Tanz im Escher TheaterChoreograf Edouard Hue zu Politik und Tanz

Tanz im Escher Theater / Choreograf Edouard Hue zu Politik und Tanz
„All I Need“ von Edouard Hue, oder: der Kampf um Territorium Foto: David Kretonic

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Zwei Stücke, ein Choreograf: Edouard Hue präsentiert diese Woche „All I Need“ und „Yumé“ im Escher Theater. Mit dem Tageblatt tauschte er sich über den Einfluss von Krieg und japanischer Kultur auf seine Kunst sowie über Jugendförderung im Tanz aus.

Zuerst beben die Körper, dann dreht sich die Welt plötzlich in Zeitlupe: Die Tänzerinnen und Tänzer halten sich gegenseitig mit schmerzverzerrten Gesichtern fest, um sich sogleich wieder voneinander zu entfernen. Halbnackt, teils nur in labbriger Unterhose. Dabei nehmen sie Posen ein, die von der Komposition her an „La liberté guidant le peuple“ (1830) von Eugène Delacroix erinnern: Der Künstler thematisiert darin die Julirevolution (1830) in Frankreich, bei der sich die Bürger gegen die Obrigkeit auflehnten und die Macht ergriffen. All dies sind Szenen, die sich im Trailer zu Edouard Hues Choreografie „All I Need“ abspielen, die am 3. Mai um 20 Uhr im Escher Theater aufgeführt wird.

Die Nähe zu Delacroix, zu Politik und Machtkämpfen kommt nicht von ungefähr. Beschreibt das Escher Theater das Stück auf seiner Website als Kommentar zur Spaltung der westlichen Gesellschaft, definiert Hues Tanzkompanie Beaver Dam Company es als Gebietseroberung. Beides Themen, die angesichts von Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine oder des Gaza-Krieges aktueller – und brisanter – nicht sein könnten. „C’est une pièce qui aborde des tensions, des dysfonctionnements de communication et les besoins d’individus“, erklärt Hue im Austausch mit dem Tageblatt. „La pièce parle du monde – de la communauté – de manière générale et peut-être connecté à plusieurs sociétés existantes, dont celle occidentale.“

Premiere vor dem Angriffskrieg

Die Choreografie entstand 2021, noch ehe die bereits erwähnten geopolitischen Konflikte eskalierten. Umstände, die sich auf Hues Stück auswirkten. „La date de première de All I Need était deux mois avant le conflit en Ukraine. Une partie nommée Loop dans la pièce avec des voix de personnalités internationales a déjà été modifiée plusieurs fois depuis pour ajouter par exemple celles de Evgueni Prigojine et Benyamin Netanyahou“, sagt Hue. Zur Erinnerung: Prigoschin war ein russischer Oligarch und Anführer der Gruppe Wagner, eines privaten Militärdienstes zugunsten des russischen Staats; Netanjahu ist der amtierende israelische Ministerpräsident.

Die Auslegung des Stücks verändere sich zwar je nach politischer Situation, verliere aber nie an Aktualität, so Hue weiter. „C’est d‘ailleurs la raison pour laquelle j’ai créé All I Need: les mêmes situations se répètent au fur et à mesure des époques“, fasst er seine Absicht zusammen. Ausgehend vom Trailer will Hue sein Publikum aber nicht nur zum Nachdenken, sondern auch zum Lachen bringen. Manche Szenen wirken humoristisch, fast schon absurd.

All I Need enthält Elemente des asiatischen Brettspiels Go
All I Need enthält Elemente des asiatischen Brettspiels Go Foto: Grégory Batardon

Dazu zählt der Kontrast zwischen den ernsten Themen, die dem Stück zugrunde liegen, und der Choreografie selbst. Die Bewegungen der neun Tänzer(innen), für die die Performance konzipiert wurde, wirken verspielt, wenn sie sich in kleinen, hüpfenden Schritten, mit nacktem Oberkörper über die Bühne bewegen – die Arme emporgestreckt, als könnten sie so die Welt erobern. Noch dazu basiert das Stück auf dem asiatischen Spiel Go: einem Strategie-Brettspiel, bei dem zwei Spieler leere Räume einzäunen und versuchen, mehr Territorium einzunehmen als ihr Gegner. „Il me semble que beaucoup de situations graves et sérieuses sont tellement surréalistes que parfois nous pourrions douter de leur réalité à un point où nous pourrions penser que ce sont des canulars“, erklärt Hue die Hintergründe. „Le Jeu de Go que j’ai utilisé est certes un jeu, mais de stratégie qui demande beaucoup de réflexions avec un parallèle important aux stratégies de guerre.“

Le Jeu de Go que j’ai utilisé est certes un jeu, mais de stratégie qui demande beaucoup de réflexions avec un parallèle important aux stratégies de guerre

Edouard Hue, Choreograf

Dieser Bezug zum Spiel und zu asiatischer Kultur schlägt sich in einer weiteren Choreographie von Hue nieder, die ebenfalls diese Woche im Escher Theater zu sehen ist. Am Sonntag, dem 5. Mai, um 11 Uhr zeigt Hue nämlich „Yumé“, eine Darbietung, die sich vor allem an ein junges Publikum richtet. Anders als in „All I Need“, nimmt der Choreograf darin keinen Bezug zu Politik, entführt vielmehr in eine mythische Welt. Körper verwandeln sich in ein Mohnblumenfeld, das eine Tänzerin zu durchschreiten versucht, bevor sie von Wolken aus Plüsch vereinnahmt wird und in Wellen aus Tüchern unterzugehen droht. Die Erzählung hinter den Bewegungen: Die Heldin hat ihren Schatten verloren und begibt sich auf der Suche nach ihm auf eine Reise durch Schatten und Licht.

Unter diesen Mohnblumen verstecken sich Schauspieler(innen): Yumé von Edouard Hue
Unter diesen Mohnblumen verstecken sich Schauspieler(innen): Yumé von Edouard Hue Foto: Charlotte Brasseau

Hier greift Hue auf die japanischen Kurokos zurück: Im japanischen Kabuki-Theater, in dem Theater und Tanz verknüpft werden, sind die Kurokos sowohl für die Bewegung des Bühnenbilds als auch beispielsweise für die Verkörperung von Tieren zuständig. Bei Hue bieten die Figuren, traditionell schwarz gekleidet, u.a. die erwähnten Mohnblumen dar. „Aussi l’univers est inspiré de films d’animation et de séries télévisées japonaises“, verrät Hue. 

Vorstellungen für ein junges Publikum seien komplex, weil die Choreografen es mit dessen kurzer Aufmerksamkeitsspanne konfrontierten. Die jungen Zuschauer(innen) dauerhaft für sich zu gewinnen, sei eine Herausforderung. „Les spectacles pour le jeune public doivent receler d’une multitude d’idées et aussi être constitués d’une dynamique bien réfléchie pour amener les enfants à voyager“, sagt Hue. Eine Challenge, die er gern annimmt, wie er sagt. „C’était important pour moi de créer une pièce jeune public car c’est un public que j’apprécie beaucoup: direct et honnête dans les émotions, frais, avec un œil neuf“, führt Hue den Gedanken aus. „C’est aussi un public qui est celui de demain. J’avais envie de leur faire découvrir la danse au théâtre à ma manière pour, j’espère, leur donner le goût aux spectacles de danse.“

Letzteres versuchen Hue und seine Kompanie auch auf einer anderen Ebene: Seit 2017 bieten sie Ausbildungen für künftige Tanzschülerinnen und -schüler an, um ihnen den Zugang zu entsprechenden Institutionen zu erleichtern. Darauf angesprochen, betont der Choreograf, die Kompanie bemühe sich stark um Bildungsangebote für angehende Tänzer und Tänzerinnen sowie solche, die bereits hauptberuflich in dem Bereich aktiv sind: „C’est un axe que j’apprécie beaucoup en tant que chorégraphe.“

All I Need + Yumé

All I Need: 3. Mai um 20 Uhr im Escher Theater (122, rue de l’Alzette, L-4010 Esch/Alzette)
Yumé: 5. Mai um 11 Uhr (am selben Spielort)

Edouard Hue

Der französische Tänzer und Pädagoge Edouard Hue, Jahrgang 1991, absolvierte seine Tanzausbildung am Conservatoire Régional d’Annecy, später trat er dem Ballet Junior de Genève bei. 2014 gründete er in Genf die Beaver Dam Company. 2019 wurde er mit dem Schweizer Tanzpreis als „Herausragender Tänzer“ ausgezeichnet; von 2016 bis 2021 erhielten er und seine Kompanie eine Kunstresidenz im Auditorium Seynod – Scène Régionale in Annecy. Hues Choreografien werden weltweit aufgeführt.