Rückblick„Liberté, liberté, liberté!“: So verliefen die Antivax-Proteste vor einem Jahr

Rückblick / „Liberté, liberté, liberté!“: So verliefen die Antivax-Proteste vor einem Jahr
Anfang Dezember versuchen Demonstranten bei Antivax-Protesten den Weihnachtsmarkt an der „Gëlle Fra“ zu stürmen Foto: Editpress/Claude Lenert

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Am 4. Dezember 2021 – vor exakt einem Jahr – laufen Proteste gegen die Covid-Politik der Regierung erstmals aus dem Ruder. Es ist der Auftakt einer Reihe von Antivax-Demos, die mehr als einen Monat lang die Öffentlichkeit in Atem und die Polizei ganz schön auf Trab halten.

29. November 2021: Die Pandemie steuert vor den Festtagen einem neuen Tiefpunkt entgegen. Die vierte Welle hält das Land in Atem, die Regierung ist im Zugzwang. Premier Xavier Bettel (DP) und Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) treten vor die Presse, um neue Maßnahmen zu verkünden. Ziel ist es, über Weihnachten einen Lockdown zu verhindern. 

Um „die Impfquote zu erhöhen und das Infektionsrisiko zu mindern“, entscheidet die Regierung, die Covid-Check-Regeln zu verschärfen. Arbeitnehmer müssen ab Januar einen Test, einen Impfbescheid oder eine Genesung vorzeigen, während bei Veranstaltungen wie dem Weihnachtsmarkt nur ein Standard gilt: 2G – geimpft oder genesen.

Kritiker sind außer sich. Viele Bürger tun seit Oktober regelmäßig ihren Unmut bei Märschen durch die Hauptstadt kund. Es ist dies neben der „Polonaise solidaire“ schon die zweite Bewegung dieser Art. Mit Kerzenlicht ziehen sie freitags friedfertig von der Philharmonie in die Innenstadt. Neben radikalen Impfgegnern und Covid-Leugnern sind auch viele besorgte Bürger dabei, die eine Spaltung der Bevölkerung befürchten. Zwischenfälle gibt es bei den Kundgebungen keine.

Am 4. Dezember schlägt die Stimmung um. Manchen gehen die stummen Proteste nicht weit genug. So kommen an diesem Samstag in der Hauptstadt knapp 2.000 Personen zusammen, um ihrem Ärger freien Lauf zu lassen. Die Stimmung ist aufgeheizt, gar aggressiv. Splittergruppen versuchen, sich über die Covid-Check-Regeln hinwegzusetzen und die Weihnachtsmärkte zu stürmen. Es kommt zu Auseinandersetzungen mit den Ordnungskräften.

„Überschreitung von Grenzen“

Bürgermeisterin Lydie Polfer sieht sich gezwungen, die Weihnachtsmärkte vorübergehend zu schließen. Demonstranten steigen auf das Denkmal der „Gëlle Frau“, um dort Botschaften mit fragwürdigen Inhalten zu befestigen. Gleichzeitig müssen Polizisten die Eingänge der Chamber schützen, während Demonstranten vor die Wohnungen bekannter Politiker ziehen. In Bonneweg wird das Haus von Premier Xavier Bettel belagert, während Familienministerin Corinne Cahen (DP) ihr Haus aus Sicherheitsgründen verlassen muss.  Wochen später werden auch Gesundheitsministerin Paulette Lenert und Polizeiminister Henri Kox in ihren Privatdomizilen belästigt. 

„Diesen Aufruf zum Hass können wir nicht akzeptieren“, sagt Polizeiminister Henri Kox („déi gréng“) am Tag nach den Auseinandersetzungen am Weihnachtsmarkt. Man könne nicht zulassen, dass sich eine Minderheit über demokratische Prinzipien hinwegsetze und andere Menschen belästige. Entgegen aller Kritiken beteuert die Polizeiführung, dass man auf Ausschreitungen vorbereitet gewesen sei. Nur habe man in erster Linie deeskalierend eingreifen wollen, um Schlimmeres zu verhindern.

Doch die Stimmung bleibt angespannt. Aus den sozialen Netzwerken wissen die Behörden, dass mit weiteren Protesten zu rechnen sei. Dem wollen sie eine ausgewiesene Protestzone und ein angepasstes Polizeiaufgebot entgegensetzen. Es sei nicht das Ziel, den Bürgern das Recht auf freie Meinungsäußerung zu nehmen, erklärt Henri Kox. „Allerdings muss diese Freiheit gewährleistet bleiben, ohne Drittpersonen zu beeinträchtigen“, so der Minister. Aus diesem Grund habe man sich dazu entschlossen, die Proteste auf den Streifen zwischen Glacis und place de l’Europe auf Kirchberg zu begrenzen.

Nichts soll dem Zufall überlassen werden: Am 11. Dezember rückt die Polizei in der Stadt mit einem Großaufgebot an. Verstärkung erhalten sie von den Kollegen aus Belgien, die einen Wasserwerfer mitbringen. Die Stimmung am Glacis ist geladen.

Am 11. Dezember greifen die Beamten hart gegen Demonstranten durch, die sich nicht an die Regeln halten
Am 11. Dezember greifen die Beamten hart gegen Demonstranten durch, die sich nicht an die Regeln halten Foto: Editpress/Alain Rischard

„Es liegt etwas in der Luft“

„Aus Boxen dröhnt laute Musik, während vereinzelte Teilnehmer mit Trillerpfeife und Rauchbomben bewaffnet auf die Polizei zuhalten. Andere skandieren lautstarke Parolen, dazwischen immer wieder ,Liberté, liberté, liberté!’. Am Rand des Kreisverkehrs bewachen Polizisten in schwerer Schutzkleidung die Zugänge zum Stadtpark und die Straße zur Innenstadt. Der Verkehr wurde umgeleitet, auch die Tram hat ihren Betrieb bereits eingestellt. Die Polizisten werden von vermummten Demonstranten angepöbelt. Es liegt etwas in der Luft“, heißt es später im Bericht des Tageblatt.

Plötzlich kommt Bewegung ins Spiel. Kleine Gruppen versuchen, aus der Protestzone auszubrechen und – begleitet von dichten Rauchschwaden, Trillerpfeifen und explodierenden Böllern – in die Innenstadt zu gelangen. Die Polizei greift konsequent durch und drängt die Menge zurück. Dabei kommt auch der Wasserwerfer zum Einsatz. 19 Personen werden an diesem Tag aufgegriffen, fünf formell verhaftet. Ein gewaltbereiter Demonstrant wird dem Untersuchungsrichter vorgeführt.

Der Einsatz zeigt Wirkung. Zwar gehen die Demonstranten in der Folge weiter auf die Straße, doch die Zahl der Teilnehmer nimmt ab. Eine Woche später versammeln sich wieder mehrere hundert Menschen außerhalb der Protestzone, größere Zwischenfälle aber gibt es keine. Auch die Festtage verlaufen ruhig. Knapp hundert Personen finden sich an Heiligabend am Knuedler ein, am ersten Weihnachtstag sind es nur noch 50 Teilnehmer am Glacis und in der Nacht zu Silvester kann man die Zahl der Demonstranten vor der Philharmonie an einer Hand abzählen. Sie werden überall von einem soliden Polizeiaufgebot empfangen, das nichts dem Zufall überlässt.

Doch die Ruhe trügt: Am ersten Samstag im Januar 2022 treffen sich die Demonstranten wieder am Bahnhof, um zum Glacis zu marschieren. Dieses Mal aber sind Randalierer aus Frankreich angereist – darunter auch Mitglieder des „Bloc lorrain“. In der Innenstadt liefern sich die „Krawalltouristen“ ein regelrechtes Katz- und Mausspiel mit der Polizei. Immer wieder brechen sie ins Stadtzentrum aus, wo sie mit Böllern und rauchenden Bengalos die öffentliche Ordnung gefährden.

Der Wendepunkt

Das lassen die Behörden nicht auf sich sitzen und greifen eine Woche später konsequent durch: Mehr als 350 Demonstranten werden kurz nach Beginn der Demo am 15. Januar in der Avenue de la Liberté mehrere Stunden lang eingekesselt, Unruhestifter kommen sofort in Polizeigewahrsam. Die Polizei nimmt mehr als 30 Personen fest, führt Hunderte Identitätskontrollen durch. Die nicht gemeldeten Proteste werden im Keim erstickt.

Trotz vereinzelter Kritik zeigt die Vorgehensweise Wirkung. Nach diesen Ereignissen tun sich Teilnehmer zu einem Bürgerkollektiv zusammen, um die Veranstaltungen in geordnete Bahnen zu lotsen. Man wolle erreichen, dass wieder mehr Bürger an den Demos teilnehmen können, ohne Angst zu haben, in Krawalle zu geraten. In der Folge werden Veranstaltungen angemeldet, während Stewards entlang der Protestroute für Ruhe und Ordnung sorgen. Zwar setzen sich vereinzelte Protagonisten in den folgenden Monaten noch mit kleineren Protestaktionen und Kundgebungen in Szene  – weitere Ausschreitungen aber bleiben aus.

Am 15. Januar greifen die Polizisten kurzerhand durch und kesseln die Demonstranten im Bahnhofsviertel ein
Am 15. Januar greifen die Polizisten kurzerhand durch und kesseln die Demonstranten im Bahnhofsviertel ein Foto: Editpress/Fabrizio Pizzolante