Wahlen in DeutschlandBrüssel hat sich schon auf die Nach-Merkel-Ära eingestellt – wenn auch widerwillig

Wahlen in Deutschland / Brüssel hat sich schon auf die Nach-Merkel-Ära eingestellt – wenn auch widerwillig
 Foto: Kay Nietfeld/dpa

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In der EU reden alle über Deutschland – doch in Deutschland spricht keiner über die EU. So hat der Satiriker und Europaabgeordnete Martin Sonneborn („Die Partei“) die Lage vor der Bundestagswahl zusammengefasst. Sein ironisch gemeintes Bonmot trifft einen wunden Punkt.

Ausgerechnet im größten und wichtigsten EU-Land ist die EU kein Thema. Während Brüssel nur widerwillig von Kanzlerin Angela Merkel Abschied nimmt – viele EU-Politiker sehen sie immer noch als heimliche Chefin – kümmert man sich in Berlin kaum um ihr europapolitisches Erbe.

Dabei hat Merkel gleich mehrere Großbaustellen hinterlassen. Der Corona-Aufbaufonds wurde mit 750 Milliarden Euro neuer EU-Schulden finanziert, die zurückgezahlt werden müssen. Doch wann und wie, ist umstritten. Der Stabilitätspakt für den Euro wurde ausgesetzt, sein Schicksal ist ungewiss. Merkel brachte auch eine Rechtsstaats-Klausel auf den Weg, die das EU-Budget schützen soll. Doch ob sie in Polen oder Ungarn wirkt, muss sich erst noch zeigen. Im Herbst droht ein Eklat. Und dann wären da noch die Klimakrise, Afghanistan, der Streit mit den USA über China und die U-Boote – jede Menge „unfinished business“, bei dem es auf Deutschland ankommt. Doch die Kanzlerkandidaten schweigen.

Je nach Temperament wird dies von den EU-Politikern und Institutionen ganz unterschiedlich aufgenommen. „Kein Problem, wir haben alles im Griff“, heißt es im Ministerrat, der Vertretung der 27 Mitgliedstaaten. Schließlich haben Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron eine ordentliche Übergabe vereinbart. Am 1. Januar 2022 übernimmt Frankreich den EU-Vorsitz – die Agenda haben Merkel und Macron schon festgezurrt.

„Wir können mit jedem Wahlsieger“, heißt es in der EU-Kommission. Behördenchefin Ursula von der Leyen verweist darauf, dass sie mit CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet das Parteibuch teile – und mit SPD-Spitzenkandidat Olaf Scholz schon gemeinsam in einer Regierung gesessen habe. Man kennt sich, man schätzt sich, und beide sind „überzeugte Europäer“ – genau wie die Grünen-Kandidatin Annalena Baerbock. Die kennt Brüssel zwar nur von einer Assistentenstelle im Europaparlament, die kaum Spuren hinterlassen hat. Doch auch sie bekennt sich zur EU.

Und was ist mit der Linkspartei, die mit Scholz an die Macht kommen könnte? „Eine linke Bundesregierung, womöglich unter Beteiligung der Linkspartei, schwächt und destabilisiert Europa“, warnt Manfred Weber, der die konservative EVP-Fraktion im Europaparlament führt. Doch in der EU-Kommission ist der Linksrutsch kein großes Thema. Eine rot-grün-rote Koalition wird in der Schaltzentrale der EU für wenig wahrscheinlich gehalten. Und wenn doch? „Wir hatten es schon mit ganz anderen Regierungen zu tun“, heißt es mit Verweis auf Italien oder Österreich. Dort waren Populisten an der Macht – auf die Europapolitik hatten sie jedoch kaum Einfluss.

FDP in der Regierung wäre Worst-Case-Szenario

Mehr Sorgen macht man sich um die FDP und einen möglichen Finanzminister Christian Lindner. Er könnte die EU-Finanzierung über Schulden infrage stellen und mit eiserner Budgetdisziplin für Turbulenzen sorgen. Vor allem für Südeuropa wäre das ein Problem. In Griechenland, Italien und Frankreich haben die Schulden schwindelerregende Höchststände erreicht, selbst Deutschland hält den Stabilitätspakt nicht mehr ein. Ein „Jamaika“-Bündnis aus CDU, FDP und Grünen wäre deshalb für manche Europapolitiker das Worst-Case-Szenario.

Für die FDP-Europaabgeordnete Nicola Beer ist das ein Missverständnis: „Gerade auf europäischer Ebene zeigen wir, dass eine Koalition zwischen der Partei Macrons und den Freien Demokraten möglich ist“, sagt die Vizepräsidentin der Straßburger Kammer. Auf die Liberalen sei Verlass.

Mit dem bevorstehenden Wechsel an der Spitze der deutschen Bundesregierung muss endlich ein neuer Impuls – eine neue Vision für Europa einhergehen

Sven Giegold, Grüner EU-Parlamentarier

Auch Udo Bullmann von der SPD wiegelt ab. „Das größte Thema für die Europäer ist, wer diese Wahl gewinnt. Ob die FDP dabei mitmacht, ob die Linke beteiligt sein wird, ist von vergleichsweise geringerem Interesse.“ Der Ko-Fraktionschef der Linken, Martin Schirdewan, verspürt sogar Rückenwind: „Vor allem in Südeuropa gibt es große Hoffnung auf eine andere deutsche Europapolitik.“

Auch die Grünen setzen auf einen Neustart. „Mit dem bevorstehenden Wechsel an der Spitze der deutschen Bundesregierung muss endlich ein neuer Impuls – eine neue Vision für Europa einhergehen“, sagt Finanzexperte Sven Giegold. 17 Jahre nach der Osterweiterung dürfe man in der EU nicht mehr nur den kleinsten gemeinsamen Nenner suchen – wie so oft unter Merkel.