit dem Werdegang der fiktionalen Theatertruppe, die eine zentrale Rolle im blutrünstigen Plot spielt, befasst.

Die Prämisse des Stücks ist so verkopft wie brillant: Während sich die Menschen im realen Leben nicht in Haupt- und Nebenfiguren (auf)gliedern, lebt die Fiktion von einer solchen Ungleichheit. Im Sinne des fiktionalen Make-Believe wird der Zuschauer aber dazu ermutigt, so zu tun, als ob auch die unwichtigste aller Nebenfiguren ein eigenständiges Leben führen würde. In „Rosencrantz and Guildenstern Are Dead“ behebt Tom Stoppard diese Ungerechtigkeit, um die Bühne dann allerdings zwei Figuren zu überlassen, die eigentlich nicht so recht wissen, wie sie diese unerwartete Prime-Time nutzen sollen – und sich ganz wie Vladimir und Estragon in Becketts „En attendant Godot“ in wirre, absurde Gesprächen verwickeln und die Zeit mit Spielchen totschlagen.

Fanny Sorgos (zusammen mit dem Ensemble erstellte) Fassung entfernt sich auf eine noch radikalere Weise von Shakespeares Ursprungstext: Während bei Stoppard Hauptfiguren wie Hamlet oder Claudius immer wieder auftauchen und die Ereignisse aus Shakespeares Fiktionswelt das Geschehen maßgebend beeinflussen, ist „Rosenkranz und Güldenstern auf Greta“ quasi der fehlende Epilog zum Stück – und damit zumindest semantisch unabhängig von Shakespeares Original. Dabei bleibt die Ausgangssituation den beiden Vorlagen mehr oder wenige treu: In Sorgos „Theaterprojekt“ wurden die beiden Hofdiener wie gehabt von Hamlet verraten, nachdem dieser herausgefunden hat, dass sie im Auftrag seines Onkels Claudius – der nun König von Dänemark ist, weil er Hamlets Vater umgebracht hat – gehandelt haben.

Nachdem Hamlet sie einer Meute von Piraten überlassen hat, werden Rosencrantz (kurz: Rosi, gespielt von Franz Liebig) und Güldenstern (kurz: Gülli, gespielt von Timo Wagner) nach einem Fluchtversuch von einer weisen Walkuh verschluckt und landen auf einer Insel. Schnell stellen die beiden fest, dass dieser außergewöhnliche Ort aus einem Mittelscheit und zwei Zöpfen besteht und sie auf Greta (Thunberg) gelandet sind: In Fanny Sorgos Welt wird, getreu Thomas Pynchons Ästhetik der „hohen Magie des niederen Wortspiels“ (the high magic of low puns), ein Kalauer schon mal zur fiktionalen Wirklichkeit.

„Hamlet war eben immer für den Tiefgang zuständig“

Überhaupt würde die Wirklichkeit erheblich normaler wirken, wenn man, wie Rosi es zum Ausdruck bringt, „dem Absurden, dem Poetischen, dem Widersprüchlichen (…) genauso viel Anerkennung entgegenbringen würde wie dem Realistischen“. Getreu dieser Erkenntnis ist „Rosenkranz und Güldenstern auf Greta“ eine absurd-poetische gedankliche Odyssee, die im Esprit von Stoppard und Beckett verankert ist und deswegen ganz bewusst vom Hölzchen aufs Stöckchen kommt – wobei der französische Begriff des coq-à-l’âne Fanny Sorgos Universum, in dem nicht nur von philosophischen Walkühen, sondern auch, in Anlehnung an Yorgos Lanthimos, von Hummern oder sich erbrechenden Schnecken die Rede ist, wohl besser einfängt.

Zwei unbedeutende Nebenfiguren zu Hauptfiguren umzugestalten ist eine starke Geste: Sieht man davon ab, dass die beiden recht wenig zu sagen haben und sich mit ihren beckettschen Überlegungen ständig im Kreis drehen, werden hier fiktionale Machtgefüge aufgebrochen und Randfiguren das Wort zurückgegeben. Fanny Sorgo hat aber sehr wohl erkannt, dass diese in den 60ern noch so revolutionäre, metatextuelle Geste heute nicht mehr ausreicht – denn die beiden Figuren, die hier im Zentrum stehen, sind immer noch Männer, deren Leichtsinnigkeit und Selbstgefälligkeit dazu geführt haben, dass wir auf einem Planeten leben, der mit dem Tode ringt.

Aus diesem Grund werden hier nicht nur ökologische Fragen verhandelt – das Meer ist verdreckt und die Wasseroberfläche mittlerweile so dick, dass Ameisen fast wie Wasserläufer oder wie der Messias übers Wasser gehen können –, sondern auch eine kritisch-feministische Abrechnung mit Shakespeares Hypotext, in dem Frauenfiguren stets ein wenig beneidenswertes Schicksal erleiden, skizziert.

Auch wenn dieser kritische Duktus streckenweise etwas plakativ wirkt, so verbindet er sich recht gut mit den metaphysischen Fragestellungen der beiden Figuren – in Fanny Sorgos Welt verträgt sich absurder Humor mit ethischen Betrachtungen, auch wenn die Autorin die Universalität des Absurden teilweise zugunsten einer moralischen Interpretation aufopfert: Rosenkranz und Güldenstern reden, um zu verdrängen, sie labern, um zu vergessen, wie viel Schuld sie daran tragen, dass die Welt in Schutt und Asche liegt. Gretas Insel ist demnach auch ihre ganz persönliche Hölle – ein Ort, auf dem sie sich ewig im rhetorischen Kreise drehen oder vielleicht lernen, Verantwortung zu tragen.

Von himmelblau auf walblau

Franz Liebig und Timo Wagner geben das ungleiche Paar auf eine bescheuert-überzeugende Art. Ganz gleich, ob sie die Spielchen aus Stoppards Stück nachahmen – das Münzwurfspiel und die absurd aneinandergereihten Fragen werden hier durch ein aberwitziges Hamlet-Quiz ersetzt – oder sich melancholisch in Rage diskutieren: Die beiden Figuren, die sich ihrer eigenen Austauschbarkeit und Bedeutungslosigkeit allzu bewusst sind, nutzen ihren Mangel an „Tiefgang“ aus, um zu blödeln, was das Zeug hält. So könnte man Timo Wagners Yoga-Übungen glatt als Anti-Depressivum gegen die Pandemie verschreiben. Meist gelingt es Daliah Kentges’ Inszenierung, die Schrägheit von Fanny Sorgos Text szenisch zu verbildlichen, manchmal wirkt das Zusammenspiel der beiden Darsteller allerdings zu klamaukig – ab und zu hätte man sich gewünscht, die Regie hätte der melancholischen Seite des Absurden mehr Raum gelassen.

Anouk Schiltz’ Bühnenbild ähnelt einer Kunstinstallation, wie man sie auch in einem Pavillon der venezianischen Biennale auffinden könnte. Wie in der Werkstattinszenierung von Fanny Sorgos (tollem) „himmelblauen Reiter“ dominiert auch hier der Blaustich, auf zwei Schirmen läuft vor Beginn des Stücks ein Kunst-Video, das in die surreale Atmosphäre des Stücks eintaucht. In der Mitte des Raums (die Vorführung findet pandemiebedingt nicht wie üblich im Kasemattentheater, sondern in einem Hinterraum des Carré Hollerich statt) tollen die beiden Schauspieler auf ihrer Insel herum – ein heterotopisches Wirrwarr aus Fischnetzen, Kissen und geflochtenen Seilen. Die Zuschauer werden, Social Distancing oblige, auf Stühlen rund um die Bühne verteilt, sodass ein seltenes Gefühl der Nähe entsteht – denn mittlerweile ist es sehr lange her, dass man fremde Menschen hat lachen sehen.

Weitere Vorführungen: heute und morgen um 20.00 Uhr im Carré Hollerich. Dauer: 60 Minuten.

Richard Saint-Gelais’ „Überläufer“

„Transfuges“ nennt der kanadische Forscher Richard Saint-Gelais fiktionale Gestalten, die von einer Fiktion in eine andere überlaufen. In seinem Essai „Fictions transfuges“ werden nicht nur Rosencrantz und Guildenstern erwähnt, sondern auch Figuren wie Emma Bovary, die immer wieder von Schriftstellern aufgegriffen und dargestellt werden, sodass eine Figur wie Sherlock Holmes mittlerweile in unzähligen, teils widersprüchlichen Varianten existiert.

Saint-Gelais interessiert sich dabei weniger für das Phänomen der Intertextualität, das von Gerard Genette in „Palimpsestes“ bereits ausgiebig theorisiert wurde – ihn interessiert, was solche fiktionalen Überläufer über Fiktionswelten und deren Gestaltung, Reichweite, Legitimität aussagen (in seinem Essay schreibt Saint-Gelais auch über Serien, Spin-offs und Fan-Fiction).

Denn eine Fiktionswelt ist eine stets unvollständige Welt: Wenn der Autor sich über die biografischen Details einer fiktionalen Gestalt in Schweigen hüllt, bleibt es oftmals der Vorstellungskraft des Lesers überlassen, sich das Leben einer solchen Gestalt auszumalen. Es sei denn, ein anderer Autor interessiert sich für eben dieses Schicksal und fängt an, bspw. die scheinbar langweilige Existenz eines Charles Bovary auszumalen – oder eben das Leben zweier relativ bedeutungsloser Hofdiener.