MeinungDie Überwindung von Europas Impfstoffchaos

Meinung / Die Überwindung von Europas Impfstoffchaos
 Foto: AFP/Stéphane de Sakutin

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Covid-19 hat europaweit enormes Leid verursacht und die langsame Einführung von Impfstoffen durch die Europäische Union droht, dieses noch zu verlängern. Wenn die Politik in der Region nicht bald entschiedene Maßnahmen ergreift, könnte die Pandemie der EU selbst irreversiblen Schaden zufügen.

Als das Coronavirus die Region 2020 traf, waren die EU-Mitgliedstaaten nicht in der Lage, eine Einigung über den Impfstoffeinsatz zu erreichen – ihre wichtigste Verteidigungslinie gegen das Virus. Die nationalen Regierungen betrauten die Europäische Kommission mit der Impfstoffbeschaffung, aber versäumten es dann, ihre Produktions- und Verteilungsstrategien aufeinander abzustimmen oder einen Konsens darüber zu erzielen, welche Gruppen als Erste geimpft werden sollten. In jüngerer Zeit setzten 13 europäische Länder den Einsatz des Oxford-AstraZeneca-Impfstoffs aus, nachdem einige Impflinge eine atypische Venenthrombose entwickelten.

Die anschließende Stellungnahme der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA), dass der Oxford-AstraZeneca-Impfstoff „sicher und wirksam“ sei, überzeugte niemanden. Während mehrere EU-Länder die Nutzung des Impfstoffs fortgesetzt oder wieder aufgenommen haben, wird er in Dänemark, Norwegen, Finnland und Schweden weiterhin nicht eingesetzt, während Frankreich seine Verwendung auf Empfänger über 55 Jahren beschränkt hat. Diese fortgesetzten Unterschiede sorgen innerhalb der Bevölkerungen für zunehmendes Misstrauen nicht nur gegenüber dem Oxford-AstraZeneca-Impfstoff, sondern gegenüber der kompletten Covid-19-Impfkampagne.

Spitzenpriorität der EU in den kommenden Wochen muss es sein, den Impfstoffmangel zu beheben. Auch hier haben die Mitgliedstaaten bisher keine Einigung erzielt und einige zögern nicht, sich Lieferungen von außerhalb der EU zu besorgen. Ungarn verteilt den russischen Impfstoff Sputnik V, die Slowakei hat ihn gekauft und die Tschechische Republik zieht dies ebenfalls in Betracht. Ungarn hat außerdem hunderttausende Dosen des Sinopharm-Impfstoffs aus China gekauft. Darüber hinaus haben Österreich und Dänemark kürzlich einen gesonderten Vertrag mit Israel über die Produktion der Covid-19-Impfstoffe der nächsten Generation geschlossen. Dieser Vertrag sieht insbesondere die Einrichtung eines gemeinsamen Forschungs- und Entwicklungsfonds und die Zusammenarbeit bei klinischen Tests außerhalb der regulären EU-Programme vor.

Antikörper- und Impf-Nationalismus

Gleichzeitig muss Europa Risikogruppen schützen, die entweder noch auf eine Impfung warten oder nicht auf Impfstoffe ansprechen, weil sie unter einer besonderen Krankheit leiden oder bestimmte Medikamente erhalten. In den USA haben sich monoklonale Antikörper hierbei als hochwirksam erwiesen. Frankreich, Deutschland und Italien haben nach Genehmigung durch ihre nationalen Regulierungsbehörden nicht auf eine EMA-Freigabe gewartet, bevor sie diese Behandlung anboten. Dies legt nahe, dass der Antikörper-Nationalismus so ausgeprägt sein könnte wie der Impfstoff-Nationalismus.

Die Europäische Kommission hat angesichts dieser Herausforderungen eine Arbeitsgruppe eingerichtet, um das Impfstoffangebot in den kommenden Monaten zu steuern. Die von EU- Binnenmarktkommissar Thierry Breton geleitete Arbeitsgruppe strebt an, alle verfügbaren europäischen Produktionskapazitäten zu mobilisieren; ihr ehrgeiziges Ziel ist es, bis Ende des Sommers 70% der europäischen Erwachsenen zu impfen.

Parallel dazu hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Februar die Einrichtung des sogenannten HERA-Inkubators, einer mit der Bekämpfung neuer Coronavarianten betrauten Behörde, bekannt gegeben. HERA soll eine Rolle ähnlich der der US Biomedical Advanced Research and Development Authority (Barda) spielen, die entscheidend zur beispiellos schnellen Entwicklung der Impfstoffe von Oxford-AstraZeneca, Moderna und Johnson & Johnson beigetragen hat. Zudem haben sich die USA durch die Barda rasch eine enorme Menge an Covid-19-Impfstoffen beschafft, die das Land in die Lage versetzt hat, seine Impfkampagne deutlich schneller voranzutreiben als Europa.

Der Erfolg der Operation Warp Speed der US-Regierung bei der Entwicklung von Covid-19-Impfstoffen beruht nicht nur auf dem Programmbudget von mehr als zwölf Milliarden Dollar, sondern auch auf der Integration und Koordination der einzelnen Schritte innerhalb der Impfstoff-Wertschöpfungskette, von der Grundlagenforschung bis zur großmaßstäblichen Produktion und Verteilung. Diese Strategie beinhaltete die Übernahme erheblicher Risiken, die zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor geteilt wurden.

Die Frage der Autonomie

Die Leitung der Operation Warp Speed, mit der eine leitende Führungskraft aus der Pharmaindustrie mit Erfahrung in Vakzinologie und ein für die Logistik zuständiger hochrangiger General der US-Armee betraut waren, war ein weiterer entscheidender Faktor beim Erfolg des Plans. Falls es das Ziel der EU ist, eine derartige Initiative in Europa zu reproduzieren, ist klar, dass die Mobilisierung ausreichender finanzieller Mittel dabei eine beträchtliche Hürde darstellen wird – wenn auch vielleicht nicht die größte.

Die wichtigste Herausforderung könnte vielmehr sein, eine Einigung zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission herzustellen, um HERA ausreichende Autonomie zu gewähren, damit die notwendige betriebliche Agilität der Behörde sichergestellt ist. Der jüngst von Ursula von der Leyen und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron ins Leben gerufene Europäische Innovationsrat (EIC) könnte in dieser Hinsicht ein interessantes Vorbild bieten. Gemeinsam mit der Europäischen Investitionsbank ermöglichte der EIC es, dass Europa bei CureVac, dem nächsten auf den Markt kommenden Covid-19-Impfstoff, einen Fuß in der Tür behalten hat.

Ganz gleich, was für eine Form die neue Behörde haben wird: Die europäischen Regierungen müssen die Covid-19-Impfstoffeinführung der Region dringend beschleunigen. Darüber hinaus sollten sie eine ehrgeizige neue Strategie festlegen, um die pharmazeutische Innovation in Europa zugunsten der Menschen überall auf der Welt zu unterstützen.

Michel Goldman ist Präsident des Institute for Interdisciplinary Innovation in Healthcare (I3h) und Professor emeritus für Immunologie an der Université libre de Bruxelles. Von 2009 bis 2014 war er geschäftsführender Direktor der Innovative Medicines Initiative.
Aus dem Englischen von Jan Doolan
Copyright: Project Syndicate, 2021.

www.project-syndicate.org

jean-pierre goelff
10. April 2021 - 17.33

Was kann man von grossmäuligen Schlafmützen denn sonst erwarten?