Esch2022Britische Zeitung kürt Esch zur „langweiligsten Kulturhauptstadt“ der EU

Esch2022 / Britische Zeitung kürt Esch zur „langweiligsten Kulturhauptstadt“ der EU
Nur Belval kommt etwas glimpflicher im Bericht davon. Der Autor hingegen wollte nicht mal die Eröffnung des Kulturjahres abwarten. Foto: Editpress/Fabrizio Pizzolante

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Ein Bericht über Esch erregt mal wieder die Gemüter. Dieses Mal war es ein Reporter des britischen „Telegraph“, der sich Anfang Februar einen Eindruck der Kulturhauptstadt verschaffen wollte. Entstanden ist eine Klischee-beladene Reportage, die sich irgendwo im Niemandsland zwischen Realität und Fiktion bewegt. Nur Belval ist mit einem blauen Auge davongekommen – und das wegen eines vermeintlichen Anflugs von Hipsterismus. „Berlin ist es aber nicht“, so das Fazit des Autoren.

Offenbar ist in Luxemburg der Anbau und Konsum von Cannabis längst erlaubt. Als erstes EU-Land überhaupt habe das Großherzogtum die weiche Droge legalisiert. Das zumindest versucht der britische Autor seiner Leserschaft weiszumachen. Dass es sich nur um die rauschfreie Variante CBD handelt, wird im Verlauf des Artikels nur am Rande vermerkt. Alles andere würde auch nicht ins Narrativ des Autors passen, der Esch gleich in den ersten Zeilen als öde Provinzstadt darstellt, die man nur im Rausch ertragen kann.

„Ich wusste nicht so recht, was tun. Also habe ich Cannabis gekauft“, lautet der erste Satz der Reportage, die am 5. April unter dem Titel „What happened on a holiday in the EU’s most boring Capital of Culture“ in der britischen Tageszeitung „The Telegraph“ hinter einer Paywall veröffentlicht wurde. „Unser Autor hat Esch besucht, wo sogar dem legalisierten Cannabis der Spaß genommen wurde“, heißt es in der Intro. 

Esch sei also die langweiligste Kulturhauptstadt Europas. Nach „RuppEsch“ und „Proletennest“ der nächste Titel, den sich die Stadt ans Revers heften kann? Zumindest versucht der selbsternannte „Travel Writer“ seinen Lesern die „Minettemetropole“ als solche zu beschreiben. Dabei bedient er sich mancher realer Begebenheiten und zahlreicher Vorurteile, die Briten so von Luxemburg haben könnten. Vor allem aber strotzt der Bericht vor krampfhaften Versuchen, Esch als den ödesten Ort der Welt darzustellen. Nicht schmutzig, nicht ruppig. Nur belanglos. Und langweilig.

Ein Mittwoch im Februar

Attraktionen gibt es dem Autoren zufolge keine in Esch. Das einzige Museum der Stadt sei geschlossen gewesen. Und auch sonst habe er nichts entdeckt, das für Touristen von Belang sein könnte: keine Märkte, keine schrulligen Läden, keine Dorfidioten. Er sei der einzige Gast bei einem „leeren, aber exzellenten“ Libanesen gewesen. Und auch die meisten Bars, an denen er vorbeigelaufen sei, hätten einen verlassenen Eindruck gemacht.

An diesem Punkt macht der Autor sein einziges Zugeständnis: Die sanitären Auflagen seien wohl der Grund für diesen Zustand. Und der Umstand, dass es ein Mittwoch im Februar sei. „Und doch“, fährt der Journalist fort. Dass die Hochöfen auf Belval nach der Rockhal zu den beliebtesten Attraktionen der Stadt gehörten, verdeutliche die Höhe der Hürden, die Esch im Hinblick auf die Reisebranche zu bewältigen habe, so seine Schlussfolgerung.

Lokale Spezialitäten habe er auch keine gefunden. Dabei produziere Luxemburg durchaus gute Weine, meint der Journalist, bevor er das Lob wieder zunichtemacht: „Die Produktion ist so klein, dass das meiste davon es nicht über die Grenzen schafft.“ Das „Drupi’s“ im Zentrum habe zwar eine gute Weinkarte und heitere Sommeliers, doch „echte, lokale Spezialitäten“ suche man in Esch vergebens: Niemand habe ihm ein Lokal zeigen können, in dem „grüne Bohnen, geräucherte Schweinesuppe, Kartoffelkrapfen und Resiling-Pastete“ (sic!) angeboten werden.

Die Rockhal auf Belval ist die größte Konzerthalle Luxemburgs
Die Rockhal auf Belval ist die größte Konzerthalle Luxemburgs Archivfoto: Editpress/Tania Feller

Da hat es Luxemburg-Stadt dem Journalisten schon eher angetan: Er schwärmt geradezu von den verschlungenen Gassen der Altstadt und dem Feinschmecker-Menü, das er mit einem Glas „Reisling“ in einem charmanten Lokal herunterspülen durfte. Auch entspreche die Hauptstadt mehr seinen Vorstellungen von Luxemburg: hügelige Landschaften, märchenhafte Ortschaften, eine grandiose Architektur sowie … „dubiose Steuerabkommen und verdunkelte Limousinen mit Bankmanagern in Nadelstreifanzügen“.

Weitere Pluspunkte: die schöne Lage, Art-Nouveau-Fassaden, dekorative Türme, das Bank-Museum, Warteschlangen vor dem Hermes-Laden und die Schaufenster teurer Couturiers. „Es hat sich verschwenderisch angefühlt. Etwas muffig. Old money …“, so sein Urteil. „Esch war anders“, heißt es dann. „So gewöhnlich“, mit seinen „unscheinbaren Läden und ruhigen Gassen“: „There was a demure orderliness to the place; no litter, no homelessness, no empty shops. Hardly thriving, but lacking the sense of abandonment you get in some old industrial towns. There was even a provincial theatre.“

Er schafft es sogar, die multikulturelle Bevölkerung durch den Dreck zu ziehen: Er habe viele Gesichter aus anderen Nationen in Esch erblickt – die wohl alle vom Mindestlohn in Luxemburg angelockt worden seien. „Nur dass in Esch niemand unterwegs war, um dieses Geld auch auszugeben“, fährt er fort. „I traipsed the lonely streets looking for life, but succeeded only in aggravating my bunions. That’s when I stumbled upon the cannabis shop.“ Leider sei dem Gras das berauschende THC geraubt worden. Deshalb habe er nur CBD kaufen können.

Wegen Sanierung geschlossen: Das Resistenzmuseum konnte der Autor nicht besuchen
Wegen Sanierung geschlossen: Das Resistenzmuseum konnte der Autor nicht besuchen Foto: Editpress/Fabrizio Pizzolante

Auf eigene Faust

Außer einem Mitarbeiter im „Pitcher“, der glimpflich davonkommt, scheint der Shopbesitzer die einzig weitere Person zu sein, mit der sich der Autor im Zusammenhang mit dem Artikel unterhalten hat. Ein Gesprächsangebot der Organisatoren von Esch2022 hat er ausgeschlagen, wie Koordinatorin Nancy Braun dem Tageblatt verrät. Der britische Journalist sei vom 9. bis 11. Februar auf Einladung von „Luxembourg for Tourism“ im Großherzogtum gewesen. Dabei habe er es vorgezogen, sich auf eigene Faust ein Bild zu machen.

Nancy Braun bedauert den Umstand, dass der Autor nicht weiter auf die Bemühungen eingeht, die im Rahmen von Esch2022 in der Region und der gesamten Szene unternommen wurden. Auch habe er sich keine Mühe gegeben, die Besonderheiten der „Minettemetropole“ zu entdecken. Stattdessen habe er die Stadt an den eigenen Vorurteilen gemessen – zu einem Zeitpunkt, an dem die Feierlichkeiten nicht einmal lanciert waren.

Es sei allerdings ebenso bedauernswert, dass auch die einheimischen Medien immer noch auf alten Kamellen herumritten und sich negativen Berichten ausländischer Zeitungen widmeten, anstatt die zahlreichen Veranstaltungen hervorzuheben, mit denen man die Menschen bereits zusammengebracht habe. Wie etwa die „Nuit de la culture“, die „Fête du feux“, die Petinger Kavalkade – die allesamt ein Publikumserfolg waren.

Nicht nur drinnen, auch im Außenbereich des „Bâtiment 4“ arbeiten Künstler an ihren Werken<br />
Nicht nur drinnen, auch im Außenbereich des „Bâtiment 4“ arbeiten Künstler an ihren Werken
 Archifoto: Julien Garroy/Editpress

Ähnlich sieht es auch Bürgermeister Georges Mischo: „Der Herr hatte wohl zu viel Cannabis konsumiert und es leider verpasst, sich an den richtigen Stellen zu informieren“, meint der Präsident des Verwaltungsrats von Esch2022. An Gelegenheiten habe es nicht gemangelt. „Ich verweise nur auf das hervorragende Feedback der ausländischen Presse nach der Eröffnungsfeier, auf unsere Kunsthalle mit international bekannten Künstlern aus Luxemburg, die Ausstellungen von Filip Markiewicz und Gregor Schneider, die Stolpersteine in Audun-le-Tiche, die Stimmen der Schmelz in Düdelingen, die Galerie Schlassgoart, das Bâtiment 4, das Theater, unsere architektonische Führung durch Esch und, und, und …“, so Mischo. „Dafür hätte er sich aber etwas informieren müssen. Wenn sich ein Journalist dafür zu schade ist, kann ich dessen Arbeit nur als billig, unprofessionell und populistisch abtun.“

Belval ist (neben „Drupi’s“ und „Pitcher“) der einzige Ort in Esch, der etwas glimpflicher davonkommt. „From a distance, and against the graphite sky, Belval’s towering chimney stacks and blast furnaces looked vaguely dystopian, like a scene from a graphic novel; up close, they were colossal“, so der Autor. Die beeindruckende Architektur habe ihn regelrecht ins Taumeln gebracht. „Dabei hatte ich den Lion’s Cush (aus dem CBD-Shop, Anm. d. Red.) noch nicht angerührt.“

Belval 2.0 sei ein „work in progress“. Das Resultat sei aber beeindruckend, lobt der Journalist und spricht von einem gelungenen Revival. Aus den Aschen der Industriebrache seien Restaurants, Läden und „trendy“ Apartmentwohnungen entwachsen. Er sehe „Anzeichen von Hipsterismus“ und nennt Beispiele wie die funktionelle Industrie-Architektur, vegane Restaurants und unverbrauchte Akademiker – bevor er dem Leser aber wieder sämtliche Lust nimmt, den Ort auch wirklich entdecken zu wollen: „Berlin ist es aber nicht!“

Der Artikel wurde am 5. April im Netz veröffentlicht
Der Artikel wurde am 5. April im Netz veröffentlicht Screenshot: The Telegraph

Proletennest Esch

„Schaurig-schön“, „ruppiges Proletennest“, „scheußlichste Straßenbeleuchtung Europas“, „riesige Hundehaufen“, „Bolzplatz“, „Albert-Speer-Architektur“: Im Februar 2021 hatte bereits ein Bericht über Esch die Gemüter erregt. Damals war es ein Kapitel in der Neuerscheinung des Marco-Polo-Reiseführers zu Luxemburg, das bei so manchem Bewohner der zweitgrößten Stadt des Landes für Entsetzen sorgte. Die Welle der Entrüstung schwappte besonders in den sozialen Netzwerken über. Andere Protagonisten nahmen es sportlich, wie etwa der Escher Schöffenrat, der sich in T-Shirts mit der Aufschrift „RuppEsch“ auf dem Brillplatz ablichten ließ. 

rols
14. April 2022 - 12.13

ass dat normal fir eng Kulturhaaptstadt datt no 10 Auer owends kee sech mé eleng op d'Stoossen traut???

J.C. Kemp
13. April 2022 - 11.13

Der Telegraph brachte einst die erschreckenden Nachrichten ihres EU-Korrespondenten, ein gewisser Boris Johnson, dass Brüssel eine Verordnung über Bananenkrümmung beschlossen habe und Euroscheine und -münzen impotent machen würden, bzw giftig seien. Mehr ist dazu nicht zu sagen.

viola
11. April 2022 - 20.24

@JOHNNY "dWourecht deet numol heinsdo weih… Evtl. brauch en e Bleck vun baussen vir aus senger rosarouder Wollek ze entkommen" Et ass eng schwaarz Wollek. :-)

marci
11. April 2022 - 19.39

"fête du feux"......ja das ist Kultur!

Tchips
11. April 2022 - 14.11

Wenn man nur die Alzettestrasse kennt, und die Journée française, findet man sicher keine Kultur. In der Grossgasse in Lux. habe ich auch noch keine gefunden.

Leila
11. April 2022 - 12.21

Ignorieren, was sonst? Am 13. März 22 lief eine wohlwollende Reportage auf arte über Esch

JOHNNY
11. April 2022 - 11.38

dWourecht deet numol heinsdo weih... Evtl. brauch en e Bleck vun baussen vir aus senger rosarouder Wollek ze entkommen

erna
11. April 2022 - 10.44

Haben wir ja von Anfang an gesagt.

HTK
11. April 2022 - 10.33

@Grober, richtig. Habe auch meine Probleme damit.Aber vielleicht haben die Jungs zuviel "forciert". Eine Spray-Attacke auf ein Fenster oder eine Fassade ist noch keine Kultur und Wetter unabhängig.

Grober J-P.
11. April 2022 - 10.12

Esch22, Kulturhauptstadt. Wie soll man die Kultur denn finden? Tut mir leid, bin wahrscheinlich einfach zu blöd dazu. Wandere hin und wieder durch die längste Einkaufsstrasse des Landes und blicke meistens in missmutige Gesichter. Liegt am Wetter, werde es im Mai noch versuchen.