Ein etwas anderes Familienleben

Ein etwas anderes Familienleben
(Isabella Finzi)

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Familie Carnaro-Trausch hat ein Kind mit ADHS und meistert den Alltag

In Europa leiden zwischen 5 bis 10 Prozent der Bevölkerung an einer Entwicklungsstörung, darunter viele Kinder. Eine solche Störung, wie z. B. ADHS, kann den Alltag eines Kindes sowie einer ganzen Familie stark beeinflussen. Die Krankheit ist auch ein Thema bei Familie Carnaro-Trausch. Bei ihrer zwölfjährigen Tochter wurde vor sechs Jahren ADHS diagnostiziert. Lis und Sandro Carnaro-Trausch schildern ihre Erfahrungen.

Tageblatt: Wann haben Sie gemerkt, dass ihre Tochter bestimmte Auffälligkeiten an den Tag legt?
Lis Trausch: Eigentlich haben wir das sehr früh gemerkt, aber uns nicht wirklich etwas dabei gedacht. Schon als Baby war unsere Tochter sehr lärmempfindlich. Selbst hat sie aber unheimlich viel Lärm produziert. Hinzu kommt, dass sie ein Frühchen war. Ich kontaktierte „Hëllef fir de Puppelchen“. Hier erklärte man mir, dass es bei zu früh geborenen Kindern ganz normal sei und sie häufig empfindlicher auf Geräusche reagieren würden, daher seien ihre Reaktionen nicht wirklich besorgniserregend.
Sandro Carnaro: Im Kindergarten wurde es dann aber akuter. Wir merkten, dass sie anders ist als andere Kinder. Auch von der Erzieherin wurden wir angesprochen. Uns kam es so vor, als sei unsere Tochter unreifer im Vergleich zu ihren Mitschülern. Hinzu kam, dass sie regelmäßig zu Wutausbrüchen neigte. Die Lehrerin nahm an, dass unsere Tochter einfach etwas Zeit brauche und sich nicht so schnell entwickele. Wir nahmen das also vorerst so hin.

Wie ging es dann weiter?
L.T.: Wir blieben skeptisch. Vor allem, weil das Verhalten unserer Tochter sich nicht veränderte. Sie war phasenweise sehr zappelig und bewegte ständig ihre Arme oder Beine, sie konnte einfach nicht ruhig sitzen bleiben. Dann gab es aber auch Phasen, wo sie komplett ruhig war und andere wiederum, wo sie in Wut ausbrach. Daraufhin wandte ich mich an das CHL. Hier erfolgte dann ein Intelligenztest, der aber recht normale Werte ergab. Wir machten aber eine Familientherapie bei einer Psychologin und einem Arzt, der noch in der Ausbildung war. Nach zwölf Monaten Therapie bekamen wir dann die Ansicht der Psychologin und des Arztes mitgeteilt. Sie erklärten beide, dass unsere Tochter kein reelles Problem habe, sondern einfach nur ein Kind sei, das etwas individualistischer sei als andere Kinder.
S.C.: Natürlich freute uns das einerseits und im ersten Moment gaben wir uns auch mit der Meinung zufrieden. Meine Frau blieb allerdings skeptisch.

Was haben Sie daraufhin unternommen? Haben Sie weitere Meinungen von Psychologen und Ärzten eingeholt?
L.T.: Nein, zunächst nicht. Ich habe angefangen, mich im Internet zu informieren. Hier bin ich dann auf eine Seite der Sozialpädiatrie in Mainz gestoßen. Auf der Seite habe ich mich ein wenig durchgewühlt. Zahlreiche Punkte, bei der Beschreibung von Entwicklungsstörungen trafen auf das Verhalten unserer Tochter zu. Daraufhin habe ich die Klinik in Mainz kontaktiert. Die haben uns dann einen 22-seitigen Fragekatalog zugeschickt, den wir ausfüllen sollten. Das haben wir daraufhin getan und ihn zurückgeschickt. Umgehend bekamen wir dann einen Termin beim Kinderneurologen Dr. Peters.

Wie lief die Untersuchung in der Klinik in Mainz ab?
S.C.: Der Neurologe hat unsere Tochter untersucht. Diese Untersuchung teilte sich in zwei Punkte auf: zum einen wurde ein psychologischer Test gemacht und zum anderen untersuchte der Arzt auch den Körper, was der Arzt hier in Luxemburg nicht tat. Er berührte ihre Gelenke an Armen und Beinen. Hierbei stellte sich heraus, dass ihr Körper bzw. ihre Muskeln angespannt waren. Der Arzt erklärte, dass aus dieser Erkenntnis erfolge, dass unsere Tochter eine Wahrnehmungsstörung hat, vor allem, was Berührungen angeht, da sie auch Störungen der Motorik aufweist.
Der psychologische Test hingegen ergab, dass unsere Tochter ein für ihr Alter normal intelligentes Kind ist.
L.T.: Ihr Tastsinn und Körpergefühl ist ein anderes als bei uns, sie nimmt äußere Empfindungen anders wahr. Das habe ich bereits vorher gemerkt, aber mir keine Gedanken darüber gemacht. Sie empfand zum Beispiel das Badewannenwasser als zu heiß, obwohl es eigentlich nicht heiß war.
S.C.: Die Diagnose des Arztes lautete schließlich, dass unsere Tochter mittelschwer von ADHS betroffen ist. Bei ihr handelt es sich um eine Mischform von ADHS. Der Arzt meinte, sie sei stärker von ADS betroffen und die Hyperaktivität sei bei ihr nicht so ausgeprägt.

Wie haben Sie diese Diagnose aufgenommen? Was haben Sie anschließend unternommen?
L.T.: Der Arzt hat klar gemerkt, dass wir im ersten Moment geschockt waren. Wir haben ja irgendwie mit solch einer Diagnose gerechnet, aber trotzdem war es ein Schock. Er hat uns daraufhin eine Liste gegeben mit Büchern. Diese sollten uns Aufschluss über die Krankheit ADHS (siehe Kasten) geben, damit wir informiert sind. Anschließend verwies er uns an den Pädiater Oliver Decker-Schwering hier in Luxemburg. Sobald unser Kind bei ihm in Behandlung war, haben wir uns auch beim SCAP gemeldet.

Aus welchem Grund haben Sie sich zuerst Hilfe im Ausland geholt?
L.T.: Nach der Diagnose hier in Luxemburg, dass unser Kind nur individualistischer sei als andere, wusste ich nicht mehr, an wen ich mich wenden sollte, außer an den SCAP. Da wir aber schnell Gewissheit haben wollten und das Problem hier in Luxemburg ist, dass nur wenige Experten sich mit dem Thema befassen, blieb nur das Ausland. Nicht alle betroffenen Eltern haben die Möglichkeit, mit ihrem Kind ins Ausland zu gehen und das ist schade, denn der SCAP ist wirklich sehr gut und engagiert, aber leider hat er zu viele Anfragen, zu lange Wartezeiten und nur begrenzte Möglichkeiten.

Was waren bzw. sind nun die Behandlungsmöglichkeiten?
S.C.: Die Behandlungsmöglichkeit war natürlich als erstes die medikamentöse Behandlung. Die haben wir mit viel Bedenken zwar dann auch in Betracht gezogen, da der Arzt meinte, dass unsere Tochter ohne medikamentöse Behandlung es nicht mal bis zur dritten Klasse schaffen würde. Wir haben daraufhin viel über die Medikamente recherchiert, uns informiert. Des Weiteren hat Dr. Peters uns das sehr gut und einleuchtend erklärt, inwieweit die Medikamente unserer Tochter helfen können.
L.T.: Über den SCAP haben wir ein Elterntraining gemacht, um zu wissen, wie wir in unterschiedlichen Situationen reagieren können. Neben den Medikamenten muss unsere Tochter auch Ergotherapie machen sowie ein Konzentrationstraining. Auch die ständige psychologische Betreuung ist wichtig, die bekommt sie regelmäßig, alle 14 Tage, beim SCAP. Der SCAP war und ist für uns eine große Stütze. Eine Reittherapie macht sie auch mit, in Monnerich.
Hier voltigiert sie auf dem Pferd und lernt zusammen mit anderen Kindern, die ähnliche Probleme haben, eine gewisse Gruppendynamik. Um ihr Körpergefühl zu verbessern, besucht sie Capoeira- Kurse, eine Art brasilianischer Kampfsport.

Hatten Sie bezüglich der Medikamente keine größeren Bedenken?
S.C.: Natürlich hat man Bedenken, wenn man einem Kind jeden Tag Medikamente verabreichen muss. Hinzu kommt, dass es keine Medikamente wie beispielsweise Paracetamol sind, sondern es sind wirklich starke Medikamente, die schon zu einer Drogenart zählen. Für uns war das eine sehr schwere Entscheidung.
Aber wir merken jetzt, dass es gut ist. Denn unsere Tochter ist viel ruhiger geworden. Ihre motorische Unruhe hat sich gelegt, ihre Leistungen in der Schule sind viel besser geworden, das hat auch die Lehrerin bestätigt. Sie hat erklärt, dass sie das Kind kaum wiedererkennt. Vorher war sie unaufmerksam in der Schule und nun arbeitet sie richtig mit.

Wie hat die Diagnose Ihren Alltag beeinflusst?
L.T.: Die Diagnose hat unseren Alltag sehr stark beeinflusst und verändert. Wir haben unser Leben zu einem großen Teil umgestellt, es gibt seither fixe Schlafens- und Essenszeiten und auch die Hausaufgaben werden jeden Tag um dieselbe Zeit erledigt. Sie müssen wissen, dass solche Kinder am liebsten haben, wenn jeder Tag gleich aussieht.
Mit Veränderung können sie nicht gut umgehen und das merken wir. Sobald sich das Geringste im Alltag verändert, tut sich unsere Tochter schwer, dies zu akzeptieren. Der Alltag ist auch immer ein kleiner Kampf, da man sich ständig um das Kind kümmern muss und auch bei vielen Dingen wie z. B. Hausaufgaben dabeibleiben muss. Für uns als Eltern ist der Alltag auch immer eine Gratwanderung. Aber mittlerweile kommt es viel seltener zu Streit zwischen uns.

Wie sieht es mit den sozialen Kontakten Ihrer Tochter in der Schule aus, kommt sie gut zurecht mit ihren Mitschülern?
L.T.: In der Schule ist es schwer mit den Kontakten. Sie hat eigentlich keine Freundschafen und befindet sich in einer Außenseiterposition.
S.C.: Dadurch, dass das Thema ADHS oder Lernschwierigkeiten noch immer ein extremes Tabuthema ist, haben betroffene Kinder häufig einen schweren sozialen Stand in der Schule. Häufig haben sie wenig Selbstwertgefühl und merken, dass sie anders sind als ihre Mitschüler und das bringt Probleme bei der sozialen Integration mit sich.
Auch die Mitschüler merken, dass das betroffene Kind anders ist als sie und meist wird dann auf ihm herumgehackt. Bei unserer Tochter ging dies sogar bis hin zu Mobbing. Sie wurde von einem Mitschüler jeden Tag gezwungen, ihr Taschengeld an ihn abzugeben. Auch merkt man, da sie nun in der sechsten Klasse ist, dass ihre Mitschüler schon viel pubertärer sind als sie und das schafft wiederum eine Distanz zwischen ihr und den anderen. Mittlerweile geht sie auch nicht mehr auf ihre Mitschüler zu, sagt sie. Ich nehme an, dass sie auch Angst hat, verletzt zu werden, wenn sie auf Ablehnung stößt.

Nächstes Jahr steht dann ein Schulwechsel für Ihre Tochter an? Wie glauben Sie, wird dieser ablaufen?
S.C.: Ja, der steht an und auch die Frage, in welcher Schule unsere Tochter weitermachen wird. Darauf haben wir auch noch keine konkrete Antwort und dieser Wechsel wird aus zwei Gründen sehr schwierig werden. Zum einen, weil unsere Tochter nur sehr schwer mit Veränderungen umgehen kann.
Zum anderen, weil wir nicht wissen, welche Schule infrage kommt. Leider ist unser Schulsystem hier in Luxemburg sehr rigide, was die Lyzeen angeht. Wir suchen jedoch nach einer Schule, die mehr auf die Stärken der Kinder eingeht, aber das ist nur schwer zu finden hier im Land.
L.T.: Wir hatten schon das Lycée Ermesinde im Sinn, aber von Esch jeden Tag nach Mersch zu fahren ist einfach zeitlich nicht drin. Es ist wirklich schade, dass es hier in Luxemburg nicht mehr Schulen gibt, die nach unterschiedlichen Unterrichtsmodellen funktionieren.
S.C.: In unserem Schulsystem riskiert ein Kind wie unsere Tochter, das ja trotz Schwierigkeiten ein intelligentes Kind ist, nur am rigiden Schulsystem zu scheitern.

Wie sieht es mit den Kosten aus? Therapien und Medikamente kosten ja auch so einiges?
S.C.: Ja, die Medikamente sind schon teuer. Eines der Medikamente wird nicht von der Krankenkasse erstattet. Insgesamt fallen im Monat 40 bis 50 Euro für die Medikamente an. Aber das ist nicht das Teuerste. Es sind eher die Therapien, die ins Gewicht fallen. Aber neben dem Geld kostet es uns auch sehr viel Zeit. Wir müssen unsere Tochter abholen, zu den Therapien bringen, wieder abholen usw.

Tauschen Sie sich auch mit anderen betroffenen Eltern aus?
L.T.: Nein, nicht wirklich, wir haben es am Anfang in Erwägung gezogen, aber nicht wirklich den Sinn darin gesehen. Wir haben da lieber auf professionelle Hilfe gesetzt. Weil wir auch häufig nicht mehr ein noch aus wussten. In solchen Momenten hilft einem professionelle Hilfe mehr als der Austausch mit Betroffenen.
S.C.: Ein Beispiel ist, dass unsere Tochter vor einiger Zeit suizidäre Gedanken hatte. Sie merkt ja jeden Tag, in der Schule, im Alltag, dass sie anders ist als andere Kinder. Sie braucht für bestimmte Dinge länger als andere, sie hat kaum Freunde. Dann fing sie schon mal an zu Hause zu weinen und hat uns gefragt, warum ausgerechnet sie diese Krankheit hat. Sehr häufig sagt sie auch, dass sie nicht mehr weiterleben möchte und das beunruhigt uns sehr. In solchen Momenten ist es für uns hilfreicher, uns auf professionelle Hilfe stützen zu können als auf den Austausch mit betroffenen Eltern.

Ziehen Sie auch etwas Positives aus der ganzen Situation?
L.T.: Ja klar, es ist ja nicht immer alles negativ. Vor allem hatte die Umstellung unseres Alltags auch positive Aspekte für unser Leben. Durch die vielen Gespräche die wir hatten über die Krankheit unserer Tochter ist unser Familienleben auch sehr gut. Des Weiteren haben wir im Laufe der Zeit viele engagierte Menschen kennengelernt.

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