Théo Martini darf bis heute nicht wählen: Ein Rundgang durch die Ausstellung #wielewatmirsinn

Théo Martini darf bis heute nicht wählen: Ein Rundgang durch die Ausstellung #wielewatmirsinn
Die Ausstellung über 100 Jahre allgemeines Wahlrecht zeigt zahlreiche bisher unveröffentlichte Dokumente Foto: Editpress/Fabrizio Pizzolante

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Das Nationalmuseum für Geschichte und Kunst (MNHA) und die Abgeordnetenkammer zeigen ein Jahr lang gemeinsam die Ausstellung „#wielewatmirsinn – 100 Jahre Allgemeines Wahlrecht in Luxemburg“ und verweisen auf Ausschluss und Meriten der Demokratie.

Von Anina Valle Thiele

„Kee Wahlrecht fir Autofuerer“ oder „Kee Wahlrecht fir Facebook-Notzer!“ – Die zugespitzten Forderungen auf Plakaten sorgten bis vor wenigen Wochen für Spekulationen. Dass sich kein Spinner, sondern eine Kunstfigur hinter dem Namen „Yves Kinnen“ verbarg, wurde erst anlässlich der Pressekonferenz zur großen Ausstellung im MNHA über „100 Jahre Allgemeines Wahlrecht in Luxemburg“ klar. Die Werbekampagne, die mit einem signalgelben Kreuz und dem Slogan „Wielewatmirsinn“ arbeitet, hat Aufmerksamkeit geweckt. Die Ausstellung selbst schafft es nicht durchgehend, diesen gewollt frischen Eindruck zu wahren.

Auf rund 650 m2 im letzten Stock des MNHA erstreckt sich die weitläufige Schau, an der mit Claude Frieseisen, Régis Moes, Michel Polfer und Renée Wagener vier Kuratoren mitgewirkt haben. Der Rundgang zwischen den Hunderten von Zeitzeugnissen und Exponaten, „größtenteils unveröffentlichte Dokumente sowie Bild- und Filmarchivalien“, der die Einführung des allgemeinen Wahlrechts, seit 1919 Fundament der luxemburgischen Demokratie, beleuchten will, gleicht einem Gang durch ein Labyrinth. Zum Glück sind die Räume nach historischen Etappen unterteilt. Der Raum „Zahlen, um zu wählen“ (19. Jahrhundert) ist dem Vorläufer-Wahlrecht seit der Französischen Revolution gewidmet, damals ein Privileg ausschließlich vermögender männlicher Bürger.

Interaktive Elemente

Interaktive Stationen lockern die Ausstellung auf. Aus einem Kasten kann man sich einen Zettel ziehen, bekommt eine Fake-Identität zugewiesen und kann so Partizipation oder Ausschluss der Person über die Zeit nachvollziehen. Meine Identität: Théo Martini – Minenarbeiter, Alter: 35 Jahre. Im Weiteren lese ich: „Theobaldo Martini, genannt Théo, ist vor zehn Jahren aus Italien nach Luxemburg gekommen. Seitdem arbeitet er in den Eisenminen der Minetteregion. Die Arbeit ist zwar gefährlich, aber mit Hilfe der Gewerkschaft hat er ein anständiges Gehalt ausgehandelt.“ In den Räumen der wichtigsten historischen Etappen stehen Computer, an denen man das Ticket mit seiner historischen Identität einscannen kann. Bis zum Maastricht-Vertrag (1993) wird mir immer wieder angezeigt, dass Théo Martini in Luxemburg nicht wählen darf …

Raum 3 (1914-1919) thematisiert die gesellschaftlichen Umbrüche in Europa und ihre Auswirkungen auf Luxemburg: das Verweilen von Großherzogin Maria-Adelheid im Amt während des Ersten Weltkriegs, einen Arbeiterstreik 1917 sowie die Novemberrevolution im selben Jahr als motivierenden Impuls für die luxemburgische Arbeiterbewegung. Dass es wesentlich die sozialdemokratische Arbeiterbewegung in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war, die das allgemeine Wahlrecht auf die politische Agenda setzte, zeichnet Renée Wagener im Ausstellungskatalog nach.

Ein neues Zeitalter

Das Herzstück der Ausstellung, ein Raum mit rotem Teppich, trägt die Überschrift „Ein neues Zeitalter“. Am 8. Mai 1919 verabschiedete die Abgeordnetenkammer die Verfassungsänderung, durch die das allgemeine Wahlrecht eingeführt wurde: Fortan konnten Luxemburger Männer und Frauen (!) ab 21 Jahren unabhängig von ihrem Einkommen wählen und ab 25 Jahren selbst kandidieren. Das Referendum vom 28. September 1919 über die zukünftige Staatsform legte den Grundstein für ein Wahlsystem, das sich seitdem kaum geändert hat (Listenwahl in vier Wahlbezirken, die Möglichkeit zum „Panaschieren“, Wahlpflicht). Théo Martini durfte als Italiener weiterhin nicht wählen.

In den anschließenden Räumen wird die Frage nach Formen der Beteiligung aufgeworfen. Die Arbeiterbewegung organisierte sich gewerkschaftlich, Frauen waren trotz des ihnen zugebilligten Wahlrechts noch kaum aktiv und auf der politischen Bühne nahezu unsichtbar, nicht zuletzt infolge dominierender frauenfeindlicher Diskurse wie etwa der Rede eines Robert Brasseur, der den Platz von Frauen 1919 noch in Heim und am Herd (Katalog, S. 110) sah. Dass es zu jeder Zeit trotzdem einige mutige, politisch aktive Frauen gab, wird angerissen. Germaine Goetzinger zeichnet in ihrem Beitrag im Katalog das Engagement von Marguerite Mongenast-Servais nach und zeigt exemplarisch, dass es gerade bürgerliche Frauen waren, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit radikalen Forderungen nach Mitbestimmung (Frauenwahlrecht, Einführung der Republik) Impulse gaben. Auf einer Tafel wird auf Lily Krier-Beckers Wirken in der Arbeiterbewegung verwiesen und aus einem Tageblatt-Artikel zitiert, in dem es hieß, bei einer turbulenten Kundgebung vom 13. August 1919 habe das Ladenmädchen Lily Becker „zündende Worte für die Organisation aller Arbeiter“ gefunden.

„Sécher ass sécher, wielt CSV!“

Die Etappe der Besatzung durch Deutschland und damit die Nationalsozialisten wird in einem beklemmenden, schmalen, dunklen Gang symbolisiert. Im Wandtext liest man dort recht kurz, dass während der Besatzung zwischen 1940 und 1944 alle demokratischen Institutionen abgeschafft wurden. Marc Schoentgen vertieft diese Periode im Katalog, indem er die systematische Zerstörung des Vereinslebens und der Gewerkschaften 1940/41 über die Aushebelung der Lohngestaltung und der Tarifautonomie durch die NS-Besatzung bis hin zum vollständigen Verlust der erkämpften Arbeitnehmerrechte durch die eingesetzte Zivilverwaltung schildert. In der Ausstellung wird dieser Zeit jedoch wenig Raum gegeben. „Nach der Erfahrung der Besetzung stand die Luxemburger Bevölkerung überzeugter denn je hinter der parlamentarischen Demokratie“, heißt es im Wandtext sehr überzeugt.

In den letzten Räumen sind unter dem Motto „Wahlkämpfe“ einige Wände mit historischen Wahlplakaten zugepflastert. Da blickt einem so unter anderem ein junger Jean-Claude Juncker wie ein aus dem Nest gefallenes Küken seriös entgegen: „Sécher ass sécher, wielt CSV!“

Nachgebaute Wahlkabinen laden die Besucher dazu ein, ihre Stimme abzugeben. Puppenstubenähnliche Aufnahmen der Chamber und ihrer Debatten geben einen Einblick in einen Teil des Alltags der Abgeordnetenkammer.

Wahlrecht heute als Status quo?

Ähnlich erwartbar wird noch in zwei Etappen auf alternative Bürgerbeteiligung und die Pluralität der Presse, die in ihren Anfängen noch stark parteigebunden war, und die Pressefreiheit verwiesen. Es werden gängige Muster von „Herausforderungen der modernen Demokratie“ angeboten, wie etwa die Beschleunigung u.a. durch „soziale Medien“ (im Begleittext ohne Gänsefüßchen) oder – siehe USA und Brexit – „dass ausländische Mächte, aber auch Interessenverbände die öffentliche Meinung manipulierten, um ein gewünschtes Ergebnis zu erreichen.“ Kritischere Reflexion über das Verhältnis von repräsentativem Wahlrecht und gesellschaftlicher Macht vermisst man, mindestens das gescheiterte Referendum von 2015 über eine Ausweitung der Repräsentation (Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre; Öffnung für Nicht-Luxemburger/Ausländer) hätte hierzu allen Anlass geboten. Schließlich sollte für die Arbeiterbewegung das Wahlrecht ursprünglich ja vor allem ein Mittel sein für Höheres: Emanzipation, Befreiung und Sozialismus. Welchem Ziel dient das Wahlrecht heute – dem Status quo?

Die Ausstellung „#wielewatmirsinn – 100 Joer Allgemengt Wahlrecht“ ist im historischen Teil informativ und liefert gute Einblicke in die Luxemburger Entwicklung der repräsentativen Demokratie. Der Fokus auf einige Frauenfiguren ist gelungen, und das interaktive Spiel mit der Fake-Identität einer Person bietet einen interesseweckenden roten Faden. Die Ausstellung im MNHA ist insgesamt jedoch etwas überfrachtet, teilweise diffus und erschlagend. Insbesondere im letzten Teil erinnert sie sehr an die Dauerausstellung im „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ – eine zu brave und zu betont pädagogische Vorstellung des Parlaments und ein Abfeiern der eigenen Fortschrittsgeschichte fast ohne Brüche. Ein wenig zu viel: „Mir wëlle bleiwe, wat mir sinn“.

„#wielewatmirsinn“ ist eine Ausstellung, die der Dreisprachigkeit Rechnung trägt, jedoch den anglophonen und den lusophonen Teil der in Luxemburg arbeitenden Bevölkerung nicht berücksichtigt. Ein Besucher aus dem angelsächsischen Raum schrieb in das Gästebuch: „The installation was confusing for an English speaker … prefer Londons’s art galleries.“ Kurz nach der Eröffnung wies die Ausländerrechtsorganisation ASTI darauf hin, dass 47,5% der in Luxemburg lebenden Menschen bis heute nicht das Parlament wählen dürfen. Im Jahr 2019 ist von vier Personen, die in Luxemburg arbeiten, nur eine Luxemburger(in). Kann man also von einer hundertjährigen Erfolgsgeschichte der demokratischen Partizipation sprechen?

Infos

Der Sammelband, der anlässlich der Ausstellung publiziert wurde, ist bei Silvana Editoriale erschienen und im MNHA sowie in Buchhandlungen erhältlich.

www.wielewatmirsinn.lu