MedizinWie Forscher Prothesen Gefühl einhauchen

Medizin / Wie Forscher Prothesen Gefühl einhauchen
Wissenschaftler Max Ortiz Catalan mit einem seiner Patienten Foto: Johan Bodell/Chalmers University of Technology

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Auf dem Gebiet der künstlichen Gliedmaßen sind in den letzten Jahren große Fortschritte erzielt worden. Wissenschaftlern ist es gelungen, Prothesen ihrem organischen Gegenstück noch ähnlicher zu gestalten. Sie haben Prothesen entwickelt, die der Träger nicht nur mit der Kraft seiner Gedanken bewegen kann – er kann hiermit sogar auch etwas fühlen, berichtet unser Kollege Yves Greis.

Prothesen begleiten die Menschheit seit hunderten von Jahren. Dank großer Fortschritte in Medizin und Technik ist es in den letzten Jahren gelungen, sie immer mehr in den Körper zu integrieren und sie ihrem organischen Pendant immer ähnlicher zu machen. Forscher aus Schweden ist nun ein weiterer Sprung in der Entwicklung künstlicher Gliedmaßen gelungen: Neben der Fähigkeit, die Armprothesen per Gedanken zu kontrollieren, haben sie den Trägern nun zusätzlich die Fähigkeit verliehen, etwas durch die Prothese zu fühlen. Sie haben drei der hiermit ausgerüsteten Patienten über einen längeren Zeitraum beobachtet, um zu sehen, wie die Patienten im Alltag mit der neuen Technik zurechtkommen. Ihre Beobachtungen wurden im Fachblatt The New England Journal of Medicine veröffentlicht.

Bei den neuen Prothesen handelt es sich um Implantate, die sehr eng mit dem Körper ihrer Träger vernetzt sind. Verbindungen bestehen sowohl zu den Nerven als auch zu den Muskeln und den Knochen der Träger. Die Forscher reden deshalb von „neuromuskuloskelettalen Prothesen“. Ihnen zufolge sendet das System zwischen der Prothese und dem Gehirn Signale in beide Richtungen, so, wie es auch bei einem organischen Arm geschieht. Die Implantation dieser neuartigen Prothesen fand an der SahlgrenskaUniversitätsklinik unter der Leitung von Professor Rickard Branemark und Doktor Paolo Sassu statt.

Im Daumen der neuen Prothese befindet sich ein Drucksensor. Er misst die Kraft, die der Träger aufbringt, um nach einem Gegenstand zu greifen. Der Sensor ist direkt mit den Nerven verbunden, die vor der Amputation zur Hand des Patienten geführt haben. Greift der Träger nach einem Gegenstand, dann werden diese Informationen an dessen Nerven übertragen, die dann zu seinem Gehirn führen. Laut den Wissenschaftlern können die Patienten so spüren, wenn sie ein Objekt berühren, welche Eigenschaften es hat und wie stark sie es drücken – etwas, das für die Imitation einer biologischen Hand entscheidend sei.

Die Sensoren stellen heute keine große Herausforderung dar, erklären die Forscher. Vielmehr bestehe die Schwierigkeit darin, die von ihnen erfassten Informationen in großer Menge an das Nervensystem weiterzuleiten, sodass der Träger der Prothese sie mühelos verarbeiten kann.

Die Prothese ist mit den Muskeln, den Nerven und dem Knochen ihres Trägers verbunden
Die Prothese ist mit den Muskeln, den Nerven und dem Knochen ihres Trägers verbunden Bild: Sara Manca /Yen Strandqvist/Chalmers University of Technology

Bislang können die Träger der Prothesen nur Druck fühlen. Die Forscher haben diesem Gefühl ihre Aufmerksamkeit geschenkt, da es für die Funktion der Prothese wichtig ist, wie der Leiter des Projekts, Max Ortiz Catalan, Professor an der Chalmers University of Technology, im Gespräch mit dem Tageblatt berichtet. Es wäre aber auch möglich, die Prothesen mit anderen Gefühlen wie Schmerzrezeptoren auszustatten. „Schmerzen dienen dazu, dass unsere Hand nicht zerstört wird“, erklärt Ortiz. „Bei einer Prothese ist das nicht so wichtig.

Die künstlichen Arme vereinen laut der Forscher einige Eigenschaften, die so noch nie zuvor in einer Prothese vereint worden sind. Darunter die Kontrolle über die Gedanken der Träger, das Fühlen von Druck, aber auch die Tatsache, dass alle Teile, inklusive der Energieversorgung, in der Prothese verbaut sind. Der Träger muss keine zusätzliche Batterie am Körper tragen, um seinen neuen Arm nutzen zu können. Wichtig auch: Die Prothesen haben sich im Alltag bewährt und mussten nicht etwa von Wissenschaftlern überwacht und gewartet werden.

Ein Patient mit Prothese. Er trägt die gedankengesteuerte Prothese seit 2017. Seit September 2018 kann er damit auch fühlen.
Ein Patient mit Prothese. Er trägt die gedankengesteuerte Prothese seit 2017. Seit September 2018 kann er damit auch fühlen. Foto: Johan Bodell/Chalmers University of Technology

Um zu zeigen, dass die Prothesen alltagstauglich sind, haben die Patienten sie mehrere Jahre lang getragen, bevor die Forscher ihre Ergebnisse in einem Artikel veröffentlicht haben. „Um das zu demonstrieren, mussten die Prothesen ein paar Jahre lang getragen werden. Ein paar Monate sind dafür nicht ausreichend, sagt Ortiz hierzu. Einer der Patienten habe seine Prothese vor sieben Jahren erhalten. Bislang haben sich die Forscher bei ihrer Arbeit auf künstliche Arme beschränkt. Ein Projekt für Beinprothesen befindet sich derzeit in Vorbereitung.

Prothesen sind keine Erscheinung der Neuzeit. Funde belegen, dass die alten Ägypter sie bereits vor 4.000 Jahren getragen haben. Aus dem europäischen Mittelalter sind sogenannte „Eiserne Hände“ bekannt, die dem Panzerhandschuh einer Ritterrüstung stark ähneln. Aus dem späten Mittelalter stammen eiserne Hände mit beweglichen Fingern.

Durch den technischen Fortschritt wurden in den vergangenen Jahren viele Sprünge auf dem Gebiet gemacht. Mit moderne Mechatronik etwa werden Bewegungen von Prothesen natürlicher und der 3D-Druck erlaubt es, individuell angepasste Teile billiger herzustellen. Letzteres kann insbesondere bei Kindern, die sich im Wachstum befinden und die regelmäßig Ersatz brauchen, von Vorteil zu sein. Heute kommen bei der Fertigung von Prothesen außerdem moderne Materialien wie Kohlefasern zum Einsatz.