Ukraine-KriegRussland will vier ukrainische Regionen mit Referenden annektieren – Kiew bleibt gelassen  

Ukraine-Krieg / Russland will vier ukrainische Regionen mit Referenden annektieren – Kiew bleibt gelassen  
Zwei Frauen feiern ihr Wiedersehen in der Region Charkiw, die die Ukraine von Russland zurückerobert hat – in den anderen von Russland gehaltenen Gebieten will Moskau nun Referenden abhalten Foto: AFP/Yasuyoshi Chiba

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Die prorussischen Kräfte in den vier zumindest zum Teil besetzten ukrainischen Regionen haben Referenden für eine Annexion an Russland angekündigt. Die Duma verschärft gleichzeitig Gesetze gegen Deserteure. In Russland steigt die Sorge vor einer Mobilisierung der Bevölkerung.

Die prorussischen Kräfte in den ukrainischen Regionen Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja haben Referenden für einen Beitritt zu Russland angesetzt. Die Abstimmungen sollen noch Ende dieser Woche anfangen und kommen wenige Tage nach dem Beginn einer Gegenoffensive der Ukrainer, die vor allem im Nordosten im Gebiet Charkiw erfolgreich war, aber auch Fortschritte sowohl in der Region Cherson wie in der Region Saporischschja vorzeigen konnte. Die von den geplanten Annexionen betroffenen Gebiete machen zusammengenommen knapp 20 Prozent der Landesfläche der Ukraine aus.

Vor der Ankündigung der Vertreter der prorussischen Separatisten in den genannten Regionen hatte der russische Ex-Präsident Dmitri Medwedew, mittlerweile stellvertretender Vorsitzender des russischen Sicherheitsrats, erklärt, die Annexion des Donbass durch Russland könne die russische Militäroffensive in der Ukraine stärken.

Medwedew droht

Experten gehen davon aus, dass die Referenden einer möglichen Mobilmachung in Russland vorausgehen könnten. Russland befindet sich nach offizieller Lesart noch immer nicht im Krieg, sondern in einer sogenannten „speziellen Militäroperation“. Ohne einen Krieg zu erklären, kann der russische Präsident Wladimir Putin aber keine Mobilmachung ausrufen. Zuletzt greift Moskau immer stärker auf die Söldnertruppe Wagner zurück und rekrutiert auch Kämpfer in Gefängnissen, um die eigenen personellen Engpässe an der 1.200 Kilometer langen Frontlinie in der Ukraine auszugleichen.

Schließen sich die von Russland und Separatisten besetzten Gebiete in der Ukraine durch Referenden an Russland an, könnte ein ukrainischer Angriff auf diese Regionen von Moskau als Angriff auf Russland ausgelegt und zum Anlass genommen werden, in den Kriegszustand zu wechseln und auch die Wirtschaft noch weiter auf eine Kriegswirtschaft umzustellen. „Das Eindringen in russisches Gebiet stellt ein Verbrechen dar“, schrieb Medwedew am Dienstag in Online-Netzwerken. Zur Selbstverteidigung könnte Moskau dann „alle Mittel der Notwehr einsetzen“, hob er hervor.

Der Feind hat Angst

Andrij Jermak,  Chef des Präsidentenbüros in Kiew

Ein weiterer Hinweis auf eine mögliche Mobilmachung kam gestern aus der Duma in Moskau. Das russische Unterhaus verabschiedete am Dienstag in zweiter und dritter Lesung ein Gesetz, das härtere Strafen für Desertieren, Ungehorsam und Beschädigung militärischer Einrichtungen vorsieht. Voraussetzung ist demnach, dass dies im Kampfgeschehen oder während einer Militärmobilmachung geschieht. Die Spekulationen auf eine nahende Verhängung des Kriegsrechts in Russland hat die dortigen Börsen am Dienstag auf Talfahrt gesetzt. Die Leitindizes der Moskauer Börse fielen am Dienstag zeitweise um mehr als zehn Prozent. Das ist für beide der größte Kursrutsch seit einem halben Jahr.

In einem Interview mit dem Tageblatt hat der österreichische Militärexperte und Kommandant der Wiener Garde Markus Reisner zuletzt die Schwierigkeiten Moskaus für eine mögliche Mobilmachung umrissen und darauf hingewiesen, dass eine Mobilisierung der russischen Bevölkerung viel Zeit brauchen werde. „Die eingezogenen Zivilisten müssen erst ausgebildet werden, es braucht Waffen und Strukturen, das ist alles nicht so einfach“, sagte Reisner. Wenn Russland demnach jetzt mobilisieren würde, werde man die Folgen davon erst im Frühjahr sehen.

Kiew bleibt gelassen

Die Vorbereitungen für Abstimmungen nach dem Modell des Referendums, das 2014 zur international kritisierten Annexion der südukrainischen Halbinsel Krim durch Russland führte, laufen bereits seit Monaten. Die Besatzungsverwaltung der südlichen Region Cherson hatte am 5. September erklärt, sie würde ihr Referendum aufgrund der aktuellen Ereignisse „aussetzen“ – mit Ereignissen war die Gegenoffensive der Ukraine gemeint. Beamte aus Cherson forderten die Besatzungsbehörden am Dienstag jedoch erneut auf, „unverzüglich ein Referendum“ über einen Anschluss an Russland abzuhalten. Die Scheinreferenden sollen vom 23. bis 27. September abgehalten werden, wie die Besatzungsmacht mitteilte.

Die Ukraine hat auf die angekündigten „Referenden“ in den besetzten Gebieten im Osten und Süden des Landes gelassen reagiert. „Weder die Pseudoreferenden noch die hybride Mobilmachung werden etwas ändern“, schrieb Außenminister Dmytro Kuleba am Dienstag beim Kurznachrichtendienst Twitter. Die Ukraine werde weiter ihr Gebiet befreien, egal, was in Russland gesagt werde. Der Chef des Präsidentenbüros in Kiew, Andrij Jermak, schrieb im Onlinedienst Telegram: „Der Feind hat Angst.“ (mit Agenturen)