Ein Militärexperte analysiertVier Grundprobleme der Ukrainer – und fünf Szenarien für den weiteren Kriegsverlauf

Ein Militärexperte analysiert / Vier Grundprobleme der Ukrainer – und fünf Szenarien für den weiteren Kriegsverlauf
Ein Wohnhaus nach russischem Beschuss in Kiew Foto: AFP/Aris Messinis

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Wo liegen die größten Gefahren für die ukrainische Armee? Und in welche Richtung könnte sich der Krieg kurz- bis mittelfristig weiterentwickeln? Militärexperte Markus Reisner, Oberst an der Theresianischen Militärakademie in Österreich, analysiert für das Tageblatt die Situation.


Vier Grundprobleme der Ukrainer

Der Kampf um Kiew  

Sollte es den Russen gelingen, Kiew einzunehmen, werde es schwierig für die Ukrainer, sagt Reisner. Im schlimmsten Fall wird die Regierung festgesetzt oder in die Flucht getrieben. Fällt die Hauptstadt der Ukraine, als Gravitationszentrum des ukrainischen Verteidigungswillens, hat das einen massiven Einfluss auf die Moral. Präsident Wolodymyr Selenskyj ist, was man ihm nicht zugetraut hätte, eine absolute Symbolfigur geworden. Demnach: Kiew muss so lange wie möglich gehalten werden.  

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist zur absoluten Symbolfigur geworden
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist zur absoluten Symbolfigur geworden Foto: AFP

Die Zange im Osten

Die Ukrainer haben starke Kräfte an der Kontaktlinie bei Luhansk und Donezk im Osten des Landes eingesetzt. Die Russen versuchen, diese in einer Zangenbewegung einzukesseln. Gelingt das, könnten diese Kräfte zwar weiterkämpfen, aber nicht anders eingesetzt werden – und irgendwann müssten sie wegen Nachschubmangels kapitulieren. Das habe man in der Kriegsgeschichte schon oft gesehen, sagt Reisner. Die Frage sei also, ob die Russen noch genug Energie haben, um diesen Kessel zu schließen. Oder ob es den Ukrainern gelingt, sich bis zum Dnjepr zurückzuziehen. Der Fluss hat eine entscheidende Bedeutung, weil er das Land in zwei Hälften teilt und damit eine günstige Verteidigungslinie bilden kann. Dort könnten sich die Ukrainer festsetzen und vielleicht die Brücken zerstören.    

Die Verluste im Süden  

Der Süden der Ukraine, sagt Reisner, werde oft übersehen, „aber da ist es den Russen gelungen, schnell eine Reihe Ziele zu erreichen –  das muss man klar eingestehen“. Die russischen Streitkräfte haben die wichtige Hafenstadt Cherson eingenommen, dort den Dnjepr überschritten und es früh geschafft, den Kanal zur Krim wieder freizuräumen und die Halbinsel mit Wasser zu versorgen. Ein weiteres Ziel im Süden dürfte sein, das nächste Atomkraftwerk in Besitz zu bekommen, das Kernkraftwerk Süd-Ukraine. Die Russen haben nach der Einnahme des Kernkraftwerks Saporischschja nahe der Stadt Enerhodar bereits fünf Reaktoren in ihren Händen, dann kämen noch mal drei hinzu und sie würden 60 Prozent der Stromproduktion kontrollieren. Das sei ein wesentlicher Faktor, sagt Reisner, „weil sie dann der Bevölkerung den Strom zur Verfügung stellen können – oder eben nicht“.  

Das belarussische Problem

Reisner erinnert hierbei an die Streitkräfte im Raum der Stadt Brest im Westen von Belarus nahe der polnischen Grenze. Die Frage sei, warum diese russischen sowie belarussischen Truppen dort sind und welchen Auftrag sie haben. Nicht ausgeschlossen sei zum Beispiel ein Angriff mit begrenztem Ziel, der nicht einmal tief auf ukrainisches Gebiet vorstoßen müsste. Wenn plötzlich im Hinterland der Ukraine noch ein Angriff stattfindet, wäre der psychologische Effekt gewaltig. Viele Ukrainer, die aus dem Osten in den Westen geflüchtet sind und dort abwarten, stünden dann vor einem zusätzlichen Problem – und müssten vielleicht ins europäische Ausland flüchten. Was Reisner zufolge wiederum den Absichten des russischen Präsidenten Wladimir Putin entgegenkommen könnte, denn „jeder Ukrainer, der wegzieht, ist ein Partisan weniger, der sonst die Nachkriegsordnung stören könnte“. Reisner spannt hier den Bogen zur Situation in belagerten Städten wie Charkiw. „Die Leute haben kaum Wasser, kaum Essen, kaum Strom und werden permanent beschossen – irgendwann muss sich der einfache ukrainische Bürger, der zwischen den Fronten gefangen ist, irgendwie arrangieren“, sagt Reisner. Die ukrainischen Spezialkräfte würden lange Zeit aus dem Hinterhalt heraus Einsätze durchführen können, aber die einfache Bevölkerung habe Grundbedürfnisse, die in Zukunft nur vom Besatzer erfüllt werden könnten. Falls die Russen ihre Angriffs- und Belagerungskräfte weiterhin aufrechterhalten können, würden Städte wie Charkiw „selbstverständlich nach einer gewissen Zeit fallen“.

Mit Panzersperren bereiten sich die Menschen in Odessa auf einen russischen Angriff vor
Mit Panzersperren bereiten sich die Menschen in Odessa auf einen russischen Angriff vor Foto: AFP/Bulent Kilic

Fünf Szenarien für den Kriegsverlauf

Schneller Sieg der Russen

Der Krieg in der Ukraine geht jetzt in seine vierte Woche. „Das ist keine lange Zeit für einen Krieg, auch historisch gesehen nicht“, sagt Reisner, der nicht ausschließt, dass die russischen Streitkräfte ihren Waffeneinsatz massiv erhöhen könnten, um möglichst schnell eine Entscheidung herbeizuführen. Bislang seien die Russen in der Wahl ihrer Mittel überlegt vorgegangen und hätten die Intensität der Kämpfe Schritt für Schritt gesteigert. „Es ist nicht die klassische Art des Angriffs, wie wir es eigentlich aus russischer Doktrin kennen, wo bereits zu Beginn mit massivem Artilleriefeuer angegriffen würde, um den Widerstand zu brechen“, sagt Reisner. Je mehr die Russen ihre Waffensysteme einsetzen, desto verheerender würden die Kollateralschäden, die sich nicht vermeiden ließen, „weil es keinen sauberen und präzisen Krieg gibt, schon gar nicht mit den Systemen, die wir hier im Einsatz sehen“.  

Es kommt zum Abnutzungskrieg

Reisner sieht viele Indikatoren dafür, dass dieses Szenario eintreten könnte. Dies wäre der Fall, wenn keine der beiden Seiten zu einem Ergebnis kommt, das die andere in eine Verhandlungsposition zwingen könnte. Dieses Szenario würde den Krieg sicherlich verlängern, „vielleicht sogar in einen Konflikt, wie wir ihn in Syrien kennen, der durch das Nachführen von Waffensystemen immer weiter genährt wird“.

Ein Appartmenthaus in Kiew, dessen oberste Etagen von einer russischen Rakete getroffen wurden
Ein Appartmenthaus in Kiew, dessen oberste Etagen von einer russischen Rakete getroffen wurden Foto: AFP/Fadel  Senna

Es kommt zu Verhandlungspositionen

Beide Parteien kommen zu dem Punkt, wo sie etwas erreicht haben, das sie verkaufen können. Reisner zufolge könnte dies zum Beispiel der Fall sein, wenn die Russen es schaffen, bis zum Dnjepr vorzustoßen – die Ukraine wäre dann geteilt, kaum mehr handlungsfähig und Putin könnte das als russischen Sieg ausrufen. Auch die Ukrainer könnten eine solche Entwicklung zumindest als Teilerfolg verkaufen, indem sie sagen, sie hätten Kiew gehalten und die Russen davon abgehalten, das ganze Land einzunehmen – und sich so darstellen, als seien sie es gewesen, die Moskau in eine Verhandlungsposition gezwungen haben. Für Reisner ist das „ein realistisches Szenario“.  

Weitere Eskalation und Überregionalisierung

In Reisners viertem Szenario eskaliert die Situation weiter und es kommt zu einer Überregionalisierung des Krieges. Da müsse nicht unbedingt heißen, dass Russland die baltischen Staaten mit Raketen oder gar Bodentruppen angreift. Reisner erinnert an die anderen Aspekte der Kriegsführung, die vom Cyberkrieg bis zum Wirtschaftskrieg reichen. In Letzterem hat Russland bereits auf die Sanktionen des Westens reagiert, indem es die Düngemittelexporte einstellte, was auch Europa vor Probleme stellt. Engpässe bei Rohstoffen wie Öl, Gas und Seltenen Erden würden sich hingegen erst auf der mittelfristigen Zeitachse bemerkbar machen.  

Ein ukrainischer Soldat vor einem in Flammen stehenden Warenhaus in Kiew
Ein ukrainischer Soldat vor einem in Flammen stehenden Warenhaus in Kiew Foto: AFP/Aris Messinis

Der Tyrannenmord

Als fünftes Szenario nennt Reisner die Möglichkeit, dass irgendjemand aus dem Umfeld Putins sich dazu entscheidet, Putin umzubringen. „Dieses Tyrannenmord-Szenario ist das, was wir alle im Westen lieben“, sagt Reisner, dämpft aber umgehend die Erwartungshaltung. Aus der Erfahrung des Militärexperten heraus „neigen die Russen eher dazu, in einer Krise enger zusammenzurücken – vor allem, wenn sie das Gefühl haben, dass da nicht nur Putin angegriffen wird, sondern alle Russen“. Schließlich stelle sich die Frage, wer auf Putin folgen könnte, sollte der Tyrannenmord tatsächlich funktionieren.  

Oberst Markus Reisner im Video-Gespräch mit dem Tageblatt
Oberst Markus Reisner im Video-Gespräch mit dem Tageblatt Foto: Screenshot