InterviewMilitärexperte Markus Reisner über schlaue Ukrainer, unter Druck geratene Russen und einen lachenden Dritten

Interview / Militärexperte Markus Reisner über schlaue Ukrainer, unter Druck geratene Russen und einen lachenden Dritten
Ukrainische Artillerie an der Front Foto: AFP/Ihor Tkachov

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Militärexperte und Oberst Markus Reisner spricht über schlaue Ukrainer bei ihrer Gegenoffensive, die Gravitationszentren der Kriegsparteien und die Unmöglichkeit, 1.200 Kilometer Frontlinie zu kontrollieren. Dazu sagt uns der Österreicher, der den Krieg in der Ukraine seit seinem Beginn nüchtern und möglichst ausgewogen analysiert, welcher Player gerade das meiste für sich herausholt.

Tageblatt: Die Ukraine feiert mit ihrer Gegenoffensive erstmals seit langem wieder Erfolge. Ist Kiew dabei, diesen Krieg zu gewinnen?

Markus Reisner: Der Durchbruch der Ukrainer bei Balaklija wird in die Geschichtsbücher eingehen, einen Wendepunkt im Krieg markiert er aber nicht. Vielmehr läutet er eine neue Phase des Krieges ein. Die erste war der russische Angriff auf Kiew und dessen gelungene Abwehr durch die Ukrainer. In der zweiten Phase versuchten die Russen nach einem Zusammenziehen ihrer Kräfte, eine Entscheidung im Donbass herbeizuführen. Jetzt haben wir, durchaus überraschend, diesen Durchbruch der Ukraine bei Charkiw. Wir müssen verstehen, dass dieser Krieg auf zwei Ebenen geführt wird. Einmal operativ-taktisch, also militärisch, in der Ukraine selbst, aber auch strategisch in dem Wirtschaftskrieg, den Russland mit dem Westen führt. Beide Seiten, die Ukraine und Russland, müssen ihre sogenannten Gravitationszentren bewahren, dort entscheidet sich der Krieg.

Wie meinen Sie das?

Im militärischen Sinn ist ein Gravitationszentrum jener Bereich, der so wichtig ist, dass man nur überleben kann, wenn man ihn auch wirklich beschützen kann. Beim Menschen wäre es das Herz. Wir können Extremitäten wie Füße oder Hände verlieren, ohne Herz geht es aber nicht. Das Gravitationszentrum der Ukraine ist die Unterstützung des Westens. Auch bei den beiden ukrainischen Offensiven von Cherson und Charkiw sehen wir, dass die Ukraine fast ausschließlich westliches Militärgerät im Einsatz hat, vor allem solches aus Amerika, aber auch Panzer aus Polen und Tschechien. Wenn Russland es schaffen würde, die westliche Unterstützung der Ukraine zum Versiegen zu bringen, hätte die Ukraine keine Chance, diesen Krieg zu gewinnen.

Was ist denn das Gravitationszentrum Russlands?

Das ist die Kohäsion der eigenen Gesellschaft, das Zusammenstehen hinter Präsident Wladimir Putin. Solange das der Fall ist, wird Russland hier verbittert weiterkämpfen.

Zur Person: Markus Reisner

Der 1978 in Niederösterreich geborene Markus Reisner ist ein österreichischer Historiker, Offizier des
Bundesheeres und Militärexperte. Reisner studierte Rechtswissenschaften und Geschichte an der Universität Wien und schloss beide Studiengänge mit einem Doktortitel ab. Reisner veröffentlicht regelmäßig Artikel in Fachmagazinen und ist Autor mehrerer Bücher, darunter u.a. „Die Schlacht um Wien
1945“ und „Robotic Wars: Legitimatorische Grundlagen und Grenzen des Einsatzes von Military Unmanned Systems in modernen Konfliktszenarien“.

Aber wie schützen beide Seiten ihre sogenannten Gravitationszentren?

Das machen sie, indem sie sie mit Narrativen füttern. Die Ukraine sagt: Wir kämpfen hier für euch, für eure Werte, damit Russland nicht als totalitärer Staat obsiegt! Die Russen sagen: Wir kämpfen nicht gegen die Ukraine, sondern der Westen kämpft gegen uns! Das wäre wie eine Neuauflage des Großen Vaterländischen Krieges, wie die Russen den Zweiten Weltkrieg nennen.

Wird es dem Westen nach den jüngsten Erfolgen der Ukraine leichter fallen, weiter Waffen zu liefern?

Genau, das ist das Entscheidende. Die Ukraine musste zeigen, dass es noch wert ist, sie zu unterstützen. So machen die Waffenlieferungen Sinn für den Westen.

Alltag in der Stadt Irpin: Ein Mann geht auf ein zerschossenes Wohnhaus zu
Alltag in der Stadt Irpin: Ein Mann geht auf ein zerschossenes Wohnhaus zu Foto: AFP/Sergei Chuzakov

Neben der militärischen Niederlage im Raum Charkiw dürfte das ein weiteres Problem für Russland sein.

Ja, und die Russen wissen, dass sich die Stimmung erst dann wieder dreht, wenn sie es schaffen, einen Keil in diese Achillesferse der Ukraine zu treiben. Sie versuchen das, indem sie drei Urängste unserer Gesellschaften befüllen. Einerseits ist das, Stichwort Getreide, die Angst vor einer Hungerkrise und einer einhergehenden Migration. Dann ist es die Angst vor einer nuklearen Eskalation, etwa durch einen Gau am AKW Saporischschja oder sogar durch den Einsatz taktischer Nuklearwaffen. Und schließlich ist da die Angst vor einer ökonomischen Rezession durch Rohstoffentzug. Wenn es Russland gelingt, die europäischen Bevölkerungen mit diesen Ängsten zu spalten und diese die Ukraine nicht weiter unterstützen wollen, weil es ihnen selber schlecht geht, dann haben die Russen auf lange Sicht gewonnen – selbst wenn sie taktisch und gefechtstechnisch auf dem Schlachtfeld eine Niederlage an die andere reihen.

Wir reden viel über Waffenlieferungen und kaum über Hilfe durch westliche Geheim- und Nachrichtendienste. Wie wichtig ist diese Hilfe?

Die ist entscheidend. Schon zu Beginn des Krieges gab es diese gezielten Angriffe auf die Gefechtsstände der Russen, die ohne westliche Aufklärungsdaten kaum möglich gewesen wären. Ein gutes Beispiel sind auch die Satellitenaufnahmen. Solche Bilder kosten viele tausend Euros. Die werden nicht ohne Grund gratis um die Welt verteilt. Die westlichen Nachrichtendienste streuen diese und zeigen so: Wir haben das Ziel getroffen. Das war zuletzt bei dem zerstörten russischen Luftwaffenstützpunkt bei Saki auf der Krim der Fall. Die Russen spielten das herunter und sagten, es habe sich um einen Unfall gehandelt. Dann schickten die Ukrainer einen Angriff hinterher, die westlichen Nachrichtendienste veröffentlichten wieder die entsprechenden Satellitenbilder – und damit war klar, dass sich dieses Unfall-Narrativ der Russen nicht aufrechterhalten lässt.

Bei dem ukrainischen Gegenangriff bei Charkiw sollen westliche Nachrichtendienste auch eine Rolle gespielt haben.

Ja, wahrscheinlich sogar eine große Rolle. Die Ukrainer haben sich sehr präzise die schwächste Stelle ausgesucht und sind dort in den Vormarsch gegangen. Das geht nur mit entsprechend guter Aufklärung. Der durchschlagende Erfolg dieser Offensive hat aber, glaube ich, auch die Ukrainer überrascht. Sie hatten ja noch die Offensive im Süden in den Knochen, die, momentan zumindest, nicht recht vom Fleck kommt.

Man darf nicht vergessen, dass die Frontlinie 1.200 Kilometer lang ist. Das können die Russen nicht lückenlos überwachen.

Dort sollen die Russen auch stärker aufgestellt sein.

Hinzu kommt auch das sehr flache Gelände, in dem man sich nicht so bereitstellen kann, dass der Gegner es nicht sieht. Das ist der große Unterschied zu früher. Heute bleibt einem nichts verborgen, weil eine Drohne weite Gelände aufklären kann. Die Ukrainer mussten sich dort mehr schlecht als recht in diesen Heckengürteln verstecken und wurden von den Russen mit Artillerie angegriffen.

Auch Russland setzt Aufklärungsdrohnen ein, sie gehören zum täglichen Kriegsgeschehen. Warum haben die Russen es nicht fertiggebracht, die ukrainische Offensive im Norden bei Charkiw zu antizipieren?

Man darf nicht vergessen, dass die Frontlinie 1.200 Kilometer lang ist. Das können die Russen nicht lückenlos überwachen, weil sie immer noch mit jener Garnitur kämpfen, mit der sie einmarschiert sind – und von diesen 200.000 Mann sind vermutlich mehrere Zehntausend gefallen. Da ist zwar etwas Ersatz gekommen, das Problem der Überwachung der sehr langen Frontlinie hat das aber nicht gelöst. Demnach müssen die Russen Schwergewichte bilden, und die ausgedünnten Stellen bieten sich an für Gegenangriffe.

Im Fall Charkiw scheint die Ukraine genau an der richtigen Stelle zugeschlagen zu haben. Trotzdem überrascht die kaum vorhandene Gegenwehr der Russen. Wie konnte es dazu kommen?

Die Eigendynamik, die bei einer solchen Aktion entstehen kann und hier offenbar entstanden ist, spielt eine zentrale Rolle. Ein Durchbruch ist dann einer, wenn er in die Tiefe des Raums geht und er eine Eigendynamik entwickelt, die meistens verknüpft ist mit einer Panik auf der angegriffenen Seite.

Aber wie sorgt man dafür, dass eine solche Panik entsteht?

Die Ukrainer haben das sehr schlau gemacht. Mit ihren schnellen mobilen Einheiten sind sie in die Dörfer gefahren, haben dort die ukrainische Flagge gehisst und diese Bilder per Starlink gleich online gestellt. Die Russen sehen das auf den sozialen Netzwerken und bekommen den Eindruck vermittelt, dass es für sie nur mehr eine Rettung gibt – so schnell wie möglich fliehen.

Die Russen haben versucht, das als Neuordnung ihrer Kräfte zu verkaufen.

Das ist Blödsinn. Schauen Sie sich an, was die Russen an Militärgerät zurückgelassen haben. Man nimmt an, dass es die Ausstattung von zwei bis drei Panzerregimentern war. Davon gibt es viele Bilder. Es wäre ein sehr schlechter Plan gewesen, nur die Soldaten abzuziehen und das schwere Gerät zurückzulassen. Da war Panik. Und wenn eine Armee bis am Davonrennen ist, lässt sie sich nur mehr sehr schwer anhalten.

Nahe der Stadt Isjum steht ein ukrainischer Soldat auf einem zerstörten russischen Panzer
Nahe der Stadt Isjum steht ein ukrainischer Soldat auf einem zerstörten russischen Panzer Foto: AFP/Juan Barreto

Mit der Schwächephase der Russen tritt der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow mit großspurigen Tönen wieder auf die Bühne und verspricht, dass seine Kämpfer die russischen Probleme lösen werden. Was ist davon zu halten?

Kadyrow erkennt, dass es hier eine Schwäche gibt und die versucht er zu nützen. Kadyrow versorgt uns ja auch dauernd mit Bildern. Einmal marschieren Tausende Tschetschenen martialisch in Grosny auf. Und am Mittwoch zirkulierte ein Video, das einen tschetschenischen Pick-up-Konvoi unterwegs zur Front zeigen soll. In dem pro-tschetschenischen Teil der russischen sozialen Medien gibt es die Diskussion, ob Kadyrow nicht der bessere russische Verteidigungsminister als Sergei Shoigu wäre. Wenn es dazu käme, würde das die tschetschenische Community natürlich enorm stärken.

Wie geht es jetzt weiter, greift Putin vor dem Winter noch zum Mittel der Mobilisierung?

Momentan scheint Putin eine Mobilisierung noch vermeiden zu wollen. Eine solche würde den Zusammenhalt der russischen Gesellschaft auf eine harte Probe stellen und zurzeit hat Putin noch andere Optionen, vor allem da der Winter naht. Vielleicht ziehen sich die Russen im Raum Cherson im Süden der Ukraine noch auf das Ostufer des Flusses Dnjepr zurück und halten diese Stellungen dann über den Winter, um sich zu konsolidieren und im Frühjahr eine neue Offensive zu starten. Wenn sich die Ereignisse aber überschlagen, muss Moskau vielleicht neue Maßnahmen treffen. Eine Mobilisierung dauert jedoch, die eingezogenen Zivilisten müssten ja erst ausgebildet werden, es braucht Waffen und Strukturen, das ist alles nicht so einfach. Wenn sie jetzt mobilisieren würden, würde man das erst im Frühjahr sehen.

Es entsteht immer mehr Chaos und Unruhe. Ein Zeichen für bevorstehende unruhige Zeiten.

Wird der Winter wirklich für ein vorübergehendes Ende der Kampfhandlungen sorgen?

Die Winter in der Gegend haben sich seit Jahrhunderten nicht geändert. Die Kälte und der Schnee bringen die Kampfhandlungen zum Erliegen. Zudem wird die Ukraine damit beschäftigt sein, ihre 38 Millionen Bürgerinnen und Bürger durch die kalten Monate zu bekommen. Wir werden Scharmützel sehen, aber keine großen Offensiven – das ist seit hunderten Jahren in dieser Region so.

Mitten im Ukraine-Krieg ist es zu sehr heftigen Gefechten zwischen Aserbaidschan und Armenien gekommen. Aserbaidschan hat, anders als in vorherigen Konflikten mit seinem verfeindeten Nachbarn, armenisches Territorium direkt angegriffen. Russland steht hinter Armenien, die Türkei hinter Aserbaidschan. Was für ein Übel braut sich da zusammen?

Die Aserbaidschaner – und damit die auch die Türken – haben beim Sechswochenkrieg vom Herbst 2020 nicht alle ihre Ziele erreicht. Es wurden zwar weite Teile Bergkarabachs von den Armeniern erobert, aber die Landbrücke von Aserbaidschan in die Türkei, die mitten durch Armenien führen würde, haben sie damals auch deswegen nicht bekommen, weil Russland eingeschritten ist und einen Friedensvertrag diktiert hat. Jetzt haben wir den ersten Schwächemoment auf der russischen Seite – und das wird sofort ausgenützt.

Spielt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, ohne dessen Rückendeckung Aserbaidschan jetzt kaum hätte in die Offensive gehen können, diese Karte bewusst?

Die Türkei ist das beste Beispiel für einen Player, der die Situation jetzt maximal zu seinem Vorteil nützt. Die Türken spielen auf mehreren Seiten und holen das Beste für sich heraus. Wir befinden uns in einem Übergang von einer unipolaren geopolitischen Weltordnung zu einer multipolaren. Da werden neue Allianzen geschlossen und neue Grenzen abgesteckt. Amerika kommt auf verschiedenen Ebenen, etwa durch China, Russland oder den Iran, unter Druck. Das war früher undenkbar. Es entsteht immer mehr Chaos und Unruhe. Ein Zeichen für bevorstehende unruhige Zeiten.

440 Leichen in einem Massengrab

Bei den in der zurückeroberten Stadt Isjum entdeckten mehr als 440 Leichen in einem Massengrab handelt es sich nach ukrainischen Angaben überwiegend um Zivilisten. „Nach einer vorläufigen Schätzung sind es Zivilisten“, sagte Polizeichef Ihor Klymenko am Freitag auf einer Pressekonferenz. „Wir haben zwar Informationen, dass sich dort auch Soldaten befinden – aber wir haben noch keinen einzigen geborgen.“ Die Exhumierungen werden fortgesetzt, fügte er hinzu. Das Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen (UN) will Beobachter nach Isjum senden. „Sie wollen sich dorthin begeben, um mehr darüber herauszufinden, was passiert sein könnte“, sagte Sprecherin Liz Throssell in Genf. Wann ein solcher Besuch stattfinden könnte, blieb zunächst unklar. (Reuters)

Phil
17. September 2022 - 15.09

Zitat: "...welcher Player gerade das meiste für sich herausholt." Naja, Herr Reisner, sie sehen den Konflikt ja wohl eher sportlich. Denn wenn man das so liest, glaubt man, man sie moderieren ein Tennismatch.