Die Briten und der „Brexit“

Die Briten und der „Brexit“
(AFP)

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Der britische Premier David Cameron setzt mit einem möglichen EU-Austritt seine Kollegen unter Druck. Welche Folgen hätte der "Brexit"?

Von der Gurkenkrümmung bis zum Ölkännchen, geschimpft wird über Brüssel gern und wohl in allen EU-Mitgliedstaaten. Aber in Großbritannien sind die EU-Gegner inzwischen zu einer mächtigen Bewegung angewachsen, die Premierminister David Cameron vor sich hertreibt.

Der „Brexit“, wie der Ausstieg der Briten aus der Union inzwischen mit einem Kunstwort aus Britain und Exit umschrieben wird, ist zur realistischen Perspektive geworden. Dabei steht für die Briten viel auf dem Spiel – denn wie es nach einem Referendum für den Ausstieg weitergehen würde, ist offen.

Was spricht aus britischer Sicht für einen Austritt?

Die Bedenken der EU-Kritiker hat David Cameron gerade griffig zusammengefasst: Die EU sei „zu groß und zu herrschsüchtig“. Die EU-Gegner argumentieren: Die EU ist durch die letzten Erweiterungen zu groß geworden. Zudem sollen die Briten ihre Grenzen wieder selbst kontrollieren und so Arbeitsmarkt und Sozialsystem vor zu viel Zuwanderung schützen können. Außerdem soll der vermeintlichen „Regulierungswut“ der EU ein Riegel vorgeschoben werden. Außerdem halten viele die EU für zu teuer, weil die Briten mehr in den großen Topf einzahlen, als sie an Fördergeldern wieder herausbekommen.

Und wie argumentieren die „Brexit“-Gegner?

Letzlich geht es vor allem ums Geld. Steht das Land außerhalb der EU besser da? Berechnet haben das kürzlich Wissenschaftler an der London School of Economics. Selbst nach optimistischen Schätzungen würde der Wohlstand auf der Insel demnach um rund 1,1 Prozent sinken, im schlechtesten Fall um mehr als 3 Prozent. Verkürzt lautet die These, dass die Verluste beim Handel – etwa durch Zölle – größer sind als eingesparte Kosten. Aber das seriös vorauszusagen ist schwer, denn falls die Briten für einen Austritt stimmen, muss über die Bedingungen dafür erst einmal verhandelt werden.

Welche Szenarien gibt es für diese Verhandlungen?

Die Denkfabrik Open Europe nennt verschiedene Modelle: Die Briten bleiben im Europäischen Wirtschaftsraum mit freiem Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr – wie die Norweger. Dann müssten sie auch Regulierungen beibehalten. Denkbar wäre auch das Schweizer Modell, also ein maßgeschneiderter bilateraler Vertrag, oder eine Zollunion wie mit der Türkei. Der größte Bruch wäre, wenn Großbritannien nur Mitglied der Welthandelsorganisation WTO bliebe. Jedes Modell bringt Rechte und Pflichten mit sich. Was bei Verhandlungen herauskäme, ist nicht absehbar.

Was wäre für die Briten bei Austrittsverhandlungen besonders wichtig?

Herz der britischen Wirtschaft ist der Finanzsektor. „Frankreich und Paris würden alles tun, um Londons enormen Anteil an internationalen Finanzgeschäften zu verlagern“, glaubt Michael Emerson vom Centre für European Policy Studies. Das Centre for European Reform argumentiert sogar, dass seit der Finanzkrise das Königreich beim Regulieren sogar eher strenger war als die EU. Der „Brexit“ würde die City, das Finanzzentrum von London, deshalb nicht befreien, sondern schwächen, glauben die Experten. Es zählen Stabilität und Wettbewerbsfähigkeit – beides sehen sie innerhalb der EU eher gewährleistet.

Und wie sieht es mit der Industrie aus?

Unternehmen der EU würden nach Emersons Einschätzung möglicherweise zögern, weiterhin in Großbritannien zu investieren. Das glauben einer Untersuchung zufolge auch drei Viertel der Unternehmen der britischen Autoindustrie. Ihr Branchenverband warnt, der freie Zugang zum wichtigsten Markt EU dürfe nicht verloren gehen. Nur als Mitglied hätten die Briten die Möglichkeit, auf EU-Richtlinien Einfluss zu nehmen.

Cameron nutzt den möglich Austritt als Druckmittel. Was steht denn für die EU auf dem Spiel?

Viel weniger als für die Briten, glaubt Tim Oliver von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Trotzdem wäre die Erschütterung enorm, denn dass ein Mitgliedsstaat austritt, war lange ein Tabu. Quoten und Budgets müssten neu verhandelt werden. Wenn ein mächtiges, liberales Mitglied ausscheidet, könnte es einen Trend zum Protektionismus geben, befürchten Kritiker. Emerson glaubt, dass die Union an internationalem Ansehen verlöre – aber auch, dass die EU ohne die Briten als „Bremsklotz“ eine stärkere gemeinsame Außenpolitik aufbauen könnte.