Klangwelten: Das Ende des Indie-Rocks?

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Die neuen Platten von Turin Brakes, Laurie Anderson, Joan As Police Woman und Editors sind erschienen.

In unserer “Klangwelten”-Rubrik analysieren wir die Alben. 


Orientierungslos

von Jeff Schinker

Nachdem die Editors für zwei Alben die weniger sperrigen, poppigeren Interpol waren, überraschten sie auf ihrer dritten Platte mit einem Exkurs in elektronischere Gefilde – nach Joy Division kommt halt New Order. Gleichermaßen wurde aber das Songwriting weniger zwingend. Auf den anschließenden Alben wurde zwischen tanzbarem Indie-Rock und atmosphärischem Electronica abgewechselt, irgendwie gelangen der Band auf „In Dream“ aber die elektronischen, pulsierenden Tracks besser – ihr Indie-Rock schielte immer gefährlicher in Richtung Stadionrock, Tom Smith drohte mitunter, zum charismatischeren Chris Martin zu verkommen.

Auf dem neuen Album Violence verschmelzen, wie es die vorab veröffentlichte Single „Magazine“ versprach, Indie-Rock und das Elektronische öfters. Wer aber jetzt wen phagozytiert – das wechselt genauso von Song zu Song wie die Qualität der Tracks. Der Opener „Cold“ lässt einen leider ziemlich kalt, im Namen des Songs versteckt sich nämlich die Hälfte eines Bandnamens, der einem beim Hören unweigerlich in den Kopf kommt. Im Vergleich zur grandiosen Eröffnung des letzten Albums hier leider ein misslungener Einstieg.

Darauf folgt so etwas wie eine qualitative Achterbahnfahrt, die gegen Ende mit einem Stromausfall abgeschlossen wird: Mit „Hallelujah (So Low)“ gelingt der Band mal wieder ein gitarrenlastiger Track, dessen elektronische Komponenten sich elegant mit der organischen Instrumentierung zu einem gelungenen Ganzen verzahnen. Der Titeltrack „Violence“ legt den Schwerpunkt auf die Elektronik und überzeugt vollends. „Nothingness“ und die Ballade „No Sound but the Wind“ sind nur deswegen akzeptabel, weil die benachbarten Songs schlechter sind: Kitsch und Bombast lassen „Darkness at the Door“ nach Bastille klingen, „Counting Spooks“ versucht die Leere des Songs mit elektronischen Störgeräuschen zu kaschieren.

Die Orientierungslosigkeit, mit der die Editors seit ein paar Album in der Indie-Szene herumirren, wirkt fast symptomatisch für die Irrelevanz alternder Indie-Bands zwischen Mainstream und Experimentierfreudigkeit. Ein paar gute Songs (das abschließende „Belong“ klingt schön nach Depeche Mode) gelingen ihnen immer wieder, ein durchweg gutes Album gab es allerdings seit langem nicht mehr.

Anspieltipps: Violence, Hallelujah (So Low), Magazine


Kann nicht Nein sagen

von Kai Florian Becker

Die 47-jährige US-Amerikanerin Joan Wasser hatte vor vielen Jahren die Idee, abseits anderer musikalischer Projekte ihr eigenes zu initiieren. So entstand Joan As Police Woman.

Vier Jahre sind seit ihrem letzten regulären Studioalbum „The Classic“ vergangen. In der Zwischenzeit arbeitete sie mit Sufjan Stevens, John Cale, Aldous Harding, Woodkid, RZA, Norah Jones und Daniel Johnston und produzierte „The Bell that Never Rang“ (2015), das vierte Album der britischen Folkband Lau, und „Beyond Waves“ (2017), ein Werk der Singer-Songwriterin Domino Kirke.

Außerdem schrieb sie mit dem Pianisten Thomas Bartlett den Filmsoundtrack zu „Permission“ (Regie: Brian Crano) und komponierte die Musik für die Modeshows der holländischen Designer Viktor & Rolf. Laut eigener Aussage sage sie zu fast allen Anfragen Ja, weil sie ständig Musik machen wolle. Insofern passt der Titel ihres neuen Albums perfekt zu ihr: Damned Devotion.

Auf ihrem neuen Album brilliert Wasser mit schleppendem Trip-Hop, der an die frühen Portishead erinnert („Warning Bell“). In dem warmen, düsteren Song geht es darum, romantisch zu sein, was zwangsläufig mit einer gewissen Portion Naivität einhergeht.
Ihr Album sei generell „düsterer und nachdenklicher“ und gehe der Frage nach, „wie man ein hingebungsvolles Leben führen kann, ohne dabei besessen zu werden oder den Verstand zu verlieren“. Verhältnismäßig leichtlebig klingt dahingegen „Tell me“, ein Song, der auch von (Leslie) Feist hätte stammen können und der Mitte Januar vorab ausgekoppelt wurde.

Die Songs entstanden zusammen mit Parker Kindred, der Schlagzeug spielte oder (wie Wasser auch) elektronische Beats produzierte, und dem Keyboarder Thomas Bartlett. „90 Prozent der Sounds auf diesem Album stammen von uns“, erklärt Wasser.
Wer auch immer die fehlenden zehn Prozent beigesteuert hat, er hat seinen Teil zum Gelingen dieses wundervollen Albums beigetragen.

Anspieltipps: Warning Bell, Tell me, Rely on


Gesamtkunstwerk

Von Gil Max

Als ich diese Musik zum ersten Mal auflegte, hatte ich keinen blassen Schimmer, wovon sie handelte und wie sie zustande gekommen war. Dennoch hat sie mich umgehend gepackt und in ihren Bann gezogen. Erst als Laurie Anderson während der ersten Spoken-Word-Passage im vierten Track „Our Street is a Black River“ die Worte „Sandy was a Huge Swirl“ spricht, dämmerte mir, wieso das Album Landfall heißt.

Die Musik funktioniert also auch ohne die Geschichte rund um dieses Album, allerdings macht die Story sie noch spannender. Während der Jahrhundertsturm im Oktober 2012 über Nordamerika tobte, wurde auch das Haus der mittlerweile 70-jährigen Performance-Künstlerin und Avantgarde-Musikerin in Manhattan zerstört. Dabei gingen unter anderem Instrumente, Bühnenrequisiten sowie unzählige Manuskripte und Bücher der Künstlerin und ihres Lebenspartners Lou Reed verloren.

Anderson hat damals die Naturkatastrophe in eine Art elektroakustisches Requiem umgesetzt, das jetzt endlich im Studio fertiggestellt wurde. Raffiniert werden in diesem Werk moderner Klassik Streicher und Ambient-Beats mit gesprochener Poesie kombiniert. Teile der Musik und des Klangbildes entstanden offenbar aus den Harmonien und Loops einer Software für Solo-Bratsche, die für das experimentierfreudige Kronos Quartet umgeschrieben wurde.

Das Resultat ist verblüffend. Die Musiker schaffen eine düstere und äußerst bildhafte Atmosphäre: Sie lassen den Wind pfeifen, das Wasser steigen, Hubschrauber kreisen, apokalyptische Bilder entstehen, Verlust spürbar werden. Es ist großartige Filmmusik, die nicht für einen Film geschrieben wurde. Allein der gesprochenen Passagen, vor allem wenn sie durch Effekte verfremdet werden, wird man gegen Ende etwas überdrüssig.
Wer zusätzlichen Input benötigt, um sein eigenes Kopfkino zu aktivieren, kann dem audiovisuellen Spektakel eine weitere Dimension hinzufügen, indem er Andersons Essay-Sammlung „All the Things I Lost in the Flood“ als Begleitlektüre zur Hand nimmt.

Anspieltipps: The Water Rises, The Dark Side, Helicopters Hang over Downtown


Mediokres Songwriting

von Gil Max

Die Turin Brakes waren mal eine sehr gute Band. Sie gehörten nach dem Ende des Britpop zu den Initiatoren einer originellen Strömung, die man um die Jahrtausendwende als „Quiet is the New Loud“ oder auch noch „New Acoustic Movement“ bezeichnete.

Im Gegensatz zu ihren Gefährten Coldplay und Travis, die es zu Weltruhm brachten, Starsailor oder I Am Kloot, die zumindest phasenweise kommerziellen Erfolg verbuchen konnten, blieb das Folk-Pop-Duo der beiden Freunde Olly Knights und Gale Paridjanian jedoch stets diskret im Hintergrund und somit der ewige Geheimtipp dieses Genres.
Der Grund für den ausbleibenden Erfolg ist eher auf schlechtes Management und mangelnde Vermarktung seitens der Plattenfirmen zurückzuführen als auf eine mindere Qualität der Kompositionen, denn die Band schenkte uns damals zahlreiche Songperlen wie „Underdog“, „Emergency 72“ oder „Average Man“.

Die Turin Brakes verschwanden mehr oder weniger ganz vom Radar, bis ihnen vor zwei Jahren mit der sehr gelungenen Einspielung „Lost Property“ eine Art Comeback-Album gelang. Nun legen sie mit Invisible Storm nach, doch die neue Produktion ist leider eine unglaublich flache Mainstream-Angelegenheit.

Es beginnt noch sehr beschwingt mit dem Opener „Would you be mine“, doch dann folgen mehrere belanglose Popliedchen, bei denen offenbar mit der Brechstange Radiotauglichkeit erzeugt werden sollte. Nach dem Motto „Refrain, komm heraus, du bist umzingelt!“ wurden diese nervigen Stücke mit Pathos und Pseudo-Melodien angereichert, die einem gehörig auf den Zeiger gehen können!

Würden die Turin Brakes Deutsch singen, könnte man manches problemlos im Schlager-Programm von SWR4 unterbringen. Einmal noch blitzt die Genialität der Band auf: nämlich bei dem traurigen „Deep Sea Diver“, bei dem ein sprödes akustisches Arrangement – nämlich zwei Klampfen: einmal Picking, einmal Slide – völlig ausreicht, damit uns Olly Knights’ Stimme unter die Haut geht. Da hätte man gerne mit am Lagerfeuer gesessen!

Anspieltipps: Would you be mine, Deep Sea Diver