ForumDie Musikmüllabfuhr von Malmö

Forum / Die Musikmüllabfuhr von Malmö
 Foto: AFP/Tobias Schwarz

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Im Vorfeld des millionenteuren ESC-Radaus in Malmö wurde hierzulande ein besonderes Video produziert. Die Sängerin Tali sitzt am Klavier, einem edlen Bösendorfer, und trägt ihr Lied „Fighter“ vor. Ganz einfach, ohne jeglichen Schnickschnack. Sie spielt und singt quasi bewegungslos. Alle Dramatik ist in ihre Stimme verlagert. Nur das Dekor scheint etwas überdimensioniert: die nächtliche Adolphe-Brücke, eine emblematische Kulisse in der Hauptstadt. Die Produzenten hatten sie ein paar Stunden lang für jeglichen Verkehr sperren lassen, um die Aufnahme dieser akustischen „Fighter“-Fassung nicht durch Fremdgeräusche zu gefährden.

Das Resultat: Hier kann man zumindest ahnen, was in der Sängerin steckt. Man vermag ihre stimmlichen Qualitäten einzuschätzen. Man kann erraten, was sich Texter und Komponist gedacht haben. Und man stellt fest: Dieses Lied ist eher verhalten. Nichts Weltbewegendes, nichts Tiefgründiges, keine schlagkräftige Botschaft. Ein kleiner sentimentaler Schlenker nur, mit einer gewissen Verve vorgetragen. Kein spektakuläres Auftrumpfen, nichts titelgetreu Kämpferisches, nichts Rebellisches oder schlicht Gesellschaftskritisches. Viel mehr ein bescheidener melancholischer Song über persönliche Befindlichkeiten.

Unter die Räder geraten

Dann reiste Tali nach Malmö und geriet unter die Räder. Und zwar im wörtlichen Sinn: Sie wurde in eine gigantische technische Musikzertrümmerungsmaschine eingespannt, die alle konkurrierenden Lieder mit Sound- und Lichtgewittern niederstreckte. Dieser finale ESC-Höllenlärm war eine gnadenlose Zumutung: Geflacker, Geflirre und Gedröhn allenthalben, unaufhörlicher Stroboskopmissbrauch, Laserstrahlen, die kreuz und quer durch die Halle irrlichtern, es kracht und böllert, als sollten simultan Raketenangriffe, Bombenhagel und Vulkanausbrüche nachgeahmt werden, immer wieder schießen aus dem Bühnengrund Stichflammen empor – auch Tali muss zwischen diesen Flammengittern Spießruten laufen –, als wäre das Publikum nicht auf einem Musikfestival zu Gast, sondern beim Finale der Pyrotechnik-Europameisterschaft. Ständig tauchen abenteuerlich gefärbte Tänzerinnen und Tänzer auf, die entweder drauflos stampfen wie von der Tarantel gestochen, oder wie Derwische um das bedauernswerte Gesangspersonal wirbeln, dann machen auch noch die Kameras Kopfüber-Mätzchen, bis das Publikum kollektiv im Drehschwindel versinkt. Sogar beim französischen Sänger Slimane, der immerhin eine betont blendwerksfreie Darbietung schafft, dauert es nicht lange, bis dann doch der Kunstnebel wabert. Alle Lieder werden reihum nicht nur verwurstet, sondern regelrecht vermüllt. Am Ende gewinnt ein Interpret, der einwandfrei bewiesen hat, wie toll er auf einer schrägen Drehscheibe herumturnen kann. Doch auch bei ihm ist die Musik bis zur Kümmerlichkeit verunstaltet.

Es geht hier leider gar nicht um Musik, sondern um den lächerlich aufgebauschten Konkurrenzkampf der Rundfunkanstalten. Wer hat die höchste elektronische Potenz? Wer ist am draufgängerischsten, exzessivsten, finanzkräftigsten? Wer kann die aufwändigsten Shows aus dem Hut zaubern? Wer kann sich selber und allen anderen mit maximaler Effekthascherei etwas vormachen, koste es, was es wolle?

Vollends überdrehte Gesellschaft

Freilich könnte alles ganz anders sein. Vielleicht entgeht uns einfach nur der tiefere Sinn. Möglicherweise sitzen in den Rundfunkanstalten kluge Köpfe, die den ESC-Rummel ausnutzen, um den Zeitgeist aufs Korn zu nehmen. Mit einer raffinierten Inferno-Parodie möchten uns diese kritischen Medienleute drastisch vor Augen führen, wo wir mittlerweile alle gelandet sind. Nämlich in einer vollends überdrehten Gesellschaft, wo auf allen Ebenen die allgemeine Raserei außer Kontrolle geraten ist. Die schrille ESC-Show wäre in diesem Fall das karikaturale Abziehbild einer Welt, die sich nicht mehr im Griff hat. Ein genialer Streich! Ein Schlag ins Gesicht des berauschten Millionenpublikums! Ein völlig neues, verschmitzt aufklärerisches Kapitel der Rundfunk- und Fernsehgeschichte! Schön wär’s.

Guy Rewenig ist Schriftsteller. Sein aktuelles Buch im Binsfeld-Verlag heißt „La coupe est pleine“.
Guy Rewenig ist Schriftsteller. Sein aktuelles Buch im Binsfeld-Verlag heißt „La coupe est pleine“.

Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Blenden wir lieber noch einmal zurück auf die nächtliche Adolphe-Brücke. Dort sitzt eine Sängerin und trägt ganz ohne Brimborium ihr Lied vor. Die Szene ist eingebettet in Stille. Allein dieser Umstand hat schon fast etwas Umstürzlerisches. Stille! Die Mangelware Nummer eins! Am Ende der Sequenz gleitet wie von Geisterhand geschoben eine Trambahn ins Bild. Völlig lautlos, geradezu schwebend. Der letzte Akkord verklingt, die Nacht übernimmt wieder die Regie.

So hätte es auch in Malmö sein können: 25 Sängerinnen und Sänger stellen schnörkellos und ohne falsche Posen ihre Songs vor. Sie rivalisieren nicht um den schrillsten Auftritt und die wildeste Verkleidung, sondern um die Qualität ihrer Musik. Eine solche Veranstaltung könnte das Publikum zum Innehalten und zur Nachdenklichkeit jenseits des gewaltigen Zeitgeistaufruhrs animieren. Aber das ist reinste Utopie.

Ist das Publikum tatsächlich so anspruchslos, oder wird ihm die Niveaulosigkeit von den Rundfunkanstalten eingehämmert? Nach dem Motto: Der betäubte und willenlose Konsument ist unsere Geschäftsgrundlage? Es sieht ganz danach aus, dass es sich bei den „Fightern“ aus den Rundfunk-Chefetagen um abgebrühte und zynische „Money Maker“ handelt. Würden sie ein leises Programm anbieten, könnte ihr Publikum womöglich zur Besinnung kommen und sich fragen: Brauchen wir wirklich diesen elektronischen Beistand? Für unsere stillen Momente können wir selber sorgen. Ganz ohne Fernsehen. Schreck lass nach! Dieses Risiko wollen die Rundfunkverantwortlichen auf keinen Fall eingehen. Eine Ebbe in der Firmenkasse würde ganz sicher mit „zero points“ quittiert.

Unverzagt Irma
10. Juni 2024 - 17.27

Lieber Herr Rewenig, vielen Dank für diesen Beitrag! Sie haben mir damit noch einmal Recht gegeben darin, dass ich diese Veranstaltung schon seit vielen Jahren tunlichst meide.

fraulein smilla
28. Mai 2024 - 10.09

-Il ne s'agit pas d'un concours de talent musical ,mais d'un concours de laideur , de vulgarité ,de grossièreté ,d'exhibitionnisme - Die franzoesische Sozialistin Sègolène Royal ueber den diesjaehrigen ESC .

Grober J-P.
28. Mai 2024 - 9.07

Hoffentlich verzichtet man nächstes Jahr auf die Teilnahme! Was hat das Ganze denn die Gemeinschaft gekostet?

JJ
27. Mai 2024 - 14.06

"...diesen elektronischen Beistand? " Ohne haben viele keine Stimme mehr und das "coole" bis lächerliche Outfit oder rüpelhaftes Benehmen, mit anschließender Disqualifikation,geben diesem Event eine bedenkliche Note. Man erinnere sich an diese "Affen"-Band die in Pelz gekleidet am Ende ihrer Gröhlshow die Instrumente am Boden zerschmetterten. Aber: de gustibus non est disputandum.