InterviewRodrigo Moreno: „Sie hassen die Kultur“

Interview / Rodrigo Moreno: „Sie hassen die Kultur“
Regisseur Moreno Coypright: Wanka Cine

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Der argentinische Filmemacher Rodrigo Moreno ist seit der Premiere von „Los delincuentes“ bei den Filmfestspielen in Cannes in aller Munde. Im Rahmen der Pressetour war er am vergangenen Dienstag auch in Luxemburg zu Besuch. Wir haben uns mit ihm über die gesellschaftlich-politische Situation in Argentinien unterhalten sowie über die Notwendigkeit von längeren Filmen und wie ihn das Schreiben über das Kino zu einem besseren Filmemacher machte.

Tageblatt: Mit „Los delincuentes“ haben Sie einen Film von 1949 adaptiert: „Apenas un delincuente“ von Hugo Fregonese. Wie würden Sie Ihre Adaption zusammenfassen? 

Rodrigo Moreno: Es ist keine Adaption, denn ich habe nur die Prämisse übernommen. Ein Mann, der Geld von seiner Arbeit klaut und beschließt, ins Gefängnis zu gehen, um für seine Straftat zu büßen. Um dann, nach seiner Freilassung, von diesem Geld zu leben. Er ist ein schelmischer, ehrgeiziger und gieriger Charakter, der einfach nur Millionär werden will. Ich habe diese Prämisse sehr verformt, weil sie mich dazu gebracht hat, andere, sehr unvorhersehbare Wege einzuschlagen.

Fregoneses Film ist kurz und knackig, immer nach vorne blickend, jeden unnötigen Ballast loswerdend, um die Handlung in Gang zu halten. Ihr Film hingegen ist objektiv länger und seine Figuren beschließen irgendwann, sich mit allem Zeit zu lassen. Eine bewusste künstlerische Aussage Ihrerseits, oder?

Bevor ich auf die Idee kam, eine Geschichte aus einem bereits existierenden Film herauszuschälen, wollte ich einen großen Film mit vielen Figuren, Landschaften, Genres und Umwegen machen. Mit dieser Prämisse fand ich schließlich die Geschichte, die es mir erlaubte, diesen Film zu machen. Was die Zeit und die Länge angeht … – es ist seltsam, dass ich immer nach der Länge meines Films gefragt werde, wo doch die Leute gewohnt sind, eine ganze Staffel einer Fernsehserie an einem Abend zu „bingen“ und so vier, fünf Stunden wie auf ihren nächsten Schuss wartende Junkies verbringen. Der Grund, warum dieser Film drei Stunden lang ist, ist, dass ich mir Zeit nehmen musste, um über Zeit zu sprechen. Natürlich geht es in dem Film um Freiheit, aber vor allem geht es um Zeit. Und die Offenbarung, die Morán in dieser Hinsicht macht. Später auch Roman. Es geht um unseren Umgang mit der Zeit und darum, dass wir unsere Zeit anders leben können. Das ist es, was Norma, die weibliche Figur, den beiden anbietet. Um über die Zeit zu sprechen, braucht man eben Zeit. Sonst wäre es ein Widerspruch.

„Los delincuentes“ hat eine sehr fassbare literarische Komponente. Woher kommt das? Das kann nicht nur mit der dreistündigen Laufzeit zu tun haben.

Ich denke, es sind zwei Dinge. Erstens die buchstäbliche Präsenz der Literatur – wenn die Figuren z.B. Poesie lesen. Diese Dimension hat mit der Unproduktivität zu tun. Der Film konfrontiert die Ideen von produktiver und unproduktiver Zeit. Die Poesie oder der Film, den Ramon zu machen versucht, sind völlig unproduktiv. Die Unproduktivität, die sie finden, ist für mich sehr schön. Dann gibt es noch eine andere Ebene der Literatur. Sie hat mit einigen Obsessionen zu tun, die ich mit der Sprache habe. Das ist der Grund, warum die Figuren die Namen haben, die sie haben, mit den Anagrammen zum Beispiel. Und es ist die Entscheidung, den Film von der realistischen Darstellung zu trennen. Ich weiß nicht, ob die Verbindung klar ist, aber diese Sache, nicht realistisch zu sein, gehört für mich neben dem Spiel mit der Sprache zur literarischen Komponente des Films.

Das Literarische im Kinematografischen, die etwas längere Dauer der Filme und die gleichen Schauspieler verbinden Sie mit einigen Ihrer argentinischen Zeitgenossen wie Mariano Llinás oder Laura Citarella. Ist das nur ein Zufall?

Zum einen ist Mariano, der Regisseur von „La Flor“, Mitherausgeber der Filmzeitschrift. Wir haben heute sogar über die nächste Ausgabe des Magazins gesprochen. Der Herausgeber von „La Flor“ und von „Trenque Lauquen“ von Laura Citarella, Alejo Moguillansky, selbst ein großer Filmemacher, ist ein sehr enger Freund von mir. Ich habe sogar im Zug von Brüssel nach Luxemburg an einem seiner Kurzfilme mitgearbeitet. Wir stehen uns also alle sehr nahe und sind befreundet, und der Dialog zwischen uns ist konstant. Das liegt an der Zeitschrift, an Rafael, der uns alle zusammengebracht hat, und an der Universität, an der wir alle studiert haben und heute lehren. Aber sie sind Teil eines Kollektivs, das sich „El Pampero Cine“ nennt. Und ich betrachte mich in mancher Hinsicht als weit entfernt von ihnen. Die Art, wie sie ihre Filme produzieren, ist nicht dieselbe. Und auch die Erzählweise ihrer Filme ist anders.

In der aktuellen Ausgabe der Cahiers du Cinéma beklagen Sie, dass die große Mehrheit des Kinos faul ist und dass Sie und Ihre Kollegen eine gewisse Modernität des Kinos verteidigen. Was soll das heißen? Was ist „eine gewisse Modernität“ des Kinos?

Es geht um die Verantwortung, mit einer komplexen Sprache umzugehen, die vor über einem Jahrhundert entwickelt wurde. Die Moderne als ein Weg, die Begriffe der Filmsprache neu zu definieren. Das ist es, was es bedeutet.

Der argentinische Filmsektor steht an einem Wendepunkt. Nach umstrittenen Reformen – die allerdings alle Bereiche der Gesellschaft betreffen – soll die staatliche Unterstützung für lokale Filme gekürzt werden, und dem „Nationalen Institut für Kino und audiovisuelle Künste“ (INCAA) wird ein Großteil seiner Mittel gestrichen, um nur einige Dinge zu nennen. Was bedeutet das für die Zukunft des argentinischen Kinos, das in den letzten Jahren fantastische Filme hervorgebracht hat? Was ist mit Ihrer Zukunft als Filmemacher?

Meine größten Sorgen sind nicht die eines Filmemachers, sondern die eines Bürgers. Ich bin Teil einer Gesellschaft, die unter einer Politik leidet, die zu hart für die Menschen ist, völlig irrational und voller Hass. Natürlich repräsentiert Javier Milei eine universelle neue Bewegung. Das Sozialsystem und die klassische Politik haben versagt. Das sind meine Hauptsorgen: die Bildung, das Gesundheitswesen, der Verkehr, die Wissenschaft und die Kultur, alles ist durch die neue Politik dieser Regierung bedroht. Sie hassen die Kultur wirklich. Was den Filmsektor betrifft, ist es ziemlich kompliziert. Wir sind auf das Institut angewiesen. Nicht nur als Finanzierungsmechanismus. Es unterstützt auch neue Filmemacher wie eine Start-up-Maschine. Um eine Industrie zu unterstützen, die sich selbst vervielfältigt und Geld und Arbeitsplätze schafft. Die Regierung will diese Industrie jetzt einfach stoppen. Das macht keinen Sinn. Sie bieten nichts anderes an, als dem Ganzen ein Ende zu setzen. Was mich betrifft, so weiß ich es nicht. Nachdem ich einen Film gemacht habe, der überall, wo er gezeigt und veröffentlicht wurde, sehr gut aufgenommen wurde, sollte es der beste Moment meiner Karriere sein, weiterzumachen und neue Filme zu entwickeln. Aber ohne lokales Geld wird es sehr schwierig sein, in Argentinien Filme zu entwickeln. Das zwang mich, darüber nachzudenken, Filme im Ausland zu drehen. Das ist nicht schlecht, aber es ist nicht mein Plan. Ich möchte argentinische Filme machen. Ich muss und will mich in meiner eigenen Sprache ausdrücken. Das ist etwas, das ich wirklich mag. Oder ich drehe einfach Filme auf meinem Handy.

Szene aus Morenos jüngstem Epos „Los delincuentes“
Szene aus Morenos jüngstem Epos „Los delincuentes“ Coypright: Wanka Cine