EditorialEuropa soll wehrhaft und kriegstüchtig werden – dabei müssen wir vor allem friedensfähig bleiben

Editorial / Europa soll wehrhaft und kriegstüchtig werden – dabei müssen wir vor allem friedensfähig bleiben
Der politische Prozess in Europa hat sich vom kriegerischen Treiben Russlands verschieben lassen, Putin hat uns seine krude Weltsicht aufgezwungen, und wir passen unsere Handlungen dieser an Illustration: Editpress/Kim Kieffer

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1974 geboren und viel Zeit als Kind bei den Großeltern verbracht, gehört man zu jenen, die mit Geschichten aus dem Krieg aufgewachsen sind. Immer und immer wieder wurden sie erzählt, wurde aus diesen Jahren hervorgegraben, was nicht vergessen werden darf. Das Kind blieb gebannt, egal wie oft es das alles schon gehört hatte. Frieden ist kein Geschenk, für den Frieden muss man kämpfen, war eine der großen Botschaften, die hängen blieben und seitdem nicht mehr losließen. Nie wurde damals auch nur ansatzweise mit dem Gedanken gespielt, dieser Frieden wäre erreichbar gewesen, wenn der Besatzer gewonnen hätte.

Jetzt wird wieder viel über Frieden gesprochen. Und gleichzeitig nicht genug. Wer sich Frieden für die Ukraine wünscht, und das tun die Ukrainerinnen und Ukrainer mehr als alle anderen, ist ein Pazifist. Wer sich, um diesen Zustand zu erreichen, die Kapitulation der Ukrainer wünscht, mit allem, was dazugehört, wie dem Verlust der Staatlichkeit, einer russischen Besatzung und den einhergehenden Repressalien, ist sicher keiner. Kurzum, die Friedensbewegung, oder was von ihr übriggeblieben ist, und damit der Pazifismus an sich, steckt in der Krise. Doch nicht nur sie.

Der Europäischen Union, deren Raison d’être es ist, ein Friedensprojekt zu sein, ergeht es nicht besser. Gesprochen wird inzwischen davon, wie wehrhaft die Menschen in Europa sind, wie kriegstüchtig unsere Armeen, ob wir Krieg überhaupt noch können. Die Welt ist unsicher geworden. Sie „brennt“, sagte Außenminister Xavier Bettel im Interview mit dem Tageblatt. Stellt sich die Frage, wie diese Brände zu löschen sind.

Die Gefahr liegt darin, dass wir vergessen, friedensfähig zu bleiben, den Frieden immer und gegen alle Widerstände als das übergeordnete Ziel zu sehen – und das auch ununterbrochen zu betonen, bei jedem vergebenen Rüstungsauftrag, bei jeder Waffenlieferung, bei jeder Aufstockung eines Verteidigungsbudgets, bei jeder Rede eines Politikers oder einer Politikerin.

Aufrüstung ist in kurzer Zeit vom Tabu zum Gebot der Stunde geworden. Wenn du Frieden willst, bereite Krieg vor wieder zu einer erschreckend aktuellen Losung. Der politische Prozess in Europa hat sich vom kriegerischen Treiben Russlands verschieben lassen, Putin hat uns seine krude Weltsicht aufgezwungen, und wir passen unsere Handlungen dieser an. So wurden Friedensaktivisten bei uns zu Spinnern herabgestuft, Anwälte der Aufrüstung stiegen zu den Stimmen der Vernunft auf. Und die Saat der Zwietracht geht auf.

So wird es langsam, aber sicher gefährlich. Für unser Weltbild, unsere Werte, für das Friedensprojekt Europäische Union, für unsere Art, die Welt zu sehen – für unser Selbstbild, das uns lange Jahre zum Frieden verpflichtete. Wir sind dabei, unseren Humanismus zu opfern, um Moskau militärisch die Stirn zu bieten. Keine Frage, die Bedrohung, die von Putin ausgeht, auch für Europa, auch für uns, ist real. Dass wir uns angesichts dessen für Schlimmes rüsten, nur folgerichtig.

Aus dem Blick darf trotzdem nicht verloren gehen, worum es uns allen jederzeit und allerorts gehen muss: ein Leben in Frieden. Die Ukrainer müssen um ihren Frieden kämpfen. Wir müssen an den Frieden glauben. Wenn eine Friedensbewegung überzeugend und erfolgreich sein will, muss sie beides vereinen. Darauf sollten wir zusammen hinarbeiten.