Großbritannien / Infektion auf Steroiden: Scharfe Kritik an Zehntausenden EM-Besuchern
Alles halb so wild, findet der britische Premier Boris Johnson. Großbritannien verfüge dank seiner Impfkampagne über eine Immunitätswand. Experten sehen das anders.
Vor dem Hintergrund stark ansteigender Corona-Infektionszahlen geraten in Großbritannien große Sport-Events mit Zehntausenden begeisterten Zuschauern zunehmend in die Kritik. Neben dem Tennisturnier von Wimbledon warnen Covid-Experten vor allem vor den EM-Spielen im Londoner Wembley-Stadion. Premier Boris Johnson wischte die Einwände am Freitag beiseite: Durch das erfolgreiche Impfprogramm gebe es im Königreich „eine Immunitätswand“, welche die Durchführung von Großereignissen möglich mache.
Wissenschaftler sind anderer Meinung. Die konservative Regierung laufe Gefahr, den Fehler von vergangenem Sommer zu wiederholen, als die Bevölkerung zu verbilligten Restaurantbesuchen ermutigt worden war, was massiv höhere Ansteckung mit SARS-CoV-2 zur Folge hatte. Die Fußball-EM werde einen ähnlichen Effekt haben, „und zwar auf Steroiden“, fürchtet Professor Stephen Reicher von der Universität im schottischen St. Andrews.
Die Kritik basiert auf alarmierenden Zahlen nach den EM-Spielen in Glasgow und dem Londoner Vorrundenspiel zwischen England und Schottland. Der schottischen Gesundheitsbehörde PHS zufolge hatten knapp 2.000 Neuinfizierte mindestens ein EM-Spiel besucht. Fast zwei Drittel waren mit Bus, Bahn oder Privatauto nach London gereist, allein 400 Besucher des Derbys mussten anschließend in Quarantäne.
War die Zahl der Besucher bisher auf 45.000 begrenzt, so hat die Regierung für die beiden Halbfinalspiele und das Finale dem Druck der UEFA nachgegeben und die Ausgabe von 60.000 Eintrittskarten zugelassen. Der Psychologe Reicher fürchtet den Nachahmungseffekt: „Wenn 60.000 Fans ins Stadion dürfen, ohne dass von Risiko die Rede ist, lautet die Botschaft an 60 Millionen Fans daheim: Ihr könnt umarmen, wen und wann ihr wollt.“ Dabei stehe der Wettlauf zwischen der hochinfektiösen Delta-Variante und dem britischen Impfprogramm derzeit noch auf Messers Schneide.
„Ein furchtbarer Plan“
Auch die Mathematikerin Christina Pagel vom Londoner University College sieht die Zahlen mit Besorgnis: Die Erkenntnisse aus Schottland seien viel ernster zu nehmen als die bisher veröffentlichten Studien über kleinere Testevents in England. Angesichts des exzellenten Impfprogramms sei Herdenimmunität durch zusätzliche Infektionen der falsche Weg: „Aber genau dies scheint der Plan zu sein. Es ist ein furchtbarer Plan.“
Die Superspreader-Events rund um die Fußball-EM fallen in eine Phase, in der auf der Insel noch immer eine Reihe von Einschränkungen gelten. Den letzten Schritt in einer Reihe vorsichtiger Lockdown-Lockerungen hatte die Regierung Mitte Juni um vier Wochen zurückgestellt. Nun soll der 19. Juli zum „Freiheitstag“ werden, wie es in der für alberne Slogans stets aufgeschlossenen Downing Street und den Boulevardmedien heißt.
Was genau dies für den individuellen Gesundheitsschutz bedeutet, lassen Johnson und sein neuer Gesundheitsminister Sajid Javid offen. „Es könnte sein, dass wir auch danach noch Vorsicht walten lassen müssen“, teilte der Premierminister mit. Die Rede ist davon, dass Arbeitgeber ihren Angestellten auch weiter möglichst große Freiheit einräumen sollen, vom Home-Office aus zu arbeiten.
Fallen dürften die Maskenpflicht in geschlossenen Räumen sowie die Abstandsregel von bis zu zwei Metern. Welche Folgen dies tatsächlich haben wird, stellt eine offene Frage dar. Denn auf sozialen Netzwerken machen sich schon jetzt jene Mut, die an Masken in Geschäften, bei Bus und Bahn festhalten wollen. Auch vor den beiden strengen, von der Regierung verfügten Lockdowns hatte die Bevölkerung längst ihre eigene Vorsicht walten lassen.
Das Königreich werde lernen müssen, „mit dem Virus zu leben“, lautete Javids Kernsatz bei seinem ersten Parlamentsauftritt. Was das konkret bedeutet? Nach den jüngsten Öffnungsschritten für Theater, Kinos, Pubs und Restaurants sind die Infektionszahlen auf der Insel in den vergangenen Wochen kontinuierlich nach oben gegangen, allein in der Woche bis Donnerstag um 72 Prozent. An diesem Tag wurden 27.989 positiv auf SARS-CoV-2 Getestete gemeldet, so viel wie seit Ende Januar nicht mehr. Die Infektionsrate pro 100.000 Einwohnern lag bei 167.
Hingegen bleiben Krankenhauseinweisungen und Todeszahlen bisher auf erfreulich niedrigem, wenn auch steigendem Niveau. Zuletzt verzeichnete das Land im Wochendurchschnitt 22 Corona-Tote täglich. Vieles deutet darauf hin, dass die Verbindung zwischen Ansteckung und tödlichem Verlauf stark geschwächt, wenn nicht sogar gebrochen ist. Zu dem positiven Trend trägt gewiss bei, dass die Insel in den ersten beiden Wellen besonders viele Tote zu beklagen hatte und das Virus dadurch in der sehr alten und gesundheitlich angeschlagenen Bevölkerung weniger neue Opfer findet.
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