InterviewDas Kunstkollektiv „Richtung22“ über Kunstaktionen, Kritik und politisches Theater

Interview / Das Kunstkollektiv „Richtung22“ über Kunstaktionen, Kritik und politisches Theater
Szenenfoto aus „Ween stoppt RTL?“ Foto: Richtung22

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Richtung22 provoziert, polarisiert und rüttelt mit seinen Kunstaktionen, Filmen und Theaterstücken auf. Das Kunstkollektiv sieht sich als Anlaufstelle für junge Kunstschaffende, die sich gegen den Status quo in Luxemburg auflehnen möchten. Ein Gespräch mit einem Interviewpartner, der als Kollektiv antwortet.

Tageblatt: Versteht Ihr Euch als politisches Theater? Schließlich macht Ihr ja nicht nur Theater, sondern auch Filme und Kunstaktionen.

Richtung22: Kunst ist niemals apolitisch. Sie findet unter bestimmten gesellschaftlichen Voraussetzungen statt und ist ein Spiegelbild der Zeit. Kunst, die sich als apolitisch betrachtet, positioniert sich auf der Seite des Status quo. In dem Sinn machen wir politisches Theater, genau wie alle anderen auch. Es gab aber Epochen, in denen Kunst sich wesentlich aktiver in die politische Aktualität einmischte. Für uns steht fest, dass Kunst innerhalb einer Demokratie wichtige, politische Aufgaben zu erfüllen hat, von der Aufklärung, der Debatte, der Agitation bis hin zur Organisation von Protesten. Wenn diese Auffassung unsere Arbeit „politischer“ macht als die anderer Theatermachenden, ist das nicht, weil wir uns in einer speziellen Rolle sehen, sondern andere dies eben gerade nicht tun. In diesem Sinne würden wir uns auch insgesamt mehr bewusst politische und gesellschaftskritische Kunst in Luxemburg wünschen. Es wäre ein wichtiger Beitrag, um die Demokratie zu stärken und die Revolution zu beschleunigen.

Was ist Euer Ziel, das Ihr damit verfolgt?

Wir verfolgen mehrere Ziele. Einerseits wollen wir eine Anlaufstelle für junge kritische Künstler*innen sein und Menschen, die sich gegen den Status quo in Luxemburg auflehnen möchten, eine Gemeinschaft bieten. Mit unserer Kunst wollen wir durch Polarisierung öffentliche Debatten fördern. Eine Gesellschaft braucht kritische Instanzen, die Entscheidungen hinterfragen, denn nur so ist eine Weiterentwicklung möglich. Wir sehen ganz klar eine Lücke im öffentlichen Diskurs, die mit konfrontativer Kultur gefüllt werden muss. Dann verfolgen wir das Ziel, den Kultursektor in Luxemburg umzukrempeln und den Stellenwert von Kunst zu verändern: weniger elitär, weniger im Dienste der Obrigkeit, weniger Spekulationsgut und Statussymbol, weniger Standortfaktor oder Nation Branding. Weitere Ziele hängen von den Projekten ab: beispielsweise eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Luxemburgs Kolonialgeschichte oder mit unserem neuesten Projekt der Stopp der öffentlichen Finanzierung von CLT-UFA, dem milliardenschweren Konzern hinter RTL.

Was sind Eure Prinzipien?

Wir haben interne Prinzipien, zum Beispiel basisdemokratische Strukturen. Dazu gehören aber auch das Fördern der jüngeren Mitglieder, möglichst ressourcenschonende und nachhaltige Arbeit sowie eine finanzielle Verteilung, die größtenteils in künstlerische Arbeit fließen soll. Wir wollen, wann immer es möglich ist, dass unsere Kunst gratis zugänglich ist. Gelder wollen wir nicht von privaten Stiftungen, Sponsoren oder Mäzenen annehmen. Kunst soll mit öffentlichen Geldern finanziert werden. Darüber hinaus funktioniert die Gruppe auch nach außen hin nach Prinzipien, die aus unseren gemeinsamen Werten hervorgehen, wie zum Beispiel Antikapitalismus, Queerfeminismus, Antirassismus, Antifaschismus, Gewaltlosigkeit und die kritische Hinterfragung jeder Art von Macht.

Wie wählt Ihr Eure Themen aus?

Themen werden bei uns intern etappenweise diskutiert und schlussendlich per Abstimmung ausgewählt. Es gibt Themen, mit denen wir uns über mehrere Jahre hinweg immer wieder beschäftigen, etwa die luxemburgische Kolonialgeschichte, zu der es schon 2020 ein Monument, 2021 eine Ausstellung und ein Theaterstück gab und nun dieses Jahr ein Buch erscheinen soll. Queerfeministische Themen und Fragen der Gleichberechtigung begleiten uns auch seit jeher und sind transversal in allen Projekten vertreten. Zusätzlich gibt es aber auch immer einen Schwerpunkt, um den wir uns über einen bestimmten Zeitraum intensiv kümmern, der möglichst nahe an der Aktualität liegen soll. Wir haben zum Beispiel während „Esch2022“ das Thema Städtebau und Gentrifizierung im Süden des Landes ausgewählt oder dieses Jahr – zum Beginn des neuen Konzessionsvertrags – das Thema RTL.

Wie kam es zum Beispiel zu dem RTL-Stück?

Die Monopolstellung von RTL – als einziger Fernsehsender, marktbeherrschend beim Radio und auch online dominant – haben wir schon immer als sehr problematisch für eine Demokratie empfunden. Nach dem Kulturhauptstadtjahr war klar, dass wir in der Lage sind, uns in großem Maßstab, mit viel Recherche und in transmedialer Umsetzung mit für Luxemburg zentralen Themen auseinanderzusetzen. Mit dem Inkrafttreten des neuen Konzessionsvertrags zwischen Staat und CLT-UFA war der Moment reif, um das Thema RTL anzugehen. Während der Recherche wurde uns klar: Hier geht es nicht nur um die Macht eines Medienmonopols, nicht nur um teils sehr fragwürdige journalistische Arbeit, es geht um handfeste Skandale und schockierende Interessensvermischungen. Theater finden wir besonders wirksam, wenn es darum geht, Inhalte unmittelbar spürbar zu machen und das Publikum persönlich zu konfrontieren. Wir haben uns deshalb entschieden, hier den Schwerpunkt beim Theaterstück auf die Verstrickung der luxemburgischen Politik in Milliardenkonzerninteressen zu legen und auch die historischen Staatsverträge mit CLT-UFA zu beleuchten. Eine Videoaufnahme des Stücks ist jetzt auch auf unserer Internetseite zu finden.

Wie ist Eure Herangehensweise?

Es reicht uns nicht, im Rahmen eines Theaterstücks unsere Kritik auf die Bühne zu bringen. In Luxemburg führt das allein nicht zu Konsequenzen. Die kritische Öffentlichkeit tut sich schwer damit, Themen zu Skandalen und dann zu richtigen Debatten zu machen, die schlussendlich Veränderungen mit sich bringen. Wenn wir alleine unsere Recherche auf der Theaterbühne präsentieren, gibt es noch keine Veränderung. Es müssen sich viele andere einschalten und deshalb müssen unsere Projekte so breit aufgestellt sein, dass wir an vielen verschiedenen Stellen Leute zum Nachdenken und schlussendlich zum Handeln bringen. Wir wollen mit unseren oft plakativen und radikalen Mitteln, aber vor allem mit der in Luxemburg viel zu seltenen offenen und direkten Kritik deutlich machen, dass es auch anders geht, als wie gewohnt brav mitanzusehen, wie Probleme verdrängt werden. Der Inhalt und die Message steht also im Zentrum unserer Arbeitsweise und bestimmt sowohl das Medium als auch die Ästhetik und das Ausmaß der Arbeit. Wir arbeiten multidisziplinär, das heißt wir haben unsere Recherche auf drei große Projekte mit jeweils unterschiedlicher Vermittlung aufgeteilt. Angefangen mit der Webseite rtl1.lu, dann das Theaterstück „Ween stoppt RTL?“ und am 12. April ist die „avant-première“ unseres Films über RTL, „Stëmm vu Letzebuerg“. Jedes Teilprojekt beleuchtet unterschiedliche Teilaspekte und soll unterschiedliche Diskussionen entfachen.

Wie kam es zu Eurer Gründung?

Richtung22 ging 2010 aus dem TNL-Jugendclub, einer Gruppe von Schüler*innen des hauptstädtischen Konservatoriums und Leuten vom Schultheater in Echternach hervor. Wir bieten hauptsächlich Studierenden und jungen Berufsanfänger*innen eine Plattform, selbstständig Projekte umzusetzen. Von Anfang an gab es innerhalb der Gruppe den starken Wunsch, mit unseren Projekten auch Missstände anzusprechen. Dieses Bedürfnis ist immer noch sehr stark spürbar und zieht weiterhin Leute an. Heute hat die Gruppe mehr als 70 Mitglieder, wir rekrutieren ständig neue Begeisterte und sind ein Sprungbrett für viele gewesen, die heute im Kultursektor aktiv sind. Allerdings sind kaum noch Mitglieder der ersten Generation heute noch aktiv; es bleibt eine Herausforderung, Leute langfristig zu halten. Das Kunstschaffenden-Dasein ist sehr prekär, Luxemburg ist für junge kritische Menschen kein Schlaraffenland. Unsere Finanzierung deckt bei weitem nicht alles ab, was wir für einen gesicherten Basisbetrieb brauchen würden – gerade erst hat Kulturminister Eric Thill eine von der vorherigen Regierung vorgesehene Erhöhung unserer Konvention zurückgenommen.

Wie haben sich Eure Arbeiten im Laufe der Zeit verändert?

Über die Zeit sind wir uns bewusster geworden, dass es nicht reicht, ein Thema in einem Theaterstück oder einem Film aufzuarbeiten, um damit eine Debatte zu lancieren. Es geht darum, die Zugänglichkeit von Kunst zu hinterfragen. Wir haben neue Formate entwickelt, kümmern uns jetzt mehr um Vielsprachigkeit, Verständlichkeit und Zugänglichkeit. Wir denken die Projekte von außen nach innen, das heißt wir stellen uns konkret die Frage, wo wir mit unseren Projekten hin wollen. Seit 2022 können wir Mitglieder für künstlerische Arbeit bezahlen; das macht einen großen Unterschied, weil es den Leuten erlaubt, sich wesentlich mehr Zeit für die Arbeit zu nehmen. Außerdem finden wir mit dem Wachstum der Gruppe immer mehr ein Bewusstsein unserer eigenen Position. Uns wird klar, dass wir nicht funktionieren können, ohne unsere eigenen „Biases“ und Privilegien zu hinterfragen und uns intern so zu strukturieren, dass Raum für unterrepräsentierte Gruppen entsteht. Je mehr wir in der Kulturszene verankert sind, desto mehr fällt uns auch auf, wie wichtig es ist, sich intern für kritische, lokale und junge Künstler*innen einzusetzen. Hier herrscht oft zu viel Angst, Finanzierungen zu verlieren, was auch große Strukturen und Institutionen davon abhält, untragbare Situationen zu kritisieren.