RusslandGefangen zwischen Rausch und Apathie: Putin vor fünfter Amtszeit

Russland / Gefangen zwischen Rausch und Apathie: Putin vor fünfter Amtszeit
Ein schwer beschädigter US-Panzer M12A1 Abrams, den die Russen von den ukrainischen Schlachtfeldern nach Moskau geschleppt haben, ist eine der Hauptattraktionen einer „Beuteschau“, die das russische Verteidigungsministerium zu Propagandazwecken organisiert hat Foto: AFP/Alexander Nemenov

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Am 7. Mai startet Wladimir Putin in seine fünfte Amtszeit als Russlands Präsident. Ohne Krieg ist sie nicht denkbar. Das gesamte politische System ist auf den Krieg in der Ukraine ausgerichtet. Die Gesellschaft ist militarisiert – und gleichgültig zugleich.

Plötzlich steht der Krieg mitten in Moskau. Er ist hierher gekarrt worden, damit er unter strahlendem Sonnenschein bejubelt werden kann, verewigt auf Familienbildern. „Oh“, „Wow“, „Alles unsers“, der Marder aus Deutschland, der Abrams aus den USA, der finnische Sisu Pasi. „Wo ist der Leopard? Ich will zum Leoparden“, sagen die meisten an diesem Tag und machen vom erbeuteten deutschen Panzer hier, im Siegespark am westlichen Zentrumsrand der Stadt, schnell noch ein Bild aus der Ferne. „Die Geschichte wiederholt sich“, steht auf einem Plakat, auf einem anderen: „Unser Sieg ist unausweichlich.“

Es ist das simple wie unheilvolle Rezept, aus dem die russische Propaganda gemacht ist, aus dem die russische Politik gemacht ist. Die Machthaber setzen auf das Narrativ, in der Ukraine werde der Kampf gegen den Faschismus fortgesetzt, den ihre Vorväter einst begonnen hatten. Über die Perversion der Verdrehungen macht sich hier, bei der „Trophäenschau“, die das russische Verteidigungsministerium unter freiem Himmel präsentiert, wohl niemand Gedanken. Die roten Fahnen, auf denen in Großbuchstaben „Pobeda“ geschrieben steht, Sieg, wehen im Wind. Sie umflattern den Rausch des Krieges, der so verspielt daherkommt, dass es für die Massen an Männern, Frauen, Kindern zwischen den Absperrungen um das Kriegsgerät herum ein Leichtes ist, auszublenden, ja zu vergessen, dass Krieg nicht Romantik ist, sondern Trauer und Schmerz. Solche Gefühle lassen sie nicht zu, sie würden wehtun, sie würden womöglich zu Fragen führen, deren Antworten unangenehm sind.

Fragen, Zweifel, Widerspruch, das ist nicht ihres. Für sie ist Krieg Stolz, identitätsstiftend, weil er sie sich groß fühlen lässt, in einem Leben, in dem sie ständig von Autoritäten gedemütigt werden und sich machtlos fühlen, in dem sie frustriert, verbittert und unsicher sind, in dem Angst das bestimmende Element ist. Großfühlen sei wichtig, vermittelt ihnen das Regime, wie ihnen ein anderes Regime, das sowjetische, Ähnliches vermittelt hatte, als sie noch Kinder waren, und wie sie ihren Kindern nun Ähnliches vermitteln. Sie haben keinen Einfluss auf Entscheidungen in der Politik, sie sagen gern, sie interessierten sich gar nicht erst für Politik. Die Politik aber interessiert sich für sie und formt aus ihnen eine unterwürfige, indifferente Masse, die die Entscheidungen der Politik mittragen soll.

Die Kriegsspiele der Erwachsenen

So tragen sie mit, fotografieren die abgebrannten Panzer, das durchlöcherte Metall im Siegespark. Auf jedem Fahrzeug klebt eine Flagge, die Umstehenden fragen zur Not die patrouillierenden Soldaten, aus welchen Ländern „das beschädigte Werk“ komme. „England?“ „Nein, Australien“, antwortet der Soldat und rattert Maße und Schlagkraft herunter. Mehr als 30 in der Ukraine „erbeutete Exemplare“ aus den USA, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, der Türkei stehen, mit einer Erklärtafel versehen, hinter Metallzäunen. „Eine große Kollektion“, jubelt die Moderatorin im Staatsfernsehen. „Schau“, sagt ein Vater zu seinem Sohn, „so einen hast du in Klein zu Hause“, und zeigt auf einen Panzer. Ein anderes Kind läuft zu seiner Mutter. „Mama, ich habe einen Panzer aus der Ukraine gesehen. Gib mir mal mein Gewehr, ich schieße ihn ab.“ Er reißt ihr die Plastikwaffe aus der Hand. „Unser kleiner Patriot“, sagt die Großmutter daneben und lächelt. Es ist ein bizarres Schauspiel im Frühlingswind, es sind Kriegsspiele der Erwachsenen, aus denen sich die Kinder von heute auch später im Leben kaum werden befreien können. Das lässt sich in wissenschaftlichen Untersuchungen über andere Kriege nachlesen. „Russland, das ist ein Land der Sieger“, steht seit Monaten auf Plakatwänden quer durch Moskau. Der „Sieg“ ist allgegenwärtig, nur weiß niemand im Land, wie ein Sieg aussähe. Also führt Russland weiter Krieg, das ist der eigentliche Sieg des Regimes.

Am 7. Mai beginnt Putin seine fünfte Amtszeit als Präsident. Ohne den Krieg in der Ukraine ist sie nicht denkbar, ist er als Präsident nicht denkbar. Das gesamte System, die Politik, die Wirtschaft, ist darauf ausgerichtet. Die menschenverachtende Haltung des Regimes, die keine Vielfalt duldet und vollkommene Loyalität jedes Einzelnen einfordert, ist in Gesetze gegossen. Jegliche öffentlich vorgetragene Kritik am Staat endet in einem Prozess und damit in Bestrafung, manchmal mit Bußgeld, manchmal mit 25 Jahren Haft. Der aktive Teil der Gesellschaft ist ins Exil gedrängt worden, andere sitzen in U-Haft und in Strafkolonien, manche verzweifeln und ziehen sich in die innere Emigration zurück.

Militarismus schon im Kindergarten

Putin hat derweil acht Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Militärausgaben vorgesehen, selbst der Internationale Währungsfonds hat die Wachstumsprognose für Russland auf 3,2 Prozent für das laufende Jahr korrigiert. „Wir kommen viel besser durch die schwierigen Zeiten als der Westen, der uns bestrafen will“, sagt Putin immer wieder. Regionen, die in den vergangenen Jahren von der Zentralregierung finanziell abhängig waren, zahlen nun teils dreimal mehr Steuern. Auch wenn die Wachstumszahlen verzerrend sind, profitieren viele Menschen im Land vom Krieg. Materiell, aber auch ideell. Plötzlich ist der Sohn, den alle für einen Nichtsnutz und Verbrecher hielten, ein Held. Ein ganzes Dorf kommt zur Beerdigung und ehrt die Eltern. Nicht wenige können sich auf einmal ein Leben leisten, von dem sie lange nur träumten: ein Auto, eine Urlaubsreise, eine Hypothek für eine Wohnung in der Stadt. Wie blutdurchtränkt das Geld ist, fragen sie nicht. Es ist ihr Geld und es ist ihr unerschütterlicher Glaube daran, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Der tote Sohn, Mann, Vater – so vermittelt ihnen das Regime, unterstützt vom rund um die Uhr laufenden Fernseher – sei als Held gestorben, also „sinnvoll“. Zudem habe er seine „Pflicht als Mann“ erfüllt.

Die traditionellen Geschlechterrollen sind tief verankert in der russischen Gesellschaft, die sowjetische Gleichberechtigung auf dem Papier hin oder her. Chauvinistische Einstellungen dominieren das Verständnis von Männern wie Frauen. Die Geburtenrate sinkt derweil. Um die schrumpfende russische Bevölkerung wieder „nachhaltig zu steigern“, fordert die Politik Frauen auf, mehr Kinder zu gebären. Am besten acht pro Familie. Anfangen sollen sie gleich nach der Schule, studieren könnten die Frauen auch später. Für zehn geborene Kinder verleiht der Staat schon jetzt eine „Heldin Mutter“-Medaille, wie es bereits zu Sowjetzeiten war. Die Zukunftsperspektive dieser Kinder: Militarismus. „Vorschulkompanien“ schon im Kindergarten, „Gespräche über Wichtiges“ ab der ersten Klasse, bei denen die Schüler lernen, dass es nichts Wichtigeres im Leben gebe, als für den Staat zu sterben, „Militärische Vorbereitung“, bei der Zehntklässler bereits in der Schule eine Art Ausbildung zum Soldaten durchlaufen. In den Ferien locken Militärcamps, Ausbilder sind nicht selten Soldaten, die vor Kurzem erst aus dem Krieg in der Ukraine zurückgekehrt sind.

Mit Gewalt an der Macht halten

Das Groteske dabei: Der Krieg spielt im Alltag keine Rolle. Er ist für viele sehr weit weg, territorial und auch im Kopf. Er darf offiziell nicht einmal als solcher bezeichnet werden. „Militärische Spezialoperation“ hatte ihn Putin genannt, als er seine Armee in der Ukraine einmarschieren ließ. „SWO“ sagen die Russen als Abkürzung dazu, es klingt so unscheinbar, fast beiläufig, bevor es weitergeht in den Stau auf den Straßen, zur Gartenarbeit auf der Datscha, zu den Hausaufgaben der Kinder. „Welche Ereignisse, über die die Medien berichten, haben in den vergangenen Tagen Ihre Aufmerksamkeit erregt?“, fragte kürzlich das staatliche Umfrageinstitut FOM und legte den 1.500 Befragten aus 53 russischen Regionen die Antworten vor: Flut am Ural, „SWO“, Terroranschlag in der Crocus City Hall, „Ereignisse im Nahen Osten“, Anderes. Knapp 50 Prozent interessierten sich für keinen dieser Punkte. Viele haben sich eingeigelt und wollen die Hintergründe gar nicht durchdringen.

Eine solche Apathie lässt die Menschen bereitwillig die Narrative des Staates übernehmen, macht sie empathielos für jegliches Leid und damit zu – wenn auch passiven – Unterstützern einer Gewaltherrschaft, von der Putin nicht ablässt, weil es die Herrschaft ist, mit der er sich an der Macht hält.

JJ
5. Mai 2024 - 9.03

Putin ist Diktator auf Lebenszeit. Wissen die Russen das noch nicht?