EingebürgertHoltz denkt an einen Schalke-Brasilianer

 Eingebürgert / Holtz denkt an einen Schalke-Brasilianer
Leo Scienza (r.) verlor zwar am vergangenen Wochenende das Derby gegen Borussia Dortmund II mit 1:5,  gehört aber bei der Schalker U23 zu den Entdeckungen der Saison. Foto: privat

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Leonardo Weschenfelder Scienza spielt seit vergangenem September in der zweiten Mannschaft von Schalke 04 in der Regionalliga West. Das Besondere: Seit kurzem ist der in Brasilien geboren Offensivspieler auch im Besitz der luxemburgischen Staatsangehörigkeit. Derzeit kann er aufgrund der FIFA-Regularien noch nicht für die FLF-Auswahl berufen werden. Nationaltrainer Luc Holtz hat aber bereits einen Blick auf ihn geworfen.

Die „loi 1900“ macht es möglich. Laut diesem Gesetz dürfen Nachfahren von Menschen, die am 1. Januar 1900 die luxemburgische Staatsangehörigkeit besaßen, sich hierzulande einbürgern lassen. Vor allem Belgier aus der „Province du Luxembourg“ machen davon Gebrauch– aber auch Brasilianer. Am 19. März dieses Jahres berichtete das Tageblatt über die beiden Neu-Luxemburger Gustavo Hemkemeier und Bernardo Schappo. Erstgenannter wurde aufgrund des Artikels von der Etzella Ettelbrück verpflichtet und erzielte am vergangenen Sonntag sein erstes Tor für seinen neuen Verein. Schappo spielt in der U20 von Ituano FC.

Seit August ist auch Leonardo Weschenfelder Scienza im Besitz eines luxemburgischen Passes. Damals spielte er noch beim schwedischen Viertligisten Fanna BK. Heute ist er einer der aufstrebenden Spieler der U23 von Bundesligaklub Schalke 04.

Wie viele Luxemburger und Deutsche siedelten sich auch die Vorfahren des Fußballers im 18. und 19. Jahrhundert im Süden Brasiliens an. Zehntausend Kilometer entfernt von der alten Heimat sollte eine neue Existenz aufgebaut werden. Leo Scienza wuchs in Venâncio Aires auf, einer Stadt mit rund 70.000 Einwohnern im Bundesstaat Rio Grande do Sul im Süden Brasiliens. Seine Heimat ist auch als Hauptstadt des bekannten Mate-Tees Chimarrão bekannt. In Venâncio Aires wird unter den alteingesessenen Einwohnern Riograndenser Hunsrückisch gesprochen. „Meine Großmutter beherrscht diese Sprache noch. Ich habe erst in Gelsenkirchen angefangen, Deutsch zu lernen“, sagt der Neu-Luxemburger.

Leo Scienza ist dabei, eine Geschichte zu schreiben, wie es sie fast nur im Fußball gibt. In seinem Geburtsland Brasilien war er zunächst Futsal-Spieler, wie so viele seiner Alterskollegen. Erst mit 16 Jahren fing er mit dem richtigen Fußball an und wurde in der Jugend-Akademie von Chapecoense ausgebildet. „Davor habe ich Fußball nur zum Spaß gespielt. Bei Chapecoense wurde es dann ernster.“ 2016 verließ er den Klub wieder und heuerte bei Lajeadense an. Es war das Jahr, in dem die Profi-Abteilung des Vereins mit dem Flugzeug abstürzte. 19 Spieler starben bei diesem Unglück. „Ich kannte einige Spieler und Betreuer des Vereins, da ich auch mal mit den Profis mittrainierte. Der Sportdirektor kam aus meiner Heimatstadt. Das waren schwere Stunden“, sagt Scienza heute.

Kurze Zeit später ging es für ihn erstmals ins Ausland. Durch die Kontakte eines Spielerberaters wechselte er in die Jugendabteilung des uruguayischen Erstligisten Defensor Sporting. Aber auch dort sollte nichts aus der großen Karriere werden. Der kleine Techniker kehrte nach Brasilien zurück und wartete auf seine Chance. Die kam im Jahr 2019. Wie viele Agenten versuchte auch der Berater von Scienza seinen Schützling in Europa unterzubringen. Er landete beim damaligen schwedischen Fünftligisten Fanna BK. „Ich wusste, dass das Level nicht gut war, aber das hat für mich keine Rolle gespielt. Wenn man in Europa überzeugt, geht es sehr schnell.“

Diese These bewahrheitete sich. Für den Verein aus der Provinz Uppsala Län erzielte er in nur 18 Spielen zehn Tore und lieferte fast unglaubliche 28 Vorlagen. Dabei waren die Bedingungen alles andere als optimal. „Es wurde viele versprochen, aber nur wenig gehalten. Ab und zu habe ich 500 Euro erhalten, dann mal ein paar Monate keinen Cent. Es gab Tage, an denen wir nichts zu essen hatten. Aber ich habe auf die Zähne gebissen.“ 

Die Belohnung für die aufopferungsvollen Monate sollte kommen. In Schweden wurde er von einem Scout entdeckt, der Kontakte nach Deutschland hatte. „Er hat mich zunächst nur beobachtet und mich erst nach einigen Spielen angesprochen.“ Im vergangenen August ging es dann in Richtung Ruhrpott. Schalke II hatte ihn zu einem Testspiel eingeladen, nachdem dessen U23-Scout Manfred Dubski in ihm Talent für mehr entdeckt hatte. „Er hat sich gefragt, was mit mir passiert ist, dass ich in der fünften schwedischen Liga gelandet bin. War Alkohol im Spiel oder schlechtes Benehmen? Nein, bei mir was es einfach, dass ich oft von schlechten Beratern umgeben war.“

Aber auch diese kurze Reise war fast zum Scheitern verurteilt. In Malmö und kurz vor der Überreise nach Dänemark streikte das Auto. Ein Reifen hatte den Geist aufgegeben. „Es war Nacht und wir mussten fünf Stunden auf einen Mechaniker warten.“ In Deutschland angekommen, wurde in Hamburg ein Corona-Test gemacht. Dieser war jedoch nicht rechtzeitig ausgewertet. Vor seiner Chance des Lebens hatte er weder den Trainer noch die Mannschaft bei einem Training kennengelernt. Er wurde sofort ins kalte Wasser geschmissen. „Die Partie begann und ich hatte noch immer kein Ergebnis. Zehn Minuten vor der Halbzeit hat Gerald Asamoah (Manager der U23, Anm. d. Red.) die E-Mail mit dem negativen Resultat erhalten. Ich habe mich ein paar Minuten warm gemacht und wurde dann eingewechselt.“ Vier Minuten nach seiner Einwechslung traf Scienza. Eine Viertelstunde später war das Spiel für ihn schon wieder vorbei. „Nach einem Foul konnte ich nicht mehr laufen und musste ausgewechselt werden.“ Er hatte jedoch sein Potenzial angedeutet und wurde nach einer weiteren Trainingseinheit verpflichtet.

Ich habe ein gutes Feedback von Schalke-Trainer Manuel Baum bekommen und hoffe auf meine Chance. Es wäre eine verrückte Story. Von der fünften schwedischen Liga in die Bundesliga. Wie oft gibt es so etwas?

Leo Scienza, Schalke 04 II

Zustande kam der Transfer aber erst im September. Schalke musste bei all seinen Vereinen nachfragen, damit diese auf die Ausbildungsentschädigung verzichten. Seitdem hat Scienca acht Spiele in der Regionalliga-West bestritten und bereits zwei Tore und eine Vorlage auf dem Konto stehen. Während der Länderspielpause vor zwei Wochen durfte er sogar bei den Profis mittrainieren. „Ich habe ein gutes Feedback von Trainer Manuel Baum bekommen und hoffe auf meine Chance. Es wäre eine verrückte Story. Von der fünften schwedischen Liga in die Bundesliga. Wie oft gibt es so etwas?“

Mit Naldo hat er auf Schalke einen berühmten Ansprechpartner gefunden. Wie der Mittelfeldspieler kommt der heutige Co-Trainer der Königsblauen auch aus Südbrasilien. „Wir reden fast täglich“, sagt Scienza, der in Marl sein neues Zuhause gefunden hat. Neben seiner Familie vermisst er vor allem den Mate-Tee aus seiner Heimat. „Alleine schmeckt er eh nicht so gut. Am besten genießt man Chimarrão mit Freunden vor oder nach der Arbeit.“

Auf das Talent im 330 Kilometer entfernten Gelsenkirchen wurden Nationaltrainer Luc Holtz und FLF-Jurist Marc Diederich bereits vor einigen Wochen aufmerksam gemacht. Trotz luxemburgischer Staatsangehörigkeit kann Scienza aber in naher Zukunft wohl nicht für Luxemburg spielen. Laut FIFA-Regularien muss ein Spieler bei einem Nationalitätenwechsel fünf Jahre im Land seines neuen Verbandes wohnhaft sein. Es gibt nur eine Ausnahme. Von dieser profitierten zum Beispiel die aktuellen luxemburgischen Nationalspieler Maxime Chanot und Anthony Moris. Ihre Großmütter wurden hierzulande geboren. „Wir haben noch keine Lösung für dieses Problem gefunden“, sagt Diederich. „Ich wäre bereit, meine brasilianische Staatsangehörigkeit abzugeben, wenn ich für Luxemburg stehen könnte. Es wäre ein Traum. Aktuell sieht es aber so aus, als würde er noch nicht in Erfüllung gehen“, so der 22-Jährige. 

Dabei würde er sich bestimmt heimisch bei der FLF-Auswahl fühlen. Scienzas Familie stammt aus Bourscheid und lebte laut eigenen Aussagen auf der dortigen Burg. 4,8 Kilometer weiter – im Lipperscheider Teamhotel – bereitet sich die Nationalmannschaft auf jedes Länderspiel vor.

Steckbrief

Name: Leonardo Weschenfelder Scienza
Geboren am 13.9.1998
Staatsangehörigkeit: Luxemburger und Brasilianer
Position: offensives Mittelfeld
Bisherige Vereine: Avenida FC, Chapecoense, Lajeadense (alle Brasilien), Defensor Sporting (Uruguay), Lajeadense (Brasilien), Fanna BK (Schweden), Schalke 04 II (Deutschland)
Leistungsbilanz Saison 2020/21: acht Spiele, zwei Tore, eine Vorlage

Leo Scienza zeigt stolz seinen luxemburgischen Pass
Leo Scienza zeigt stolz seinen luxemburgischen Pass Foto: privat