KasemattentheaterDekadente Dünnhäutigkeit: Lesung „Ich lerne sehen“ vermittelt das Lebensgefühl der Jahrhundertwende-Generation

Kasemattentheater / Dekadente Dünnhäutigkeit: Lesung „Ich lerne sehen“ vermittelt das Lebensgefühl der Jahrhundertwende-Generation
Zum Teil las Nico Delpy die Passagen von bedruckten Seiten ab, teils rezitierte er sie auswendig. Die Mischung erlaubte es dem Schauspieler, seinen Vortrag noch abwechslungsreicher zu gestalten. Foto: Kasemattentheater/Lex Weyer

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Die Lese-Performance „Ich lerne sehen“ stellt das Empfinden der Menschen zur Zeit des Epochensprungs vom 19. ins 20. Jahrhundert in den Mittelpunkt. Das Erleben der modernen Stadt als Krankmacher wird durch die Brille von Malte Laurids Brigge, Hauptfigur von Rainer Maria Rilkes einzigem Roman, gezeigt. Dem Protagonisten lieh der Schauspieler Nico Delpy am vergangenen Donnerstag bei einer – im doppelten Sinne – einmaligen Veranstaltung im Kasemattentheater seine Stimme.

Über die Tischkante ragen zwei Hände, sie ruhen mitten im Kegel des Scheinwerferlichts. Es sind die Hände von Nico Delpy, dem Schauspieler, der an diesem lauen Donnerstagabend allein auf der Bühne des Kasemattentheaters steht. Mehr als eine Stunde lang wird Delpy Textausschnitte aus Rainer Maria Rilkes Werk „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ vortragen, dem einzigen Roman, den Rilke je geschrieben hat. Im Text verarbeitete der österreichische Dichter seine ersten Eindrücke eines Aufenthalts in Paris in den Jahren 1902 und 1903. Thematisiert wird, in Tagebuchform, das Leben in der Stadt als sinnliche wie mentale Grenzerfahrung, als existenzielles Krisenerlebnis, das die Conditio humana in der Moderne exemplarisch ausbuchstabiert.

Die Themen sind typisch für die Strömung des Fin de Siècle. Sie weiten sich in konzentrischen Kreisen um die subjektive Erfahrung des modernen Menschen aus. Die Stadt erscheint als Moloch, ihre Geräuschkulisse als Komposition mit Kakofonien: „Eine Tür fällt zu. Irgendwo klirrt eine Scheibe herunter, ich höre ihre großen Scherben lachen, die kleinen Splitter kichern.“ Dabei konkurrieren die auditiven Sinneseindrücke, welche die Geduld der 28-jährigen Hauptfigur überstrapazieren, mit den olfaktorischen: „Es roch, soviel sich unterscheiden ließ, nach Jodoform, nach dem Fett von pommes frites, nach Angst. Alle Städte riechen im Sommer.“ Die Menschen erscheinen als kränkliche Wesen, erzählt wird von einem Säugling, der grünlich im Gesicht ist und einen deutlichen Ausschlag im Gesicht hat. In der unvermittelten Vehemenz von Maltes Wahrnehmung versteckt sich der Kern der dekadenten Hypersensibilität, die sich als roter Faden durch die Literatur der Jahrhundertwende zieht.

Der eigenen Entwicklung ist der Protagonist während seines Aufenthalts in der Großstadt hilflos ausgeliefert: „Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war.“ Der besitzlos gewordene Adlige kommt zum Schluss, dass er über ein Inneres verfügt, über das er keine Kenntnis hatte: „Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.“ Malte – und der moderne Mensch an sich – entfremden sich ebenso von sich selbst als auch von ihren Zeitgenossen. Das ist der Grund, warum der junge Dichter keine Briefe mehr an seine Freunde und Familie schreibt. „Wozu soll ich jemandem sagen, daß ich mich verändere, bleibe ich ja doch nicht der, der ich war, und bin ich etwas anderes als bisher, so ist klar, daß ich keine Bekannten habe“, stellt Malte fest. „Und an fremde Leute, an Leute, die mich nicht kennen, kann ich unmöglich schreiben.“

Schwache Nerven als Zivilisationskrankheit

Der Lesung „Ich lerne sehen“ wohnt man als Zuschauer mit einem feinen ironischen Lächeln bei, denn die Dinge, über die Rilke in seiner Schrift klagt, kommen einem auch hundert Jahre später – und wohl mit noch gesteigerter Intensität – bekannt vor: Schnelllebigkeit und Simultaneität, Überfrachtung der Eindrücke, steter Zufluss von Informationen. Die dadurch entstehenden Zivilisationsgebrechen sind Legion. Sie werden im Text als nervöser Zustand, als emotionale Überspanntheit geschildert und von Delpy mit meisterhaftem Können schauspielerisch umgesetzt. Der flexible Sprachrhythmus des Schauspielers gleicht sich den Gefühlseindrücken von Malte an, seine Performance überführt die Worte des Tagebuchschreibers gleichsam ins Hier und Jetzt.

Und doch: Auf eine formale Aktualisierung des Texts verzichtet „Ich lerne sehen“ größtenteils. Die Inszenierung versucht kaum, eine Brücke zur heutigen Zeit zu schlagen und die „Aufzeichnungen“ in einen neuen gesellschaftlichen Kontext einzuordnen. Dagegen sperrt sich allein der Aufzug des Darstellers, der dem Publikum in Rüschenhemd, weiter Stoffhose und Schnallenstiefeln entgegentritt. Die generelle Entscheidung gegen einen Gegenwartsbezug ist eine des künstlerischen Befindens – und an sich keine schlechte. Denn auch wenn sich der zeitgenössische Rezipient in den Worten der Hauptfigur wiederfinden kann, unterscheiden sich die damalige und die heutige Zeit in zentralen Hinsichten voneinander; die neuen Medien seien nur als ein Beispiel genannt. Diese Differenzen bedürften größerer Aufmerksamkeit, wollte man die Epochen, die durch ein Jahrhundert getrennt werden, bei einer Inszenierung in Parallele bringen.

„Das sind die Geräusche. Aber es gibt hier etwas, was furchtbarer ist: die Stille“, hält Malte, die Hauptfigur des Romans, an einer Stelle fest
„Das sind die Geräusche. Aber es gibt hier etwas, was furchtbarer ist: die Stille“, hält Malte, die Hauptfigur des Romans, an einer Stelle fest Foto: Kasemattentheater/Lex Weyer

Eine Ausnahme zum allgemeinen Konzept der Lesung – und seine einzige Schwäche – bilden die beiden musikalischen Einlagen des Schweizer Punkrockers Hotcha, die laut Intendant Lex Weyer von der Theaterregisseurin Marion Rothhaar ermöglicht wurden. Bei diesen beiden Einsätzen übernimmt der Musiker mit seiner E-Gitarre die Führung und lässt Delpy in derwischartiger Manier zu rockig-schroffen Klängen tanzen. Zu der Lesung, die ungeachtet ihrer unveränderten thematischen Relevanz die Eigentümlichkeit der klassischen Moderne zu würdigen versucht, will dieses musikalisch-szenische Intermezzo nicht so recht passen. Die Einschübe werden nicht kontextualisiert oder mit der restlichen Lese-Performance verbunden, sodass ein unausgewogener Eindruck zwischen den Darbietungen der beiden Künstler entsteht.

Ungeachtet dessen gelingt es der Veranstaltung „Ich lerne sehen“ jedoch, die symptomatische Dünnhäutigkeit der Décadence-Affinen als unfreiwilliges Kulturprodukt auszustellen und das damals vorherrschende Lebensgefühl – einen latenten Zivilisationsekel – im Schnittbereich zwischen traditioneller Lesung und Theaterschauspiel wiederzugeben. Beides, die nervliche Überreizung wie auch die zivilisatorische Übersättigung, wird wohl auch den Menschen von heute bekannt vorkommen. Auch sie müssen, vielleicht mehr denn je, unter dem Ansturm von Bildern und Wahrnehmungen erst sehen lernen.